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John und Tina verständigen sich

Zwei zu eins hat Deutschland verloren. Und John sprach immer noch nicht. Ob er sich über den Sieg der Engländer gefreut hat, kann ich nicht sagen. Er hat wenig Reaktionen gezeigt. Gejubelt hat er nicht. Seine Augen haben ein wenig geleuchtet, so wie ich das schon ein anderes Mal beobach­tet hatte. Das war alles. Kommentare von ihm hat es nicht gegeben.

Als ich am Tag nach dem Fußballspiel nachmittags von der Schule kam, war John wieder nicht da. Ohne große. Umschweife fuhr ich mit dem Rad zum Spiel­platz vom Hochhaus. Wenig später saß ich wieder hinter dem Hagebuttenstrauch und beobachtete Tina und John. Vor meinen Augen spielte sich das Gleiche ab wie am Vor­tag. John saß auf der gleichen Schaukel und Tina, ihm zuge­wandt, daneben. Wieder redete sie viel und wieder konnte ich nicht zweifelsfrei feststellen, ob John nicht auch etwas sagte. Ihr melodiöses Auf und Ab in der Stimme begleitete Tina mit einem lebendigen Mienenspiel. Mal schaute sie gespielt ernst, grimmig, dann wieder strahlte sie übers ganze Gesicht. Zwischen Tina und John herrschte eine Ver­trautheit, dass man meinen konnte, sie würden sich schon seit langem kennen. Und sie würden nie müde, sich mit­einander zu unterhalten. Zu gerne hätte ich gewusst, worüber Tina die ganze Zeit sprach.

Kurz vor fünf ging Tina wieder nach oben. Ich hörte, wie sie sagte, sie müsse zum Klavierspielen. John blieb eine Weile allein auf der Schaukel, dann schwang er sich aufs Rad und fuhr davon.

Ich wartete, bis er verschwunden war, dann wagte ich mich aus meinem Versteck. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, und umrundete eine Weile mit dem Fahrrad das Hochhaus. Fuhr über die Parkplätze, Gehwege und Mülltonnenplätze. Stellte mein Rad schließlich ab und schlenderte unauffällig an der Vorderseite des Hochhauses entlang. Vier Eingänge führten in? Haus. Das Einzige, was ich wusste, war, dass Tina im fünften Stock wohnte. Ihren Nachnamen kannte ich nicht.

Die Eingangstüren waren verschlossen. Um hineinzukom­men, klingelte ich irgendwo. Eine blecherne Stimme lärm­te mich aus der Sprechanlage an. Ich senkte meine Stimme, so tief ich konnte, und sagte: „Post!"

Es ertönte ein Summton im Türschloss und auf mein Drücken hin öffnete sich die Tür. Rechts ging die Treppe nach oben und links wartete erfreulicherweise der Aufzug. Ich hatte Herzklopfen.

Das Schreckgespenst Dinkel, der Hausmeister, geisterte mir im Kopf herum. Aufzug fahren im einzigen Hochhaus der Stadt gehörte immer wieder mal zu unseren Lieblings­beschäftigungen. Das konnte der Dinkel auf den Tod nicht leiden. Und wehe, man ließ sich von ihm dabei erwischen. Ein kleiner, drahtiger Mann mit Glatzkopf. Vor ihm musste man auf der Hut sein.

Aber die Verlockung, mit dem bereitstehenden Lift nach oben zu fahren, war zu groß, als dass ich mich zu Fuß die fünf Stockwerke nach oben geplagt hätte. Ich stieg ein und druckte auf die Fünf. Die Türe schloss sich und der Lift setzte sich geschmeidig ohne zu rucken in Bewegung. Ich hoffte, meine Fahrt nach oben möge von niemandem unterbrochen werden. Mein Wunsch wurde erhört. Im Nu war ich im fünften Stock. Ich stieg aus und las die Namensschilder an den drei Wohnungstüren. Waßmer, Schließer und Deeg. Ich lauschte an den Türen, ob ein Klavier zu hören war.



Aber ich hörte nichts. Hinunter ging ich zu Fuß. Beim nächsten Hauseingang machte ich das Gleiche. Mit dem Aufzug fuhr ich in den fünften Stock und lauschte auch

hier. Wieder hörte ich kein Klavier. Als ich zum dritten Mal aus dem Aufzug stieg, hörte ich gleich das Klavier gedämpft hinter einer der Woh­nungstüren.

Ich ging näher und lauschte Ja, hier spielte jemand Klavier. Lindner stand an der Tür.

Jetzt wusste ich, wo Tina wohnte. Doch im selben Augen­blick fragte ich mich, was mir das nutzte. Wieso wollte ich wissen, wo Tina wohnte? Wozu sollte das gut sein? Ich merkte, dass ich aus einem inneren Drang heraus gehan­delt hatte. Ohne zu überlegen.

Im gleichen Moment, als mir meine Zweifel kamen, hörte ich von oben Schritte die Treppe herunterkommen. Ich sah, zu wem sie gehörten, und mir blieb Vor Schreck das Herz stehen.

Dinkel! Der Hausmeister!

Wie angewurzelt stand ich vor der Tür und starrte den Klingelknopf an.

Oh Gott!, dachte ich. Ohne Sinn und Zweck in Dinkels Hausflur! Wenn das mal gut geht!

„Na! Niemand da?!", fragte Dinkel mit seiner knatternden

Stimme, aber überraschend freundlich.

„Vielleicht hat die Klingel niemand gehört. Musst noch mal

klingeln!"

Stumm nickte ich. Eine fremde Macht führte meine Hand

zum Klingelknopf. Ich hörte es drinnen summen und das

Klavierspiel wurde unterbrochen.

Als Tinas Mutter die Tür öffnete, ging hinter mir der Dinkel

weiter die Treppe hinunter.

Ja, bitte?", fragte Frau Lindner.

„Ah ... äh ...", machte ich und schielte mit einem Auge Dinkel hinterher, dessen Glatze ich im Treppenhaus unter mir verschwinden sah. „Äh ... ist die Tina da? Ich würde sie mal kurz sprechen wollen!"

„Sie hat gerade Klavierunterricht", sagte Frau Lindner.

„Vielleicht, wenn du später ..."

„Hallo!", rief hinter ihr Tina, die in den Flur gekommen war.

„Wenn du ganz still bist, darfst du vielleicht reinkommen und zuhören. Sind nur noch zehn Minuten. Oder, Mama?" „Na ja", sagte Frau Lindner wenig begeistert. „Wenn Frau Simon nichts dagegen hat."

Frau Simon war die Klavierlehrerin und sie hatte nichts da­gegen. Sie stand neben dem Klavier und schaute Tina auf die Finger. Mir bedeutete sie mit einem Zeigefinger auf den geschlossenen Lippen, dass ich mich still zu verhalten hät­te. Ich setzte mich in den Wohnzimmersessel, hörte zuerst auf mein Herz, das immer noch vor Aufregung raste, und dann auf Tinas Klaviermusik.

Ich sah ihre kleinen Hände, wie sie über die Tasten husch­ten39, als wollte sie Ameisen fangen. Das Klavierspiel war schön. Dass Tina gut Klavier spielte, wunderte mich nicht. Wer schon fast sang, nur wenn er sprach, der musste ein­fach musikalisch sein.

„Sehr schön, Tina!", schloss Frau Simon die Klavierstunde. „Du hast wirklich ein außerordentliches Talent. Wenn du weiter regelmäßig übst, kannst du eine sehr gute Klavier­spielerin werden."

Artig bedankte sich Tina für das Kompliment und begleite­te Frau Simon zur Tür hinaus. Als sie wieder zurückkam, lachte sie mich an und fragte: „Gehen wir noch ein biss­chen raus? Bis zum Abendessen ist noch Zeit." Ich schaute auf meine Uhr.

„Bisschen Zeit habe ich noch", sagte ich. „Dann muss ich heim."

„Woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?", wollte Tina wissen, als wir die Stufen nach unten gingen. „Hab ich so nebenbei rausbekommen", sagte ich und fügte gleich wichtig hinzu, um peinlichen Fragen zu entgehen: „Ich muss dich was fragen! Vorhin habe ich dich gesehen, wie du mit John auf der Schaukel gesessen und dich mit ihm unterhalten hast. Ich habe euch nur von hinten gese­hen. Ich weiß nicht ... Es sah so aus, als ob John gespro­chen hätte."

Wir gingen nach unten zum Spielplatz und setzten uns nebeneinander auf die Schaukeln. Tina ließ sich mit der Antwort viel Zeit. Sie lächelte mich an. Ich sagte: „Ich meine nur, weil ... zu Hause bei uns ... da sagt John nämlich kein Wort. Das habe ich dir ja schon er­zählt. Meine Mutter meint, er hat vielleicht Heimweh und deswegen versuchen wir, es ihm so schön wie möglich zu machen. Wir sind alle schon ganz irre zu Hause. Wir stellen lauter verrückte Sachen an, nur damit er spricht. Wir deko­rieren sogar die Zimmer englisch. Aber er spricht einfach nicht. Nicht einmal gestern, als England beim Fußball ge­wonnen hat, hat er was gesagt."

Tina grinste mich immer noch an, warf ihren Kopf nach hinten und begann zu schaukeln.

„Also mit mir hat er sich prächtig unterhalten", sagte sie. „Er hat mir allerlei erzählt."

„Wirklich!?", fragte ich überrascht. „Er hat mit dir wirklich gesprochen?"

Eine Weile ließ mich Tina zappeln, bevor sie mit der Wahr­heit herausrückte.

„Nein", sagte sie schließlich. „Er hat nichts gesagt." „Aber es sah so aus, als hättet ihr euch unterhalten. Du hast doch mit ihm gesprochen", bohrte ich noch mal nach. Ja", sagte Tina. „Ich habe mit ihm gesprochen. Aber gere­det habe nur ich." „Was hast du ihm gesagt?"

„Ach, alles Mögliche. Weiß auch nicht so genau. Wenn je­mand bei mir ist, der nicht spricht, dann spreche ich eben. Ich kann so ein Schweigen nicht ertragen. Da werde ich ganz nervös. Ich hab schon gemerkt, dass mit ihm was nicht stimmt. Er war schon zum zweiten Mal da. Setzte sich neben mich auf die Schaukel. Da hab ich ihn einiges gefragt. Als er nicht geantwortet hat, habe ich mich daran erinnert, dass du gesagt hast, er würde nicht sprechen. Ich hab gedacht, das gibt's doch nicht, dass der nicht spricht. Aber er hat wirklich nur da gesessen und mir zugehört. Es sah aus, als hätte es ihm Spaß gemacht, mir einfach nur zuzuhören.

Kann er denn Deutsch?"

„Das weiß keiner so recht", sagte ich.

„Bestimmt kann er Deutsch", sagte Tina. „Wenn er nach Deutschland kommt, dann kann er Deutsch."

Ein paar Minuten später fuhr ich mit einem Gefühl der Erleichterung nach Hause. Ich war froh, dass John auch mit Tina nicht gesprochen hatte.

 

Als ich ins Haus kam, saß zu meiner Überraschung Herr Rübenacker, unser Englischlehrer, am Esszimmertisch. Im Haus herrschte für einen Augenblick Stille und ich hörte Rübenackers schweren Atem.

„Hallo, Paul", grüßte er mich. „Ich wollte mal sehen, wie es euch mit dem John so geht. Ob er sich bei euch gut einge­lebt hat."

„Er spricht nicht", sagte ich.

Ja, das hat mir deine Mutter schon erzählt", sagte er. „Aber das wird sich sicher noch geben. Manche Kinder sind hin und wieder etwas eingeschüchtert. Haben Heimweh, so wie euer John. Aber mit der Zeit verschwindet das. Wirst sehen."

Mit einem Grinsen kommentierte er unsere Dekoration im Esszimmer.

„Ihr macht das schon ganz richtig mit ihm", sagte er. „Ihr seid auf dem richtigen Weg."



Date: 2016-01-03; view: 1263


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