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Der Mann ohne Gesicht

 

 

Kapitel I

 

Morgen endlich dienstfrei! Mit diesem Gedanken und der Vorfreude auf einen freien Tag fuhr Kommissar Specht spätabends vom Polizeipräsidium nach Hause. Er liebte die Stadt München. Hier war er geboren, ein echter Münchner sozusagen. Und darauf war er stolz. Er hatte noch nie den Wunsch gehabt, an einem anderen Ort zu leben. Anders als sein Vorgänger, der in Frührente gegangen war und sich ein altes Weingut in der Toskana gekauft hatte, um dort mit seiner Frau den Lebensabend zu verbringen. Es musste ein Vermögen gekostet haben.¹ Sein ehemaliger Chef Erwin Wanninger hatte entweder im Lotto gewonnen oder viel geerbt. Denn von der Rente allein, schon gar nicht von der eines Kommissars, konnte er sich ein solches Anwesen bestimmt nicht leisten. Schon öfter war Paul Specht von ihm dorthin eingeladen worden. Aber bis jetzt hatte er immer eine passende Ausrede gefunden, in München bleiben zu können. Irgendwann, so nahm er sich jedoch fest vor, wollte er ihn aber doch einmal besuchen. Obwohl er lieber bayerisches Bier als italienischen Wein trank. Und statt Pizza oder Spagetti lieber Weißwürste mit Senf und Brezeln oder Schweinebraten mit Kartoffelknödeln aß. Schon bei dem Gedanken lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

„Wie schön München doch ist", dachte er zufrieden auf seiner Heimfahrt und nahm sich fest vor, am nächsten Tag einen ausgedehnten Spaziergang im Englischen Garten zu unternehmen und in seinem Lieblingslokal auf ein gepflegtes Mittagessen einzukehren.

 

 

¹ - in diesem Satz wird das Verb „müssen“ in der Bedeutung einer hohen, sich auf bestimmte Tatsachen stützenden Wahrscheinlichkeit gebraucht; „müssen“drückt aus, dass man etwas als ziemlich sicher annimmt – Наверняка оно стоило целое состояние.

Auch jetzt zu dieser nächtlichen Stunde hatte die Stadt im Licht der Straßenlaternen ihren ganz besonderen Charme. Specht hatte schon in vielen Stadtvierteln gewohnt: Schwabing, Haidhausen, Giesing und Pasing. Jetzt wohnte er im Westend. Das Westend lag nicht etwa am westlichen Ende der Stadt, sondern mittendrin, neben der Theresienwiese. Außerdem hieß es offiziell Schwanmalerhöhe. Es war der kleinste Bezirk Münchens. Hier gab es nur ein paar Straßen, in denen sich alles Wesentliche abspielte.

 

Das Leben im Westend war wie in einem kleinen Dorf. Der Gol-lierplatz war mit seinen angrenzenden kopfsteingepflasterten Straßen der wohl schönste Fleck des Viertels: Hier fütterten alte Damen Tauben, Männer spielten in ihrer Freizeit Schach und Jugendliche trafen sich. Man sagte, dass das Westend das kommende In-Viertel werden würde, doch das kümmerte Paul Specht wenig. Er fühlte sich hier wohl, denn hier wohnte er mitten in der Stadt und war dennoch fern vom Trubel der Innenstadt und den vielen Touristen.



 

Seit etwa einem Jahr bewohnte er eine Drei-Zimmer-Altbauwohnung in einem Haus der Jahrhundertwende in der Gollierstraße. Die Wohnung war mit Parkettboden und Stuckdecken ausgestattet, so wie er sich das immer gewünscht hatte. Im Wohnzimmer stand sogar ein funktionstüchtiger Holzofen, wie man ihn früher hatte, als es noch keine Zentralheizung gab. Eine Rarität, die man heutzutage nicht mehr oft fand.

Die Leute, die in diesem Mietshaus lebten, bildeten ein buntes Völkchen. Über ihm wohnte ein ehemaliger Biologie-Lehrer, der auf dem Dachboden Bienen beherbergte und stolze zwanzig bis dreißig Kilogramm Honig pro Jahr gewann. Seine Bienen holten sich den Nektar nicht im Westend, sondern flogen über die Theresienwiese hinweg zu den blühenden Bäumen auf der anderen Seite. Ähnlich wie es die Leute machten, die hier ansässig waren: In der Stadt arbeiteten und im Westend lebten sie. Neben ihm wohnte ein Künstler, der seltsame Skulpturen formte und in der Szene sehr bekannt sein sollte, das hatte ihm zumindest Frau Brösel erzählt, die Hausmeisterin, die einfach alles wusste. Specht hatte von Kunst wenig Ahnung und hätte sich eine solche Skulptur nie in die Wohnung gestellt.¹ Im zweiten Stock lebten Studenten in einer Wohngemeinschaft. Da wurden manchmal wilde Feste gefeiert, auch das hatte ihm die Hausmeisterin erzählt. Doch davon bekam er wenig mit. Frau Brösel sah und hörte einfach alles, man kam einfach nicht an ihr vorbei, da sie im ersten Stock wohnte. Sie war eine gute Beobachterin und verdiente es eigentlich, in den Polizeidienst aufgenommen zu werden.

 

Frau Brösel war Witwe und lebte schon sehr lange in der Gollierstraße. Obwohl ihre Lieblingsbeschäftigung das Tratschen war, war sie doch die gute Seele des Hauses. Denn sie brachte nicht nur den Flur und die Treppen auf Hochglanz, fegte fein säuberlich den Hinterhof und pflegte die dort wachsenden Pflanzen, als wären sie die ihren. Sie war außerdem sehr hilfsbereit, nahm Post entgegen, wenn man nicht zu Hause war, und half schon mal mit Milch, Salz oder Eiern aus, wenn man keine Zeit zum Einkaufen gehabt hatte. „Glück muss man im Leben haben", dachte sich Specht, als er vor seinem Haus einen Parkplatz fand. Die Parkplatzsituation war ein echtes Problem hier. Er wartete bereits seit Monaten auf einen Stellplatz im nahe gelegenen Parkhaus. Das war aber auch wirklich das Einzige, was er an diesem Viertel auszusetzen hatte. „Ein gutes Omen für meinen freien Tag", sagte er fröhlich vor sich hin. Er öffnete die schwere Eingangstür, an deren Außenseite ein Löwenkopf mit einem Ring durch die Nase prangte, und trat in das Treppenhaus. Manchmal quietschte diese Tür, doch Frau Brösel kümmerte sich auch darum und tröpfelte ab und zu ein bisschen Öl in die Scharniere. Er liebte das Treppenhaus und die knarrenden Holztreppen, ausgenommen beim Schleppen von Einkaufstüten, es gab nämlich keinen Aufzug im Haus. Es erinnerte ihn immer an einen alten Kriminalfilm, in dem ein Serientäter sein Unwesen trieb.

 

¹ - „hätte“ – ist Präteritum Konjunktiv vom Verb „haben“. Diese Form drückt hauptsächlich Irrealität aus; also der Satz: „er hätte nicht gestellt“ hat die Bedeutung „он бы не поставил“

Der Film hieß Mord im Treppenhaus und seine Lieblingsszene sah so aus: völlige Stille im Hausflur, das Licht fällt aus, dann ein Knarren und ein lauter gellender Schrei...

 

„Hallo", hörte er hinter seinem Rücken. Ein leichtes Zucken durchfuhr seinen Körper. „Herr Specht, Sie kommen heute aber wieder spät nach Hause." Er drehte sich um. „Frau Brösel, Sie sind noch wach?"

„Ich dachte, ich müsste noch mal nach dem Rechten schauen. Aber jetzt sind ja alle meine Schäfchen zu Hause. Dann geh ich jetzt auch mal schlafen. Gute Nacht, Herr Specht." Lachend schloss sie ihre Tür.

Völlig irritiert antwortete er: „Sie auch, Frau Brösel." Irgendwie hatte er das Gefühl, ertappt worden zu sein, wie früher, als seine Mutter auf ihn gewartet hatte, bis er nach Hause kam.

 

Paul Specht schreckte auf. „Oh nein, nicht schon wieder aufstehen." Moment, das konnte gar nicht sein. Er hatte doch heute dienstfrei, er konnte ausschlafen und bei einem ausgedehnten Frühstück in Ruhe die Zeitung lesen, dann im Englischen Garten spazieren gehen und in seinem Lieblingsrestaurant seine Leibspeise, Schweinebraten mit Knödeln, zu sich nehmen. Meist mit einem Nachschlag, beziehungsweise noch einem Knödel. Er hatte sich so darauf gefreut. In den letzten drei Wochen hatte er wenig Schlaf bekommen und war fast ununterbrochen im Dienst gewesen. Es war auch nicht sein kleiner bronzefarbener Reisewecker, ein Weihnachtsgeschenk seiner Mutter, der ihn aus seinen Träumen riss, sondern das Telefon neben seinem Bett. Das Zifferblatt des Weckers zeigte 7.15 Uhr. Er hob widerwillig den Hörer ab. „Ja!", brummte er völlig verschlafen ins Telefon.

 

 

Aufgaben zum Kapitel I:

 

I.

1.Sammeln Sie aus diesem Kapitel Eindrücke von Kommissar Specht überdie Stadt München!Schreiben Sie sie aus. Was wissen Sie über diese Stadt? Welche Sehenswürdigkeiten Münchens sind Ihnen bekannt?

Einige Informationen finden Sie auch auf der Internetseite:

http://www.muenchen.de/

 

2.Beschreiben Sieden Wohnortvon Kommissar Specht! In welchem Stadtviertel wohnt er? Warum? Wo hat er früher gewohnt?

3.Beschreiben Sie nun das Hausvon Kommissar Specht! Wie ist die Parkplatzsituation um das Haus herum? Was für Nachbarn hat Kommissar Specht? Sagen Sie ein Paar Worte über jeden von ihnen!

 


Date: 2016-03-03; view: 1542


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Autor – Marc Hillefeld | II. Lexikalisches Training
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