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DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART VON PAUL BEKKER 5 page

Und in uns selbst dein Attribut erfahren.

Im Dichter wird dieses Gebet zuerst und zutiefst erfüllt: "In dieser Welt der Gesandte, der Mittler, der Verschmähte zu sein, ist dein Schicksal," kündet ihm der Erzengel — "Daß dein Reich von dieser Welt nicht von dieser Welt ist," diese Erkenntnis, "ist, o Dichter, dein Geburtstag". Und so offenbart und erlöst der Dichter hinter der Welt der Erscheinung die wahre Welt. Von der Welt der Armen, der Dienstboten, der Sträflinge, der Droschkengäule, der Nattern, Kröten und des Aases zieht er den täuschenden Schleier der Erscheinung und offenbart das Geheimnis Gottes. Er will nichts sein als "Flug und Botengang" des Ewigen, "eine streichelnde Hand", die allen einsam-ängstenden Kreaturen von der göttlichen Wärme und Liebe mitteilt. Nicht die "Eitelkeit des Worts" nur die Reinheit und Güte der Seele gibt ihm die Macht zur Offenbarung und Erlösung: "Der gute Mensch" ist der Befreier der Welt:

Und wo er ist und sein Hände breitet...

Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung,

Und alle Dinge werden Gott und eins.

Nicht die Erscheinung zu fliehen und vor der Zeit abzustreifen, sondern die Erscheinung zu durchseelen, zu vergöttlichen, ist der Sinn der Schöpfung, nachdem sie einmal im Sündenfall der Vereinzelung von Gott abgefallen ist. In der Welt will Gott offenbart und erlöst werden. Ergreifend spricht sich das im "Zwiegespräch an der Mauer des Paradieses" aus, wo Adam, müde des Erscheinungswandels, zur alten paradiesischen Einheit in Gott zurückverlangt und ihn anfleht: "Höre auf, mich zu beginnen!", Gott aber weist ihn zurück in die Welt:

Kind, wie ich dich mit meinem Blut erlöste,

So wart' ich weinend, daß du mich erlöst.

Werfel ist ursprünglich, innig, oft franziskanisch-kindlich in seiner Religiosität; gerade, sicher und sehnend wächst seine Dichtung zum Himmel auf, wie ein gotischer Turm (erst im "Gerichtstag" gewinnt die Reflexion zersetzend Macht). Rainer Maria Rilkes, des älteren Pragers (geb. 1875), religiöse Lyrik ist mehr die Zierart am Turm, die Fülle und Unruhe der gotischen Skulpturen, der Heiligen, Tiere und Ornamente. Sie hat keine ursprüngliche, eigenmächtige Strebe- und Baukraft. Rilke ist der Ausgang eines alten Kärntner Adelsgeschlechtes, verfeinert, müde, heimatlos. In steten Reisen wechselte er zwischen Wien, München, Berlin, Rußland, Paris, Italien. Er lebt wie seine Gestalten "am Leben hin" nicht ins Leben hinein, durchs Leben hindurch. Die tiefsten Offenbarungen gibt ihm nicht das unmittelbare Leben, sondern das mittelbare: die Kunst. Erst in den Worpsweder Malern und ihrer Atmosphäre wird ihm die seelische Bedeutung der Landschaft, erst in der Kunst und dem Künstler Rodin die religiöse Bedeutung des Menschen Erlebnis. Rodin, bekennt er, habe ihn "alles gelehrt, was ich vorher noch nicht wußte, geöffnet durch sein stilles, in unendlicher Tiefe vor sich gehendes Dasein, durch seine sichere, durch nichts erschütterte Einsamkeit, durch sein großes Versammeltsein um sich selbst". Sein Buch über Rodin ist wohl sein tiefstes und reichstes Werk. Wie Rodin, der Gotiker unter dem Bildnern, den menschlichen Körper auflöst in Seele, so löst Rilkes "Stundenbuch" mit den drei Büchern "Vom mönchischen Leben", "Von der Pilgerschaft" "Von der Armut und vom Tode" die Körper und Dinge in Gott. "Es gab eine Zeit, wo die Menschen Gott im Himmel begruben... Aber ein neuer Glaube begann... Der Gott, der uns aus den Himmeln entfloh, aus der Erde wird er uns wiederkommen." So offenbart Rilke Gott in den Kindern, den Mädchen, dem Volk, den Armen, den Bauern, der Landschaft, und mehr als in den Menschen in den Dingen: "Weil sie, die Gott am Herzen hingen — Nicht von ihm fortgegangen sind." Aber diese Offenbarung wächst nicht wie bei Werfel aus unmittelbarem Lebensanteil und -zwiespalt und heiliger Gewißheit, sie wächst aus der Sehnsucht des heimatlosen Zuschauers und Künstlers und aus dem Wissen um viele religiöse Vorstellungen und Symbole. Ein russischer Mönch ist der Träger und Schreiber des Stundenbuches, und der ganze Stimmungsreichtum russischer Klöster, Kuppeln, Ikone, Gossudars wird genutzt. Anderen religiösen Gedichtzyklen, wie den "Engelliedern" und den "Liedern der Mädchen an Maria" werden präraffaelitische Erinnerungen zu Stimmungsträgern. Und die "Neuen Gedichte", die in der Fülle ihrer Bilder die Beziehungen der individuellen Erscheinungen zu den letzten Prozessen und Formen des Daseins gestalten wollen, tun dies nicht aus der drängenden Einheit und Tiefe eines ursprünglichen Weltgefühls, sondern im seelischen oder gedanklichen Umkreisen eines Themas. Oft gestaltete, künstlerisch schon reizvoll umspielte Themen locken Rilke besonders: Abisag, David vor Saul, Pieta, Sankt Sebastian, Orpheus und Eurydike, Alkestis, Geburt der Venus, Eranna an Sappho usw. In diesen Lebensbildern sucht und schafft die Seele sich Heimat, der das Leben selber sich verschließt. Und sie bringt ihnen all ihre menschliche und künstlerische Feinfühligkeit und Bewußtheit als Gastgeschenk. Frühzeitig hat Rilke sich seinen Sprachstil geschaffen von solcher Eigenheit, daß er die Grenze der Manier streift. Unscheinbare Worte weiß er neu zu beseelen, verbrauchte Bilder auf ihren Ursinn zurückzuführen, Gleichnisse preziös auszubauen. Durch Assonanz, Binnenreim und Häufung des Endreims weiß er der Sprache eine slawische Weichheit und Klangfülle zu geben. Im letzten Gedichtbuch, der "Neuen Gedichte zweiter Teil", gewinnt jedoch das Artistische bedenklich Raum.



Die Neigung zur Mystik ist Gefahr und Flucht für eine Zeit, die die Form der Persönlichkeit wiedergewinnen, nicht aufgeben soll. Nicht ichflüchtig, sondern im tiefsten ichsüchtig mußte der Lyriker werden, der zur Form der neuen Lyrik: zur Form des neuen Menschen vordringen wollte. Und wenn niemand durch die Zeit hindurch zu ihr drang, wenn selbst Richard Dehmel, dem stärksten Bildner, deren zersetzte Elemente bröckelnd in den Händen blieben, so konnte nur der die reine Form der Persönlichkeit, des neuen Menschen bilden, der es von Anfang an außer der Zeit und gegen de Zeit unternahm. So ist die Persönlichkeit und Dichtung Stefan Georges (geb. 1866) Form geworden.

Der Wille zur Form war das Wesengesetz Georges von früh auf. Er selbst weist darauf hin, daß ihm die Formkräfte des römischen Imperiums, des Katholizismus, der rheinischen Landschaft im Blute mitgegeben seien. Zuerst wurde dieser Formwille ästhetisch seiner bewußt. Die "Blätter für die Kunst" die er 1892 gegründet, förderten — beeinflußt von den Präraffaeliten und von französischen Lyrikern, wie Baudelaire, Verlaine, Mallarmé, Villiers — eine "Kunst für die Kunst", sahen "in jedem Ereignis, jedem Zeitalter nur ein Mittel künstlerischer Erregung". Aber hinter diesem Willen zur ästhetischen Form rang und schuf bei George — nicht bei seinen Mitläufern — der Wille zu Lebens- und Wesensformen. Und weil er diese in der eigenen Zeit nicht fand, weil aus deren zersetzten Elementen auch keine reinen Formen zu bilden waren, floh seine Seele "vorübergehend in andere Zeiten und Örtlichkeiten", um dort die Urformen des Menschentums in ihrer Reinheit wieder zu suchen und bildhaft zu erneuern. In Algabal, dem römischen Priesterkaiser, fand er sein antikes Gegenbild: den Jüngling, den es verlangte, unabhängig von einer zergehenden Um- und Außenwelt ein Leben und Reich reiner Schönheit, reiner Formen zu schaffen:

Schöpfung, wo nur er geweckt und verwaltet,

Wo außer dem seinen keine Wille schaltet,

Und so er dem Wind und dem Wetter gebeut.

Der Schatten Ludwigs II. weht durch diese Strophen. Aber an der Vermessenheit des Einsam-Überheblichen zerbricht diese Welt. Aus dem Abseits und der Vereinzelung spätrömischen Herrschertums fliehen die "Hirtengedichte" in die mythisch geläuterten Urformen naturhaft schönen und reinen Menschentums, wie sie die Griechen zuerst gewahrt und gebildet haben. Hier beginnt die tiefe Wesensverwandtschaft Georges mit der Antike deutlich zu wurden. Das Christentum hatte in seiner Weltflüchtigkeit, seiner metaphysischen Sehnsucht und Wertung formsprengende Elemente in sich aufgenommen; nur im südlichen und rheinischen Katholizismus waren Himmel und Erde in Lebensfreude und Bildhaftigkeit eins geblieben. Georges reinem Formenwillen konnte nur eine antikische Weltanschauung genugtun, in der Gott und Welt, Seele und Leib sich restlos durchdrangen, und in der Schönheit der Gestalt zur vollkommenen Form gelangen. "Den Leib vergotten und den Gott verleiben", das war ihm der Sinn alles Weltgeschehens, darin Natur und Kunst sich trafen. Für diese religiöse Aufgabe bedurfte die Dichtung einer vollen Erneuerung ihrer Formsubstanz: der Sprache. Und von Anfang an hatte George sich darum gemüht, die epigonenhaft verbrauchten Elemente der deutschen Sprache neu zu schaffen. Er war in den Geist und Klang von sieben fremden Sprachen eingedrungen. In unermüdlichen Übersetzungen hatte er die deutsche Sprache bereichert, durchglüht und gehämmert. Im "Algabal" war ihm die Sprache ganz zu eigen geworden; es waren keine übernommenen und verbrauchten Elemente mehr in ihr, sie war wieder ursprünglich, war imstande, seinen neuen reinen. Wesens- und Lebensformen in reiner Sprachform Gehalt zu geben.

Nun war George stark genug, von seiner Flucht in die Welt der Geschichte zurückzukehren, nicht mehr Urbilder vergangener Zeiten zu erneuern, sondern Urkräfte zu bannen. Im "Jahr der Seele" (1897) offenbart er Urformen der Natur.

Die Natur ist ihm kein Gegensatz zum Geist oder zur Seele, ist ihm die Lebenseinheit beider, ursprünglich und ewig wie die Antike, die keine entgötterte und entseelte Natur kannte. So erschienen im "Jahr der Seele" die Urformen der Natur, die Jahreszeiten, in Bildern von räumlicher Gegenständlichkeit und Farbigkeit und zugleich tiefster Seelenhaftigkeit. Die Seele sucht hier nicht — wie bei Goethe — die Natur, um an ihr sich zu finden und auszusprechen; beide sprechen sich in ursprünglicher, kosmischer Einheit aus. Urformen der Natur offenbaren sich als Urformen der Seele, Urformen der Seele als Urformen der Landschaft. So sind es keine Stimmungs-, sondern Schicksalsbilder, die diese Gedichte schaffen. Die Fülle des Herbsttags hebt an, die reife Ernteruhe und -klarheit, der Friede der Erfüllung, den doch der Vers Hebbels schon ahnend durchschauert: "So weit im Leben ist zu nah am Tod." Wie sind Seele und Landschaft eins in solchem Gedicht:

Wir schreiten auf und ab im reichen Flitter

Des Buchenganges beinah bis zum Tore

Und sehen außen in dem Feld von Gitter

Den Mandelbaum zum zweitenmal im Flore.

Wir suchen nach den schattenfreien Bänken,

Dort, wo uns niemals fremde Stimmen scheuchten,

In Träumen unsre Arme sich verschränken,

Wir laben uns am langen, milden Leuchten.

Wir fühlen dankbar, wie zu leisem Brausen

Von Wipfeln Strahlenspuren aus uns tropfen,

Und blicken nur und horchen, wenn in Pausen

Die reifen Früchte an den Boden klopfen.

Erst nachdem George die Urformen der Geschichte und der Natur erlebt, erneuert und gebannt, ist er geläutert und gestählt zur Weihe der Berufung. Jetzt erscheint ihm der Engel des "Vorspiels": "Das schöne Leben sendet mich an Dich — Als Boten." Der Geist des Lebens erscheint ihm jetzt, des "schönen Lebens", dem alles Dasein reine Einheit ist und klare Form. Der hebt ihn zu sich auf die heilige Höhe der Sendung. Die reinen Formen, die er bisher nur erfahren und erneuert — jetzt darf er sie am Urquell mit schauen und -schaffen; ein Leben der Weihe wartet seiner, in dem jede Stunde sich sinnvoll einordnen, schöpferisch rechtfertigen will. Aber die Gnade der Berufung fordert das Opfer, die Hingabe, den ausschließlichen Dienst des Berufenen. Aus irdischem Glück und menschlicher Wärme schreitet er zur Gipfelhöhe, Gipfeleinsamkeit, Gipfeleisigkeit.

"Georges Vorspiel ist nur Gedicht, gehorsam demselben strengsten Geheiß, das den Zarathustra erzwang: dem Ich Gesetz und Heil des Lebens zu schaffen in gottblinder und weltwirrer Zeit, doch nicht für alle und keinen, sondern aus dem einen. Ist ein Dichter mehr als bloß ein Ich, dann gilt es dadurch den anderen; und was ihn ruft, weckt auf die Ohren, die ihn vernehmen. Soll er den Kreis füllen, so muß er die Mitte und die Strahlen halten, nicht dem Umfang nachlaufen. S i c h gestalten, sich erfüllen, sich vollenden war Georges erstes Gebot, und das empfing er nicht vom Fernen, sondern vom Nächsten, seinem eigenen Herzen. Doch eben dies Gebot war die Antwort auf die Frage des Lebens... und indem er sich erfüllte, als Dichter, indem er seine Form fand, seinen Streit ausfocht, sein Wort sagte, tat er, was an der Zeit war. Dantes Gesetz hieß: Schaue i Gott... Goethes: Werde Welt... Georges: Gestalte Leben. Die Gefahren, Leiden, Wonnen und Pflichten dieses Gesetzes hat er im Vorspiel verkündet, von der Einweihung bis zur Vollendung." (Gundolf.)

Erst der also Geweihte vermag aus dem Geist des Lebens den "Teppich des Lebens" (1900) zu zeichnen: die geistigen Urbilder des Menschentums in Natur und Geschichte, "das Kräftereich europäisch-deutscher Menschenbildung in einzelnen Schöpfungsformen, von den erdgebundenen Anfängen bis zum geistigen Tun und Wirken der Genius". (Gundolf.) Wie "ein Epos des Erdgeistes" beginnt die Reihe mit dem mütterlichen Grunde alles Menschentums, der "Urlandschaft", in der Mensch, Tier und Erde noch unbewußt und einig sind: "Erzvater grub, Erzmutter molk, — Das Schicksal nährend für ein ganzes Volk."

Zum erstenmal in dieser epischen Bilderfolge taucht in Georges Werk das Volk als Urform des Menschentums auf und als Urform seines Menschentums das deutsche Volk. Im Vorspiel hatte der Geist des Lebens ihn aus den magischen Landschaften des Südens zu "den einfachen Gefilden", der "strengen Linienkunst" der heimischen, rheinischen Landschaft geführt:

Schon lockt nicht mehr das Wunder der Lagunen,

Das allumworbene, trümmergroße Rom,

Wie herber Eichen Duft und Rebenblüten,

Wie sie, die deines Volkes Hort behüten —

Wie deine Wogen — lebensgrüner Strom!

Jetzt ist ihm das Volk als Urform deutlich geworden, die ihn selber umfaßt, die Wesens- und Geschichtskräfte des deutschen Volkes. Seine Sendung ist zur deutschen Sendung geworden: Indem er die reinen Kräfte des deutschen Volkes in sich zur Gestalt bildet, wird er auch der Bildner seines Volkes sein. — —

"Den Leib vergotten und den Gott verleiben": die Einheit von Welt und Gott, Natur und Geist, Leib und Seele war Georges Weltanschauung und -aufgabe. Sie sollte und mußte er erleben, erschauen, erschaffen. Das höchste Symbol dieser Einheit ist der Gott-Mensch. Und wenn je die Menschheit dieses Symbols bedurfte zu ihrer Vollendung — George konnte sich nicht begnügen, seine Weltanschauung in zerstreuten Bildern zu schauen und zu schaffen; sie mußte sich ihm in einer Gestalt verdichten. Das war die höchste Möglichkeit seiner Weltanschauung. Und seinem Formsehnen und -willen war die höchste Möglichkeit auch die höchste Notwendigkeit. So schaute und schuf er in Maximin, der geliebten Gestalt eines schönen, früh gestorbenen Jünglings und Jüngers, das Bild des Gott-Menschen, darin die Welt vollkommen ward.

"Wir gingen", heißt es in Georges Maximin-Rede, "einer entstellten und erkalteten Menschheit entgegen, die sich mit ihren vielspältigen Eingenschaften und verästelten Empfindungen brüstete, indessen die große Tat und die große Liebe am Entschwinden war. Massen schufen Gebot und Regel und erstickten mit dem Lug flacher Auslegung die Zungen der Rufer, die ehemals der Mord gelinder beseitigte: unreine Hände wühlten in eincm Haufen von Flitterstücken, worein die wahren Edelsteine wahllos geworten wurden. Zerlegender Dünkel verdeckte ratlose Ohnmacht, und dreistes Lachen verkündete den Untergang des Heiligtums." Da erschien in Maximin der göttlich einfsch schöne Mensch, "Einer, der von den einfachen Geschehnissen ergriffen wurde und uns die Dinge zeigte, wie die Augen der Götter sie sehen." In ihm ward der erstarrten Zeit der Erlöser:

Die starre Erde pocht,

Neu durch ein heilig Herz.

Die Gedichte auf das Leben und den Tod Maximins, seine Feier, Verklärung und Wirkung bilden die Gipfelhöhe des "Siebenten Rings" (1907). Von ihr aus sind die "Gestalten" geschaut, der zweite Zyklus des Werkes, "der Aufruf der letzten gotteshaltigen oder gottesmörderischen Urwesen zur Wende der Gesamtmenschheit". (Gundolf.) Im Vor- und Aufblick zu ihr ist in den "Zeitgedichten" die Gegenwart zu Gericht gerufen, verworfen in ihrer Fäulnis und Finsternis, gesegnet in den einsam ragenden Lichtgestalten, den Vorbildern: Nietzsche, Böcklin, Leo XIII., denen Dante, Goethe, Karl August, die alten deutschen Kaiser sich in ewiger Lebendigkeit zugesellen: Urformen höheren Menschentums, wie Held und Herrscher, Priester, Seher und Dichter usw. Hier wird George Gewissen und Stimme der Zeit.

Im "Stern des Bundes" (1914) wird die Zeitschau, die in den "Zeitgedichten" nur aus der Ahnung des Göttlichen geschah, aus seinem Schauen und Wissen gegeben. Hier wächst George zum gewaltigen Richter und Propheten der Zeit empor. Ein paar Monate vor Beginn des Weltkrieges hat er hier aus heiligen Höhen den chaotischen Untergang der zersetzten Zeit gesichtet und gerichtet:

Aus Purpurgluten sprach des Himmels Zorn:

Mein Blick ist abgewandt von diesem Volk.

Siech ist der Geist! Tot ist die Tat!

In einer ungeheuren Vision sieht und hört er in gewitternden Lüften schreitende Scharen, klirrende Waffen, jubelnd drohende Rufe: den "letzten Aufruf der Götter über diesem Land". Er sieht den maß- und haltlosen Bau der Zeit wanken und zusammenstürzen. Er fühlt die furchtbare Gewißheit:

Zehntausend muß der heilige Wahnsinn schlagen,

Zehntausend muß die heilige Sache raffen,

Zehntausende der heilige Krieg.

Er hört sein Prophetenwort, seinen Schrei zur Umkehr verhallen, als wäre nichts geschehen. Und im letzten, flammenden Gesicht sieht er den Herrn des Gerichtes:

Weltabend lohte...wieder ging der Herr

Hinein zur reichen Stadt mit Tor und Tempel,

Er arm, verlacht, der all dies stürzen wird,

Er wußte: kein gefügter Stein darf stehn,

Wenn nicht der Grund, das Ganze sinken soll.

Die sich bestritten, nach dem Gleichen trachtend:

Unzahl von Händen rührte sich und Unzahl

Gewichtiger Worte fiel und eins war not.

Weltabend lohte...rings war Spiel und Sang,

Sie alle sahen rechts — nur er sah links.

Und als die Vision Wahrheit geworden, das Weltverhängnis niedergebrocben war, als immer noch "In beiden Lagern kein Gedanke — Wittrung — Um was es geht", als aller Augen immer noch nur das strategische Hin und Her anstarrten, da kündete er in seinem Gedicht "Der Krieg" (1917):

Der alte Gott der Schlachten ist nicht mehr.

Erkrankte Welten fiebern sich zu Ende

In dem Getob.

— — —

Zu jubeln ziemt nicht: kein Triumpf wird sein.

Nur viele Untergänge ohne Würde.

— — —

Keiner, der heute ruft und meint zu führen,

Merkt, wie er tastet im Verhängnis, keiner

Erspäht ein blasses Glüh'n vom Morgenrot.

Weit minder wundert es, daß so viel sterben,

Als daß so viel zu leben wagt.

— — —

Ein Volk ist tot, wenn seine Götter tot sind.

Aber eben weil George von heiligen Höhen über die Zeit hinwegsah, sah er auch weiter, über den Zerfall und Untergang hinaus, mündete sein Kassandraruf in die heilig-liebende deutsche Verheißung:

Doch endet nicht mit Fluch der Sang. Manch Ohr

Verstand schon meinen Preis auf Stoff und Stamm,

Auf Kern und Keim...schon seh' ich manche Hände

Entgegen mit gestreckt, sag' ich: O Land,

Zu schön, als daß ich dich fremder Tritt verheere:

Wo Flöte aus dem Weidicht töne, aus Halmen

Windharfen rauschen, wo der Traum noch webt

Untilgbar durch die jeweils trünnigen Erben...

Wo die allbühende Mutter der verwildert

Zerfallnen weißen Art zuerst enthüllte

Ihr echtes Antlitz...Land, dem viel Verheißung

Noch innewohnt — das drum nicht untergeht, — — —

Die ruft die Götter auf.

Der "Geist der heiligen Jugend unseres Volkes", der — in Maximin göttliche Gestalt geworden — schon im "Stern des Bundes" verkündet und in Lehre und Liebe dort unterwiesen war, wird in Frommheit und Würde, Zucht und Opfer, Größe und Schöne die zerfallene Welt erneuern.

Als einziger einer zersetzten Zeit hat Stefan George seine Wesenheit in Leben und Lyrik zur reinen Form geläutert, urbildlich erhöht und vollkommen gestaltet. Mag das Gesetz seines Wesens wenigen gemäß sein — er ragt in die Zeit als Standbild des in sich Vollendeten, ein Vorbild jedem, das Gesetz seines eigenen Wesens zu ergründen, zu leben, zu formen und im eigenen göttlichen Keim die Kraft Gottes im entgötterten Europa zu befreien.

DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART VON PAUL BEKKER

Was ist das: deutsche Musik? Fragt man einen Franzosen nach französischer, einen Italiener nach italienischer, selbst den Engländer nach englischer, den Amerikaner nach amerikanischer Musik, so wird die Antwort ohne jegliches Zaudern und Besinnen folgen. Der Russe wird vielleicht einige Unterscheidungen machen zwischen rein nationaler und aus westeuropäischen Quellen befruchteter Kunst, aber auch er wird nicht zögern, etwa Tschaikowski trotz dessen Abhängigkeit von außernationalen Anregungen als Vertreter russischer Musik anzusprechen. Und nun stelle man vielleicht in einer deutschen Musikzeitschrift die Frage: Was ist deutsche Musik, welches sind ihre Vertreter! Man wird ebensoviel einander widersprechende Antworten erhalten, wie die Erde Nationalitäten zählt. Unter den Lebenden zum mindesten ist kaum einer, dessen Musik von allen Seiten als einwandfrei "deutsch" anerkannt würde. Strauß, der den deutschen Namen am stärksten nach außen getragen hat, wird von den Bayreuther Siegelbewahrern in einem beträchtlichen Teil seines Schaffens als "undeutsch" abgelehnt, Pfitzners Musik wurde während des Krieges von Berlin aus als "undeutsch, weil zukunftsarm" gekennzeichnet, Reger gilt als verworren, Mahler und Schönberg sind Juden, also nicht diskussionsfähig, von Schreker in solchem Zusammenhange auch nur zu sprechen, wäre Lästerung. Jeder dieser Komponisten hat seine eigene Anhängergruppe, ihre Hauptaufgabe ist, die Minderwertigkeit der anderen ihrem Idol gegenüber festzustellen, und die Worte "deutsch" und "undeutsch" spielen dabei die ausschlaggebende Rolle.

Man könnte sagen, daß eine Nation, die nicht vermag, verschiedenartige individuelle Eigenschaften ihrer eigenen Schöpferpersönlichkeiten in ihren Kulturbezirk einzuordnen, sehr enggefaßte Begriffe von ihren eigenen Fähigkeiten haben muß. Man sieht schließlich, daß auf diesem Wege eine Erkenntnis überhaupt nicht möglich ist, daß es sich vielmehr bei solchen Streitereien um einen schmählichen Mißbrauch des Wortes und Begriffes "deutsch" handelt. Eine Zusammenfassung, eine Einigung aller verschiedenartigen, aus einem Stamme erwachsenen Erscheinungen sollte es sein, ein trennendes Kampfmittel subjektiv kritischer Wertung ist es gegenwärtig geworden. Gegen solche Mißdeutung eines kulturellen Sammelbegriffes zu einseitig parteiischer Nutzanwendung ist von vornherein Einspruch zu erheben, wenn ernsthaft und sachlich von deutscher Musik gesprochen werden soll. Als deutsch gilt uns nicht diese oder jene subjektive Eigenheit des Künstlers, diese oder jene stilkritische Beschaffenheit des Werkes, auch nicht Gesinnung oder gar Tendenz des Schaffens. Als deutsch gilt uns alles, was dem Kreise der deutschen Kultur entwachsen ist, in ihm seinen geistigen Nährboden gefunden, ihm eigene Früchte zugetragen hat und so seiner Erscheinung in der Welt neue Geltung, neue Form gewinnt. Dieser Begriff des Deutschtums ist nichts unveränderlich Feststehendes, kein gegebenes Maß, dem alles unterworfen wird. Es ist ein stetig Wechselndes. Eben an dieser Fähigkeit des Wechselns der Erscheinung offenbart sich die innere Produktionskraft der nationalen Kultur. Wie das Deutschtum Luthers ein anderes war als das Goethes und dieses wieder ein anderes als das Wagners oder Bismarcks, und jede dieser großen Kundgebungen deutschen Geistes verzerrt würde, wollte man sie mit dem Maß der anderen messen, so gilt auch für unsere Zeit keine Norm, sondern zunächst nur der Wert der Erscheinungen. Erst aus aufmerksamer Betrachtung ihrer Vielfältigkeit und vorurteilsfreier Zusammenfassung aller Strömungen vermögen wir das Deutschtum der Gegenwart zu erkennen, über sein Wollen und Können Klarheit zu gewinnen.

Der Franzose, der Italiener, der Engländer weiß dies, der Deutsche muß es noch lernen. Daß wir gegenwärtig gerade in der Musik im Kampfe miteinander stehen um diese Grundkenntnis, ist ein bedeutsamer Zug unseres kulturellen Lebens. Es mag hier unerörtert bleiben, wie weit politische Erbitterung zu solcher Trennung der Geister beigetragen hat, obschon die Tatsache, daß politische Momente überhaupt auf künstlerische Fragen Einfluß gewinnen konnten, als Symptom bedeutsam erscheint. In Wirklichkeit ist die politische Abirrung nur Begleiterscheinung eines Kunstlebens, das nach irgendwelchen geistigen Richtpunkten sucht, weil es sich von seinen natürlichen Nährquellen abgeschnitten fühlt, weil es den tiefen ethischen Antrieb des Kunstwillens verloren hat. Dieser Antrieb kommt aus dem Volk, aus dem Verlangen nach Formung der schöpferischen Kräfte des Volkes im Symbol des Kunstwerkes. Solche Formung geschah, als Bach die Matthäuspassion, als Mozart die Zauberflöte, als Beethoven seine Sinfonien schrieb. Aus dem Wunsch nach solchem Einklang von Volk und Künstler träumte sich der Romantiker Wagner in den Mythos der Vorzeit zurück, baute er Bayreuth, um dort sein "Volk" zu sammeln. Dieses Bayreuth an sich war schon ein Zeichen, daß die Gesamtheit des Volkes nicht so auf den Künstler hörte, wie er es wünschte, daß es ihn in wesentlichem mißverstand und er, um sich nach seinem Willen vernehmbar zu machen, eine Auslese aufrufen mußte. Rastlose Sehnsucht und gewaltige Tatkraft ermöglichten das Gelingen, das Kunstwerk wurde noch einmal zur Darstellung stärksten geistigen Gemeinschaftslebens, nicht mehr aus naiver Unbewußtheit, aber doch in imposanter Willensspannung und ohne Inanspruchnahme außerkünstlerischer Mittel. Seit dieser letzten zusammenfassenden Tat aber ist der Riß zwischen Volksgemeinschaft und Künstler scheinbar unüberbrückbar geworden. Die heutige Verwirrung der Geister, der Streit um deutsche und undeutsche Musik, der Versuch, die Teilnahme an der Kunst durch Entfachung politischer Leidenschaften zu steigern, ist nichts als Bekenntnis der Ohnmacht, durch die Kunst selbst unmittelbar an die Seele des Volkes zu gelangen. Statt des Volkes, statt der Gemeinschaft bietet sich dem Musiker die Öffentlichkeit. Sie ist nicht imstande, aus sich heraus Impulse zu geben, sie ist nichts als eine Verbrauchsgenossenschaft. Sie verlangt interessiert zu werden, die Wertung besorgt eine eigens dafür bestellte Fachkritik in den Sprechorganen der Öffentlichkeit: den Zeitungen. So ist die Musik aus einer Gemeinschafts-eine Fachangelegenheit geworden, für die nur der fachlich Interessierte verpflichtende Teilnahme hegt. So wird die Basis, auf der das Werk des Künstlers ruht, verhängnisvoll eingeengt und gleichzeitig das von seinen Musikern verlassene Volk zur Befriedigung seines Musikverlangens dem Gassenhauer zugedrängt.


Date: 2015-12-11; view: 584


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