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Worauf laß ich mich ein? 7 page

„Hund haben sie keinen!“ flüsterte Wolzow. „Sonst hätte er schon Laut gegeben!“ Er sprang das Tor an wie eine Eska­ladierwand. Da sieht man mal, wozu die Schinderei auf der Hindernisbahn gut war, dachte Holt. Eine Gans schrie. Das Tor flog auf. Wolzow rief etwas Unverständliches und deutete nach rechts. Vielstimmiges, entnervendes Gänsegeschrei antwortete.

Holt stand hinter dem aufgebrochenen Tor; als er sich um­wandte, sah er drei Gestalten über den Hof rennen, zu den Ställen hin. Wolzow umkreiste das Gehöft. Das Lärmen der Gänse und auch ein schrilles Quieken aus dem Schweine­stall drangen an Holts Ohr. Da donnerte der Tirolerstutzen, und Holt atmete auf. Er merkte, daß er schweißnaß war. Noch immer lärmten die Gänse. Endlich rief Wolzow: „Werner... komm!“ Holt sprang aus dem Hoftor. Draußen stand Wolzow und half ihm die Torflügel schließen. Dann kam Vetter gelaufen und rief: „Eine Prachtsau haben wir, eine prima Sau!“

Die Aufregung entlud sich in krampfhaftem Lachen... Im Wald stießen sie auf Zemtzki und Gomulka, die mit der Beute warteten. Das Schwein war in ein paar zusammenge­knöpfte Zeltbahnen gewickelt; aus dem grauen Bündel schau­ten nur die zusammengebundenen Schweinsfüße. Sie nahmen den Stamm auf die Schultern. Zu viert schleppten sie die Last zum Lager. Zemtzki hatte sich das Schweineschwänz­chen als Trophäe an die Mütze gesteckt.

Neblige, trübe und kühle Tage folgten, über den Bergen hing die Wolkendecke grau und dicht. Es regnete stundenlang. Vetter briet ununterbrochen Fleisch. Eine tiefe, sauber ausge­waschene Felsmulde in der Höhle war mit Fett ausgegossen. Endlich brauchten Holt und Gomulka nicht mehr täglich auf die Jagd zu gehen.

Draußen goß es in Strömen. Holt saß am Feuer, der Rauch zog durch den Schacht ins Freie.

„Hast du die leere Hülse liegengelassen?“ fragte Wolzow plötzlich. Holt dachte: Aha! Er grübelt also auch über die Fol­gen nach! „Nein. Ich bin doch kein Anfänger“, antwortete Gomulka. „Jedenfalls haben wir für die nächste Zeit ausrei­chend zu essen“, sagte Wolzow und steckte sich eine Zigarre an, „da schieben wir hier eine ruhige Kugel.“

„Wenn sie diese... Geschichte mit der Sau nur nicht mit uns fünf in Verbindung bringen“, sagte Holt. Er zögerte einen Augenblick, ehe er fortfuhr: „Denn im Kreisblatt hat fol­gendes gestanden.“ Er zog die Zeitung aus der Tasche und las die Notiz vor. Dann sagte er: „Nun vermuten sie uns bestimmt liier irgendwo in den Wäldern.“

„Die Wälder sind groß“, sagte Wolzow. Dann erst stutzte er. „Verdammt, wo hast du das her?“ – „Von Wiese.“ – „Von Wiese?“ Wolzow sah Holt überrascht ins Gesicht. Go­mulka hielt im Gewehrreinigen inne und legte den Stutzen neben sich auf den Boden. Holt sagte: „Ich treff mich manch­mal mit ihm am Fluß.“

Wolzow dachte lange nach. „Eigentlich gar nicht so schlecht“, knurrte er schließlich. Daß er die Heimlichkeit so ruhig hinnahm, wunderte Holt. Er sagte rasch und wie beiläufig: „Und morgen ... treff ich mich mit Uta Barnim.“ Wol­zow legte den Kopf zur Seite und überlegte wieder. „Red mal weiter. Du hast doch was vor.“



„Ich will sie fragen, ob sie zu deinem Onkel fährt. Sie müßte ihm am besten alles sagen.“

Wolzow kaute an seiner Unterlippe. Er überlegte lange. „Onkel Hans wird furchtbar fluchen, aber es ist eine brauchbare Idee... Ob ich ihm schreib?“ – „Du wirst doch kein schriftliches Geständnis abgeben!“ rief Gomulka. Wolzow stand auf. „Ich überschlaf's noch.“

Als Gomulka sich neben Holt zum Schlafen niederlegte, sagte er: „Hast du's gesehen? Gilbert hat richtig aufgeatmet!“

Am Sonntagmorgen frühstückte Wolzow ein köpfgroßes Stück Fleisch. Er biß mit seinen starken Zähnen auf die Knochen, daß es knirschte. „Dann geh mal“, sagte er. „Hoffent­lich verpfeift sie uns nicht.“ Holt blickte zum Himmel. Endlich riß die Wolkendecke auseinander. Er machte sich auf den Weg. Noch sorgfältiger als sonst suchte er das Sumpfgelände rings um den Treffpunkt ab, die Schilffelder und Weiden­büsche. Er schleppte die Zeltbahn voll Reisig aus dem nahen Wald in sein Versteck. Am Feuer aß er ein Stück Schweine­fleisch, das ihm Vetter mitgegeben hatte. Langsam wurde es Abend.

Er ließ das Feuer niederbrennen und legte einen Kloben auf, der nur langsam verglühte. Dann wartete er am Wald­rand. Als er Uta kommen sah, auf dem schmalen Rasenpfad zwischen Wald und Niederung, wurde ihm bewußt, wie auf­geregt er war.

Er trat aus dem Gebüsch, und sie begann zu lachen. „Sie spielen also tatsächlich noch Indianer!“

Holt ärgerte sich. „Hau mal 'nbißchen ab, Peter“, sagte er. „Warte beim Eichenholz, ja?“ Wiese ging gehorsam den Weg zurück. „Wir müssen uns verstecken.“ Er drang in das Wei­dengebüsch ein und hielt für sie das Geäst zur Seite. Zwischen den Sträuchern war es dämmrig. Die glühenden Holzkohlen leuchteten. Er legte seine Decke auf den Boden. Sie setzte sich ans Feuer und sah ihm belustigt zu, wie er eine Zigarre aus der Kartentasche kramte und große Rauchwolken ausstieß. Sie begann wieder zu lachen.

„Im Wald Indianer spielen!“ Er fühlte, wie er errötete, und sagte: „Wir haben eben dieses langweilige zivile Leben satt! Verstehen Sie das nicht?“ – „Eigentlich hätte ich Sie für vernünftiger gehalten“, erwiderte sie.

„Wir haben einen Hirsch geschossen“, erzählte er, und er setzte, auf einmal recht kleinlaut, hinzu: „Dann haben wir was Schreckliches angerichtet... Wir haben aus einem Gehöft ein Schwein geraubt.“

Sie erschrak. „Was reden Sie!“

Er versuchte, sich zu rechtfertigen, aber der Trotz über­zeugte nicht einmal ihn selbst. „Mit dem Kompaß durch den Wald. Wozu haben wir das gelernt? Und Schießen; oder die Eskaladierwand, an der sie mich schon im Jungvolk gedrillt haben... Das haben wir hier alles mal durchprobiert.“ Er schaute mißtrauisch auf Uta.

Sie sah ihn nachdenklich an. „Bitte ...“, sagte er leise, bei­nahe kläglich, „fahren Sie nach Berlin zu Generalmajor Wolzow. Wenn Sie alles erzählen, hilft er uns, daß wir nicht ein­gesperrt werden.“

„Eigentlich“, entgegnete sie, „sollten Sie Ihre Untaten allein ausbaden.“ Das Wort „Untaten“ war wieder der blanke Spott. „Was haben die denn davon, wenn sie uns einsperren?“ meinte I Iolt. „Die solln uns endlich in den Krieg lassen. Da ist das doch alles erlaubt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Erzählen Sie mir alles. Die ganze Geschichte, von Anfang an.“ Holt erzähl­te. Sie sagte, als er fertig war: „Gut. Ich fahre. Aber...“ – „Was aber?“ – „Nichts.“ Sie erhob sich. Er ging neben ihr her, den schmalen Pfad zwischen Sumpf und Wald ent­lang; er schob die Hand unter ihren Oberarm. Sie duldete es. „Ich bin Ihnen so dankbar...“, begann er stockend. Sie spottete: „Sentimentalitäten stehen dem Bandenräuber schlecht an!“ – „Ich denk immerfort an Sie...“, sagte er beharrlich, „Tag und Nacht denk ich an Sie...“ – „Und wenn Sie mit Ihrem Räuberdasein in den Bergen eins erreicht haben“, erwiderte sie, „so dies, daß ich gleichfalls öfter an Sie denken muß.“ Er zog ihren Oberarm fester gegen seine Brust. „Sie haben mich ganz durcheinandergebracht...“ – „Was Peter sicherlich sehr interessieren wird“, sagte sie lachend. Tat­sächlich, da saß Wiese am Waldrand. Kühl und distanziert sagte sie: „Nächsten Samstag, am gleichen Platz.“

„Ich glaube, es ist bald Schluß mit dem Leben hier“, sagte Gomulka. „Eigentlich schade, nicht?“ Holt gab keine Ant­wort. Er war eine Nacht lang allein durch den Wald ge­streift, von einer neuerlichen, quälenden Unruhe erfüllt. Sein Interesse am Lagerleben, an Jagd und Fischfang war erloschen. Ich hätte jeden Tag Uta besuchen können, dachte er... Er gab sich uferlosen Tagträumen hin, wenn er faul in der Sonne lag. Er liebte es, früh aufzustehen.

Am Samstagmorgen lief er vor Sonnenaufgang aus der Höhle, kletterte durch die Felsen und legte sich in den eis­kalten Bach. Dann brach er auf. Er verbarg sich am Fluß im Weidengehölz und schlief bis zum Abend.

Er las in Utas Gesicht, daß sie Erfolg gehabt hatte.

Sie ließen Wiese warten und liefen am Waldrand entlang. „General Wolzow hat getobt“, erzählte sie. „Dann hat er wohl eingesehen, daß er seinen einzigen Neffen nicht im Ge­fängnis enden lassen kann. Er will mit dem Oberstaatsanwalt telefonieren und dieser Tage herkommen. Nächste Woche sol­len Sie sich der Polizei stellen.“ – „Das ist ja nun keine sehr angenehme Lösung“, sagte Holt mißmutig. „General Wol­zow“, entgegnete Uta streng, „hat gesagt: Wenn Sie sich nicht seiner Anweisung fügen, verliert er das Interesse an seinem Neffen und macht keinen Finger mehr krumm.“ Sie faßte Holt am Arm. „Überreden Sie die anderen! Der Gene­ral sorgt bestimmt dafür, daß Ihnen nichts geschieht. Aber nun machen Sie endlich Schluß mit dieser... versetzten Ro­mantik. Und noch etwas Wichtiges.“ Sie sprach leise und eindringlich. „Sie dürfen den Überfall auf den Hof nicht zugeben! ,Das sind die Jungen nicht gewesen!' hat der General gesagt, denn eine solche Affäre könne auch er nicht geradebiegen. Sie müssen leugnen und leugnen, falls man es Ihnen überhaupt zur Last legen sollte.“

Dies alles interessierte Holt schon gar nicht mehr. Das Abenteuer war Vergangenheit. Die Gegenwart war Uta. Die Zukunft war der Krieg.

Er schaute zur Seite. In den letzten Wochen war viel ge­schehen. Ein verzauberter Augenblick, eine ländliche Nacht, und der Schleier war endgültig zerrissen. Sie ging neben ihm, ihre Schönheit war keine Aureole mehr, die sie unnahbar machte. War sie nicht aus Fleisch und Blut wie er? Er faßte ihre Hand, und sie ließ es geschehen. „Schönen Dank auch ..“ sagte er unbeholfen. „Hoffentlich ... haben Sie nun keine gar zu schlechte Meinung von mir!“

Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihn. Er sagte: „Damals, bei Wieses... Ich dachte, man darf Sie nur von ferne bewun­dern ... Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, wenn ich ...“

„Still!“ rief sie. „Was fällt Ihnen ein?“ Und sie entzog ihm ihre Hand.

Am Wege saß Peter Wiese, erhob sich und putzte ein wenig Erde von seiner Kleidung. „Vergessen Sie nicht: am kommen­den Donnerstag“, sagte sie. Schon war sie um die Biegung des Weges verschwunden.

Holt sah ihr erschrocken nach.

9.

„Reumütige Rückkehr in die Stadt, freiwillige Auslieferung bei der Polizei... ein bißchen kläglich, dieses Ende, was?“ sagte Gomulka. Auch Holt hatte sich alles anders vorgestellt.

Wolzow hatte nur eine Sorge: „Wenn sie das Gepäck durch­suchen, sind die Pistolen hin!“ Er begoß sie schließlich mit Waffenöl, wickelte sie in eine Zeltbahn und versteckte das Pa­ket im Steinbruch. Vetter schlang seit einer Woche nichts als gebratenes Fleisch in sich hinein. „Kein Knöchelchen laß ich übrig“, schwur er. Gomulka erhob sich und nahm den Stutzen. „Kommst du mit?“ In der Schlucht verschossen sie die letzte Munition. Sie waren sichere Schützen geworden. In der letzten Nacht saßen sie am Feuer. Wolzow, Vetter und Zemtzki schliefen. „Abschiedsstimmung“, sagte Gomulka. „Da geht aber bißchen mehr zu Ende als bloß das Abenteuer“, erwiderte Holt. „Die Schulzeit, ein ganzer Lebensabschnitt.“ Gegen drei Uhr weckten sie Wolzow und die anderen, löschten das Feuer und trugen das Gepäck zum Fluß. Am frühen Nach­mittag stießen sie den beladenen Kahn vom Ufer ab. Gomulka saß im Heck und steuerte. Sie trieben mit der Strömung.

Sie legten bei der Badeanstalt an. Die Rückkehr söhnte mit dem kläglichen Ende des Abenteuers aus. Die Leute liefen zusammen. Da kamen sie, verdreckt, bartstoppelig, bewaffnet und beladen, polizeilich gesucht, gewissermaßen mit einem Steckbrief bedacht. Nur Vetter zitterte, vor der Rache seiner Sippe. Das Gepäck verstauten sie in Holts und Wolzows Badekabinen, dann drängten sie sich durch die Menge und meldeten sich bei der Polizei.

Sie wurden in eine große Zelle gesperrt. Vergitterte Fen­ster, sechs Holzpritschen, ein Kübel. Vetter teilte Karten aus.

Am anderen Tag wurden sie dem Richter vorgeführt. „Den kenn ich“, flüsterte Gomulka, „das ist der Jugendrichter!“ Groß und dick saß er hinter einem mächtigen Schreibtisch, kahlköpfig, fetten Gesichts, und musterte die fünf Jungen durch die randlose Brille, wohl eine Minute lang.

„Pfui Teufel!“ sagte er. „Das Vaterland kämpft, blutet, leidet. Fünf junge Menschen desertieren! Treiben sich nun! Pfui Teufel! Fahnenflucht vom Ernteeinsatz! Herumtreibe­rei! Wilddiebstahl! Jagdfrevel! Tierquälerei!... Zemtzki!“ schrie er, mit einem Blick in die vor ihm liegende Akte. „Ge­stehen Sie! Wer hat das alles angestiftet?“

„Bitte...“, sagte Zemtzki flehend, und seine blauen Augen blickten unschuldsvoll. „Ich gestehe alles. Ich bin es gewesen! Aber ich bin es nicht allein gewesen, die anderen sind es auch alle gewesen!“

„Pfui Teufel!“ sagte der Richter abermals und schüttelte den kahlen Kopf. „Wolzow! Was haben Sie sich dabei gedacht? Ihre Mutter liegt im Krankenhaus! Ihr Vater ist für Führer und Reich gefallen! Ihr Onkel steht in vorderster Front! Und das Früchtchen treibt sich herum und wildert! Pfui Teufel! Und kein bißchen Reue! Unverschämter Blick, freches Ge­sicht, aufsässiges Gehabe!“ Er neigte den Kopf tief über das Aktenstück und begann vorzulesen, ganz schnell: „Die Jugendlichen Gomulka, Sepp, geboren am 15. Juni 1927, Holt, Werner, geboren am 11. Januar 1927, Vetter, Christian, ge­boren am 30. April 1927, Wolzow, Gilbert, geboren am 23. März 1927, Zemtzki, Fritz, geboren am 1. Juni 1927, alle hier ansässig, werden auf dem Wege der Strafverfügung ge­mäß Paragraph 328 StPO wegen unerlaubter Entfernung vom Ernteeinsatz der Hitler-Jugend, Herumtreiberei, Jagd­frevel laut Paragraph 292 StGB Abs. 1 und 2, Bildung be­waffneter Banden laut Paragraph 127 Abs. 1 und 2 StGB und wegen ständigen Vergehens gegen das Gesetz zum Schutz der Jugend mit acht Tagen Jugendarrest bestraft. Die Täter sind geständig. Strafmildernd wurde in Betracht gezogen, daß sie in verspäteter Einsicht der Verwerflichkeit ihres Tuns sich selbst dem Gericht gestellt haben. Gegen diese Strafverfügung kann Beschwerde beim Kreisgericht eingelegt werden, auch kann durch schriftlichen Antrag die Entscheidung des Amts­gerichtes angerufen werden, das dann die Hauptverhandlung ansetzen wird.“

Er klappte den Deckel zu und sagte: „Sie treten die Haft­strafe sofort an.“

Später sagte Gomulka: „Warum macht er so ein Theater? Meint er, das imponiert mir?“ Vetter teilte schon wieder Karten aus. Wolzow legte sich auf die Pritsche und las in sei­nem Taschenbuch.

Am Nachmittag wurde die Zelle geöffnet, und General Wol­zow trat ein. Er winkte mit derHand, und der Aufseher schloß hinter ihm die Tür. „Gilbert“, sagte er scharf, „es ist das letztemal, daß ich deinetwegen als Bittsteller herumgeh! Ich mache keinen Finger mehr krumm! Verstanden?“ Wolzow er­hob sich von seiner Pritsche, die anderen standen stumm und betreten, eingeschüchtert durch all das Gold und die Orden an der Generalsuniform... „Habe dafür gesorgt, daß ihr ar­beiten werdet“, sagte der General versöhnlicher. „Holzhacken, Schlackeladen.“

Am anderen Tag wurden sie auf den Hof geführt. Sie zer­sägten mannstarke Kiefernstämme und spalteten Brennholz. Während der Arbeit hörten sie von schweren Luftangriffen auf Berlin. Die Deutschen an Rhein und Ruhr seien das Bei­spiel, dem es nachzueifern gelte.

Eine Woche später wurden sie entlassen.

Es war ein schwüler, regenfeuchter Spätsommertag. Die Schwestern Dengelmann empfingen Holt mit Gezeter und Vor­würfen. Holt ging auf sein Zimmer. Die Tage der Haft hat­ten ein Gefühl der Leere und des Katzenjammers in ihm zu­rückgelassen. Auf dem Tisch lagen ein paar Briefe, von seiner Mutter, dazwischen ein grauer Umschlag, gestempelt: „Frei durch Ablösung Reich“. Er riß den Umschlag auf. „Sie werden im Rahmen... Dienst als Luftwaffenhelfer ... Schulklasse ... haben sich am 14. September . .. Großkampfbahn . . .“

Endlich! Er riß die Tür auf und brüllte durchs Haus: „Es geht los! Montag geht's los!“

Er lief zu Wolzow. Auf dem Weg dachte er an Uta. Er blieb vor der Barnimschen Villa stehen. Aber dann fiel ihm ein, wie Uta grußlos gegangen war, und er lief weiter. Wolzow öffnete, eine Rotweinflasche in der Hand. Er sagte: „Eben ist es durch den Rundfunk gekommen, daß Italien am 3. September heim­lich kapituliert hat. Verrätergesindel!“

Holt ließ den Brief sinken. Er erschrak so sehr, daß der Brief in seiner Hand zitterte.

„Dabei hatten die doch gar keinen Grund“, sagte Wolzow. „Wenn man mit Großdeutschland verbündet ist, braucht man doch nicht zu kapitulieren!“ Er drückte Holt die Rotwein­flasche in die Hand. „Prost!“ Dann erzählte er: „In Italien muß allerhand los sein. Der Duce ist entführt worden, sie ha­ben eine neue faschistische Nationalregierung ausgerufen, und wir übernehmen jetzt allein den Schutz der europäischen Küsten... Komm.“ Er schloß das Haus ab. „Jetzt gehen wir aufs Wehrbezirkskommando und melden uns freiwillig! Dann zu Sepp und Christian. Die Einberufung muß gefeiert wer­den.“

Sie trafen Vetter auf dem Markt, mit Augen, die vom Wei­nen gerötet waren. „Mein Alter hat mich ganz furchtbar gehaun“, sagte er, während ihn noeh der Bock stieß, „aber aus Rache habe ich meiner Sippe sämtliche Raucherkarten geklaut! Hier, da hol ich mir jetzt ,Attika-Auslese' oder ,Nil’ ...“ Sie begleiteten ihn in einen Tabakladen. Eine Frau, die nach ihnen das Geschäft betrat, schimpfte ungeduldig: „Beeilen Sie sich doch! Ich muß nach Hause! Der Führer spricht!“

Die Formalität auf dem Wehrbezirkskommando war rasch erledigt. Holt, durch die Nachrichten aus Italien deprimiert, beschloß, nun doch Uta zu besuchen.

Am Nachmittag stand er lange unschlüssig und mutlos vor dem Haus. Dann klingelte er. Er wurde ins Obergeschoß geführt. Uta lag in ihrem Zimmer auf der Couch und las. Als Holt eintrat, blickte sie flüchtig von ihrem Buch auf. „Ach... Die Strafe schon verbüßt?“

Der frostige Empfang enttäuschte ihn. „Ich wollte... ich möchte ...“ Er sagte hilflos: „Um Verzeihung bitten möcht ich Sie.“ Er lehnte sich gegen diese Demütigung auf. „Ich war ... ungehörig, ich dachte ...“ Die Auflehnung erlosch, er war be­reit, sich noch tiefer zu demütigen, aber sie lächelte so spöt­tisch wie noch nie. „Was reden Sie da? Ungehörig benom­men? Nicht daß ich wüßte.“ Sie erhob sich, das Buch fiel zu lioden. Sie trat ans Fenster und sah gelangweilt hinaus. „Sie sollten sich nicht so schrecklich wichtig nehmen, mein Junge.“

Auf einmal stieg Wut in ihm hoch. Er deutete eine Ver­beugung an, dann stand er draußen vor der Tür und sah nicht mehr ihr erstauntes Gesicht. Als er unten durch die Diele ging, hörte er sie oben rufen: „So warten Sie doch!“, aber er verließ das Haus. Nur fort!

In der Halle der Wolzowschen Villa fand er die halbe Klasse versammelt. „Der wilde Jäger!“ schrie Rutscher, als er Holt eintreten sah. „Sepp hat grad von dem Hirsch erzählt!“

Holt sah sich um. Er begriff, daß man hier die Einberufung feierte, mit Schnaps... Das kam ihm recht. Sein Zorn über Uta war längst verraucht, er war nun todunglücklich.

Alles brüllte durcheinander. „Der Gilbert ist in die Schule gegangen, und zum Hausmeister hat er gesagt, aus 'm Hei­zungskeller kommt Qualm! Da ist der in’n Keller gelaufen, und Gilbert hat den Schlüssel genommen und ist in’n Chemie­raum.“ – „Ich! Ich!“ rief Zemtzki. „Ich war dabei! Der Gil­bert hat die Spritflasche an einem Bindfaden auf 'n Hof runtergelassen, und ich bin damit über die Mauer!“ – „Und ich“, erzählte Wolzow, „bin wieder zum Hausmeister und hab gesagt, da müßte ich mich wohl getäuscht haben, wenn aus dem Heizungskeller kein Qualm kam, aber vielleicht kam Qualm aus dem Keller unter der Turnhalle... Da ist der Kerl gleich wieder losgetrabt, und ich hab den Schlüssel wieder an 'n Haken gehängt und bin ganz gemütlich abgehaun!“ – „Wir haben prima Likör gemacht, mit fünfzig Prozent!“ sagte Vetter schwerfällig.

Holt setzte die Flasche an die Lippen. Das lauwarme kleb­rige Getränk brannte in der Kehle. Er nahm einen zweiten Schluck, einen dritten... Langsam wurde ihm brennend heiß, es wurde ringsum weit und hell... Wolzow schleppte Rot­weinflaschen heran. „Trink, Werner!“ Holt trank, alle tran­ken. Kummer und Zorn lösten sich. Zum Teufel mit Uta! Jemand brüllte: „Kameraden! Es geht los!“ Holt trank aus der Rotweinflasche, das Leben war wieder leicht. „Nieder mit Badoglio!“schrie jemand. „Wir werden den F-f-führer nie im Stich lassen!“ – „Niemals“, brüllte Holt, alle brüllten: „Nie-maaaals!“ Wolzows dröhnende Stimme: „Ein Wahrzeichen nur gilt: das Vaterland zu retten!“ Das ist die Ilias, dachte Holt noch, und ganz fern und schwach dämmerte die Erkennt­nis: Ich bin betrunken... Dann ging alles durcheinander: Stimmenlärm, Geschrei, Gelächter, zum Teufel mit Uta... Die Bilder überstürzen sich... die Halle in Wolzows Villa, eine Straße, Marktplatz, und Wolzow trägt einen langen, dün­nen Kaktus im Knopfloch, einen Kaktus, das ist zum Tot­lachen ... Zemtzki hat plötzlich einen Zylinder auf, wo hat er den Zylinder her?... Was grinsen denn die vielen Leute? ... Um Gottes willen, der Bannführer. Und natürlich brüllt er: Schert euch nach Hause!... Wer faßt mich da am Arm? Wiese? Der ewige Miesepeter, Drückeberger... Was ist los? Betrunken? Na ja doch, ich komm ja schon!

Holt erlebte den traurigen Zustand zum erstenmal, und er lag am nächsten Tag wie betäubt in seinem Bett. Der Kopf schmerzte. Im Magen war ein übles, rebellisches Gefühl. Er fand sich nicht zurecht. Die Sonne schien von links ins Zim­mer, also war es früher Nachmittag. Fräulein Dengelmann, Veronika, die Jüngere, den Kopf voll Lockenwickel, stand am Bett und brachte Tee. Sie zeterte: „So eine Schande... Mit sechzehn Jahren stockbetrunken! Und das ganze Stiegenhaus haben Sie vollgebrochen!“ – „Raus!“ sagte Holt schwach. „Ich bin krank...“ – „Verkatert sind Sie!“ sagte Veronika schadenfroh. „Sie solln rausgehn!“ rief Holt. Dann war er al­lein und kostete den heißen Pfefferminztee. Bruchstücke der Erinnerung fügten sich zusammen. Was haben wir da bloß an­gerichtet!

Er stand auf. Wie bin ich ins Bett gekommen? Vor dem of­fenen Fenster machte er seine Kniebeugen; es klopfte.

Peter Wiese trat ein. „Wie geht's dir?“ fragte er.

„Danke...“, brummte Holt. „Mensch... Was ist gestern bloß passiert?“ – „Ihr wart alle betrunken“, sagte Wiese mit leisem Vorwurf. „Auf dem Marktplatz seid ihr dem Bannfüh­rer in die Arme gelaufen. Er hat die Polizei holen lassen. Ich kam zufällig vorbei und hab dich grad noch wegbringen kön­nen, in dem Durcheinander hat's keiner gemerkt.“

„Hab ich mich zu dir recht unverschämt benommen?“ fragte Holt kleinlaut. „Es geht.“ Wiese lächelte schwach. „Das üb­liche. Drückeberger, Leisetreter, Miesepeter.“

„Tut mir aber wirklich leid“, sagte Holt. – „Schon gut.“ Wiese langte in die Brusttasche. „Uta Barnim hat mich gebe­ten, dir einen Brief zu bringen.“

Holt trat zum Fenster und drehte Wiese den Rücken zu. „Lieber Werner“, stand da in einer energischen Handschrift, „ich habe Sie gestern nicht kränken wollen, aber es war nicht recht, daß Sie gleich davongelaufen sind. Nun habe ich von Ihrer Einberufung gehört. Wenn Sie an Ihrem letzten Wochen­ende als Zivilist nichts Besseres vorhaben, so sind Sie herzlich eingeladen, am Samstag mit mir zu unserem Landhaus hinaus­zufahren. Das Wetter verspricht warm zu bleiben. Auch dort sind die Wälder nicht ohne Schönheit, wenngleich es leider keine Höhle gibt...“ Er lachte, ihr Spott machte ihn glück­lich. „Kommen Sie also Samstag nicht später als zwölf und lassen Sie mich durch Peter Ihre Antwort wissen.“

„Was soll ich ihr sagen?“ fragte Wiese. „Ich komm“, ent­gegnete Holt.

Wiese ging. Holt überlegte: Blumen muß ich ihr bringen! Rosen, Astern, Nelken, das hat sie alles selbst. Er erinnerte sich an Doktor Zickels Orchideenhaus in der Schulgärtnerei. Ich muß einbrechen, dachte er... Aber als er eine Stunde spä­ter über den Zaun spähte, sah er ein halbes Dutzend Men­schen beschäftigt, und nachts, als er es abermals versuchte, lief eine große Dogge in der Gärtnerei umher. Dann muß ich eben den Hund vergiften, dachte er, aber die Orchideen muß ich haben!

Er versuchte es am Sonnabend früh wieder, und tatsächlich fand er die Treibhäuser unbewacht.

Er hatte schon seine Sachen zusammengepackt, denn die Schule hatte ihm für den Montagmorgen eine Einladung zur „feierlichen Verabschiedung der Klasse VII zum Luftwaffen­dienst ...“ geschickt.

Die Schulgärtnerei lag weit draußen. Holt setzte über den Zaun. Er eilte gebückt zwischen den hohen Spargelbeeten hindurch zum Orchideenhaus.

Schwüler Duft umfing ihn. Von der Decke hingen Bast­körbe, aus denen bizarre Gebilde hervorwucherten; auf fauligen Baumstämmen leuchteten Blüten, auch zwischen Moosen und Farnwedeln... Er zog das Messer aus der Hose und schnitt sich die schönsten Blüten ab, langstielige schneeweiße Sterne mit zartroten Innenblättern: „Paphiopedilum villosum, Our King“, las er auf dem Schild. Er verließ das Treibhaus und gelangte unangefochten aus der Gärtnerei.

 

10.

Vor der Barnimschen Villa hielt ein offener Jagdwagen; der Kutscher hängte den beiden braunen Pferden Futtersäcke um. Holt klingelte ungeduldig; er nahm zwei Treppenstufen auf einmal. Uta stand vor dem Spiegel. Er hielt ihr wortlos die Orchideen hin.

„So etwas Schönes hab ich noch nie gesehn“, sagte sie und drehte ihm rasch wieder den Rücken zu. Sie kämmte sich. Er sah ihr zu, wie sie das schwere Haar um den Kopf wand und feststeckte.

Sie verließen das Haus. Der alte, gebrechliche Kutscher klet­terte wortlos auf den Bock und trieb die Pferde an; der Wa­gen rollte die Allee entlang und bog hinter den letzten Häu­sern in einen Feldweg ein, rollte weiter durch abgeerntete Äcker, bergan und bergab, und dann eine Stunde lang durch Mischwald. Uta erzählte. Als ihr Vater zur hiesigen Garnison kommandiert worden sei, habe er ein Haus in der Stadt und weit draußen ein Wochenendhaus gemietet. Pferde und Wa­gen, dieser und ein Dogcart, stünden bei einem Bauern im nahen Dorf. Zu Hause sei sie im Schwarzwald.

Das Haus lag am Waldrand, ein zweigeschossiges Holzhaus auf einem Sockel von Natursteinen. Ringsum stand der ver­wilderte Wald. Holt folgte Uta in die Diele, dort führte ihn eine mürrische alte Frau ins Obergeschoß und wies ihm ein Zimmer an, das nur mit eisernem Bett, Waschtoilette und Schrank eingerichtet war. Eichen und Kiefern streckten ihre Äste bis an das geöffnete Fenster. Die Frau öffnete die Tür einen Spalt und winkte.

Aus dem gegenüberliegenden Zimmer trat Uta. In der Diele saßen sie einander am Eßtisch gegenüber. Die Frau trug Pell­kartoffeln auf und eine Schüssel mit saurer Sahne. Das Rau­schen des Windes in den Baumwipfeln drang durch die ge­öffnete Tür, die zu ebener Erde in den Wald hinausführte.

Sie verließen das Haus. Im Tal zwischen Feldern lag das Dorf. Ein milder Spätsommerabend sank herab. Spinngewebe glänzte auf Farnwedeln und Schlehdorn, durch die Luft schwebten die Fäden des Altweibersommers.

Uta ging einen halben Schritt voraus. Am Waldrand setzte sie sich ins Gras. Brombeersträucher und Haselbüsche ließen den Blick nur nach Westen hin frei; über den Bergen spielte der Himmel mit allen Farben. Von der Lichtung her strich mit dem Wind der Geruch von Heu über sie hin. Er legte den Arm um ihre Schulter, sie ließ sich rücklings ins Gras sinken. Später saß er neben ihr und sah das Farbenspiel am Horizont verlöschen. Sie hielt die Augen geschlossen. Es dunkelte. Sie fröstelte. Als sie das Haus erreichten, war es Nacht.


Date: 2016-03-03; view: 935


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