Schon mit des Beginn der Neuzeit in Europa (Renaissance) haben die Menschen mehr und mehr Ideale und Werte entwickelt, die sich von den alten, mittelalterlich-religiösen Auffassungen lösten und den Menschen selbst in den Mittelpunkt rückten. Die neuen Ideen haben ihren gemeinsamen Fluchtpunkt in der Vorstellung von dem autonomen Individuum, das die Dinge mit seinem Verstand prüft und dann selbstständig entscheidet und handelt (Aufklärung). Kunst und Philosophie der Klassik haben diese Konzeption erweitert zum Idealbild der allseits gebildeten, ihre Fähigkeiten und Neigungen harmonisch in sich vereinigenden Persönlichkeit. Zugleich wurde aber eine Welt geschaffen, die sich der Verwirklichung der neuen Leitbilder zusehends versperrte (z.B. Entfaltung des Staates, seiner Institutionen, Regeln und BÜrokratie, Entwicklung der Arbeitsteilung und Spezialisierung infolge der zunehmenden Industrialisierung). So droht der Mensch entweder der Welt fremd gegenÜberzustehen, wenn er seine Autonomie wahren will, oder aber seine Autonomie aufzugeben, will er sich integrieren. Immer schwieriger wird es, einen Kompromiss zu finden, der es ihm erlaubt, sich frei und geborgen zugleich zu fÜhlen. Die skizzierte Situation und Problematik hat sich im 20. Jh. immer mehr zugespitzt. Die Welt ist noch komplizierter und beim Fehlen intensiver Auseinandersetzung mit ihr undurchsichtiger geworden. Unsere Kenntnis hat sich zwar vergrößert, das Wenigste wissen wir aber aus unmittelbarer Erfahrung und Anschauung; wir sind vielmehr auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen. Die menschlichen Möglichkeiten sind immens angewachsen (Technik), dafür sind aber auch die Gefahren globaler geworden. Die Idee von einem selbstständigen, vernÜnftigen, mit freiem Willen begabten und nur seinem Gewissen verantwortlichen Individuum, das "von Natur aus gut ist", wird von den modernen Wissenschaften, v.a. der Psychologie, in Frage gestellt. Wertsysteme, die dem Menschen zur Orientierung dienen können, wie z.B. Religion, Vaterland, Familie, haben ihren allgemein verbindlichen Charakter, ihre Selbstverständlichkeit verloren.
2. Konsequenzen fÜr den Roman
Wie alle Literatur, so reagiert auch der Roman auf die angesprochene Situation. Inhaltlich
Der Roman ist spätestens seit Cervantes "Don Quixote" diejenige literarische Gattung, die den Konflikt zwischen Einzelnem und Welt zum Gegenstand hat. Nun im 20. Jh., da die KÜnstler die Bedrohung des Menschen intensiv und mit gesteigerter Sensibilität erleben und registrieren und in oft extremer Weise auszudrÜcken suchen, vergrößert sich die Entfremdung des Romanhelden von seiner Umwelt. Er wird zur totalen Negation des Helden herkömmlichen Typs. Passivität, Leiden, selbstquälerische Reflexion prägen sein Leben, er wird zunehmend unfähig, sinnvoll zu handeln, und er ist sich darÜber hinaus dieser seiner Situation bewusst.
Formal
Das Erzählen selbst bleibt von diesen Veränderungen nicht unberÜhrt. Es entsteht das, was man die "Krise des Romans" (= des traditionellen, realistischen) nennt. Das Schema des herkömmlichen Romans, die realistische Schilderung eines Lebensweges in einem konkreten historisch-gesellschaftlichen Kontext, erscheint zu eng, um die immer komplexere und unÜbersichtliche Wirklichkeit umfassen zu können. Zudem erwuchs des Roman in Fotografie und Film eine Konkurrenz, die im Vergleich zur Sprache die äußere Realität weit direkter wiederzugeben imstande ist. Die der alltäglichen Sprache entnommene, ungekÜnstelte Prosa des Romans ist nach Meinung der Dichter durch Werbung, Politik und die Konventionen des gesellschaftlichen Lebens zu stark von Klischees geprägt. Um dennoch Romane schreiben zu können - denn inhaltlich ist der Roman immer noch eine geeignete Gattung -, wird zu einer Reihe von erzählerischen Techniken gegriffen, die oft zu mehreren in ein und demselben Roman auftreten und die sich vereinfacht wie folgt darstellen lassen: Der Erzähler kann die Schwierigkeiten, die er beim Erzählen hat, im Roman selbst thematisieren und damit den Eindruck von Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit (ein Merkmal realistischer Schreibweise) verfremden. Der Erzähler kann realistisch schildern oder vorgeben, realistisch schildern zu wollen, durch Ironie aber seine Vorbehalte gegenÜber eben dieser Schreibweise deutlich machen. Dem Erzähler gelingt es nicht mehr, die Wirklichkeit zu ordnen, zu einem erzählerischen Ablauf zu gestalten. Er montiert stattdessen verschiedene EindrÜcke von der Wirklichkeit in ihren mannigfaltigen Aspekten zu einem oft verwirrenden Bild zusammen. Auch die innere Wirklichkeit des Menschen, seine Psyche, kann vom Erzähler nicht mehr Übersichtlich gemacht werden. So schildert er oft ungeordnet GefÜhle und Gedanken seiner Romanfiguren, bisweilen ohne als Erzähler Überhaupt auch nur in Erscheinung zu treten (innerer Monolog). Da der Erzähler die Komplexität der Wirklichkeit nicht mehr erzählerisch voll erfassen kann, stellt er sie theoretisch dar. So werden die modernen Romane stellenweise zu philosophischen Abhandlungen, die Handlung und Schilderung verdrängen. Der Realismus kann ganz aufgegeben werden. An seine Stelle tritt eine vom Autor konstruierte eigene, irreale bzw. halbreale Welt, mit der er glaubt, die Situation des modernen Menschen treffender ausdrÜcken zu können.