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Opicina, 16. November 1992 6 page

Da platzte ich einfach, ich weiß auch nicht, wieso. Das Geheimnis, das mit ins Grab zu nehmen ich mir längst ge- schworen hatte, schlüpfte über meine Lippen. Kaum war es heraus, bereute ich es schon, wollte es zurückrufen; ich hätte alles getan, um diese Worte wieder zu verschlucken, aber es war zu spät. Dieses »dein Vater ist nicht dein wirk-
licher Vater«, war schon an ihre Ohren gedrungen. Ihr Gesicht wurde noch fahler. Sie stand langsam auf und
starrte mich an. »Was hast du gesagt?« Ihre Stimme war kaum vernehmbar. Ich dagegen hatte mich seltsamerweise
wieder beruhigt.

»Du hast ganz richtig gehört«, antwortete ich ihr. »Ich habe gesagt, daß dein Vater nicht mein Ehemann war.«

Wie Ilaria reagierte? Einfach, indem sie flüchtete. Mit einem Gang, der eher dem eines Roboters als dem eines Menschen glich, drehte sie sich um und steuerte auf das Gartentor zu. »Warte! Laß uns reden!« rief ich ihr mit hassenswert schriller Stimme nach.

Warum ich nicht aufgestanden bin, warum ich ihr nicht nachgelaufen bin, warum ich im Grunde nichts getan
habe, um sie aufzuhalten? Weil ich selbst wie von meinen eigenen Worten versteinert dasaß. Versuche, es zu verste- hen: Was ich so viele Jahre und mit solcher Standhaftigkeit gehütet hatte, war plötzlich herausgekommen. In weniger als einer Sekunde, wie ein Kanarienvogel, der plötzlich die Käfigtüre offenstehen sieht, war es davongeflogen, zu der einzigen Person, von der ich nicht wollte, daß sie es erführe.

Am selben Nachmittag, um sechs Uhr, als ich noch ganz benommen die Hortensien wässerte, kam eine Streife
der Verkehrspolizei, um mir mitzuteilen, daß sie verunglückt war.

 

Es ist jetzt später Abend, ich mußte eine Pause machen. Ich habe Buck und die Amsel gefüttert, habe selbst gegessen und ein wenig ferngesehen. Mein zerlöcherter Panzer erlaubt es mir nicht, längere Zeit starken Gefühlen standzuhalten. Um weitermachen zu können, muß ich mich ablenken, Atem schöpfen.

Wie du weißt, starb deine Mutter nicht sofort, sondern schwebte zehn Tage zwischen Leben und Tod. An diesen Tagen war ich immer bei ihr, ich hoffte, daß sie wenigstens für einen Moment die Augen öffnen würde, daß mir eine
letzte Möglichkeit gegeben würde, sie um Verzeihung zu bitten. Wir waren allein in einem engen Raum voller Ap-
parate, ein kleiner Bildschirm zeigte an, daß ihr Herz noch schlug, ein anderer, daß ihr Gehirn fast nicht mehr arbei- tete. Der Arzt, der sie betreute, hatte mir gesagt, daß die Patienten es in einem solchen Zustand manchmal wohltu- end fänden, wenn sie Laute hörten, die sie geliebt hatten. Also hatte ich mir das Lied besorgt, das sie als Kind am liebsten mochte. Stundenlang spielte ich es ihr mit einem kleinen Kassettenrecorder vor. Etwas muß tatsächlich zu ihr durchgedrungen sein, denn schon nach den ersten Klängen veränderte sich ihr Ausdruck, das Gesicht entspannte sich und die Lippen begannen, die Bewegungen zu machen, die Säuglinge machen, wenn sie gestillt worden sind. Es wirkte wie ein Lächeln der Zufriedenheit. Wer weiß, vielleicht bewahrte sie in dem kleinen Teil ihres Gehirns, der noch funktionierte, die Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit und hatte sich in jenem Augenblick dorthin geflüchtet. Diese kleine Veränderung erfüllte mich mit Freude. Man klammert sich in solchen Fällen ja an jede Winzigkeit; ich wurde es nicht müde, ihr über den Kopf zu streicheln und zu wiederholen: »Du mußt es schaffen, mein Schatz, wir haben noch ein ganzes Leben vor uns, gemeinsam. Wir werden noch einmal von vorn anfangen und alles anders machen.« Während ich zu ihr sprach, hatte ich immer wieder ein Bild vor mir: Sie war vier oder fünf Jahre alt, ich sah sie durch den Garten wandern, ihre Lieblingspuppe im Arm, mit der sie ununterbrochen redete. Ich war in der Küche, konnte ihre Stimme nicht hören. Ab und zu drang von irgendwoher auf der Wiese ihr Lachen zu mir, ein kräftiges, fröhliches Lachen. Wenn sie einmal glücklich war, sagte ich mir dann, kann sie es auch wieder werden. Um ihr wieder Leben zu geben, muß man von dort ausgehen, von diesem Kind.



Das erste, was mir die Ärzte nach dem Unfall mitteilten, war natürlich, daß ihre Körperfunktionen, selbst wenn sie überleben sollte, nicht mehr so sein würden wie früher; sie konnte gelähmt bleiben oder nur teilweise wieder zu Bewußtsein kommen. Und weißt du was? In meinem mütterlichen Egoismus sorgte ich mich nur darum, daß sie weiterlebte. Auf welche Weise, hatte keine Bedeutung. Im Gegenteil, sie im Rollstuhl zu schieben, sie zu waschen, zu füttern, ihre Pflege zu meinem einzigen Lebensinhalt zu machen, das wäre die beste Möglichkeit gewesen, meine Schuld ganz zu sühnen. Wenn meine Liebe echt gewesen wäre, wenn sie wirklich groß gewesen wäre, hätte ich für ihren Tod gebetet. Zum Schluß war Er barmherziger als ich: Am Spätnachmittag des zehnten Tages verschwand jenes unbestimmte Lächeln von ihrem Gesicht und sie starb. Ich merkte es sofort, ich stand daneben, aber ich verständigte die diensthabende Krankenschwester nicht, weil ich noch ein wenig bei ihr bleiben wollte. Ich liebkoste ihr Gesicht, hielt ihre Hände in den meinen wie früher, als sie noch ein Kind war, »mein Schatz«, sagte ich immer wieder zu ihr, »mein Schatz«. Dann, ohne ihre Hand loszulassen, habe ich mich ans Fußende des Bettes gekniet und zu beten begonnen. Und betend habe ich zu weinen begonnen.

Als die Krankenschwester meine Schulter berührte, weinte ich immer noch. »Kommen Sie«, hat sie zu mir ge- sagt, »ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel.« Ich wollte kein Beruhigungsmittel, ich wollte nicht, daß etwas mei-
nen Schmerz dämpfte. Ich blieb bei ihr, bis sie ins Leichenhaus gebracht wurde. Dann habe ich ein Taxi genommen und bin zu der Freundin gefahren, bei der du untergebracht warst. Noch am selben Abend nahm ich dich mit zu mir. »Wo ist Mama?« hast du mich beim Abendessen gefragt. – »Mama ist auf eine lange Reise gegangen«, habe ich zu dir gesagt, »eine Reise bis in den Himmel.« Stumm hast du mit deinem blonden Lockenkopf weitergegessen. Kaum warst du fertig, hast du mich mit ernster Stimme gefragt: »Können wir ihr zuwinken, Großmutter?« – »Aber natürlich, mein Liebling«, habe ich geantwortet, dich auf den Arm genommen und in den Garten getragen. Lange sind wir so auf der Wiese stehengeblieben, während du mit deinem Händchen den Sternen zuwinktest.

Dezember

 

In den letzten Tagen war ich sehr schlechter Laune. Es gab keinen genauen Auslöser, der Körper ist so, hat sein inneres Gleichgewicht, und ein Nichts genügt, um es aus dem Lot zu bringen. Gestern früh, als Frau Razman mit den
Einkäufen kam und mein finsteres Gesicht sah, sagte sie, ihrer Meinung nach sei der Mond daran schuld. Gestern nacht war nämlich Vollmond. Und wenn der Mond die Meere bewegen und den Salat im Garten schneller wachsen lassen kann, warum sollte er dann nicht die Macht haben, auch unsere Stimmungen zu beeinflussen? Aus was bestehen wir denn schon, außer aus Wasser, Gas, Mineralien? Bevor sie wieder ging, hat sie mir noch einen beacht- lichen Packen alter Zeitschriften dagelassen. Und so habe ich einen ganzen Tag damit verbracht, mich Seite um Seite in Dummheiten zu vertiefen. Jedesmal falle ich darauf herein. Kaum sehe ich sie, sage ich mir, na gut, ich blättere ein wenig darin, nicht mehr als eine halbe Stunde, und dann mache ich wieder etwas Ernsthaftes, Wichtigeres. Und dann kann ich mich jedesmal nicht losreißen, bis ich das letzte Wort gelesen habe. Ich bin betrübt über das unglückliche Leben der Fürstin von Monaco, ich empöre mich über die proletarischen Liebesaffären ihrer Schwester, ich erbebe bei jeder herzzerreißenden Geschichte, die mir mit einem Überfluß an Einzelheiten erzählt wird. Und dann die Leserbriefe! Ich wundere mich immer wieder, was die Leute zu schreiben den Mut haben! Ich bin keine alte Betschwester, jedenfalls halte ich mich nicht dafür, dennoch kann ich dir nicht verhehlen, daß manche Freizügigkeiten mich doch recht erstaunen.

Heute ist die Temperatur noch weiter gefallen. Ich habe nicht einmal meinen Spaziergang durch den Garten ge- macht, weil ich fürchtete, daß die Luft zu frostig sei; zusammen mit der Kälte, die ich in mir trage, hätte sie mich
zerbrechen können wie einen abgestorbenen, vereisten Ast. Wer weiß, ob du meine Seiten überhaupt noch liest, oder ob du dich, seit du mich besser kennst, so angeekelt fühlst, daß du nicht weiterlesen kannst. Die Unruhe, die mich zur Zeit beherrscht, erlaubt mir keinen Aufschub, ich kann nicht ausgerechnet jetzt unterbrechen oder um den heißen Brei herum reden. Ich habe das Geheimnis so viele Jahre gehütet, jetzt kann ich nicht mehr. Ich habe dir eingangs gesagt, daß ich angesichts deiner Verwirrung darüber, keine Mitte zu haben, selbst eine Verwirrung empfand, die deiner glich oder vielleicht sogar noch größer war. Ich weiß, daß dein Vermissen einer Mitte eng mit der Tatsache zusammenhängt, daß du nie erfahren hast, wer dein Vater ist. So wie es mir auf traurige Weise selbstverständlich war, dir zu sagen, wohin deine Mutter gegangen war, so unfähig war ich, dir auf Fragen nach deinem Vater zu antworten. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer er war. Eines Sommers hatte Ilaria allein eine lange Reise in die Türkei gemacht, und aus diesen Ferien war sie schwanger zurückgekommen. Sie war schon über dreißig, und in diesem Alter überkommt die Frauen, wenn sie keine Kinder haben, eine seltsame Panik, sie wollen um jeden Preis ein Kind, wie und mit wem ist ganz egal.

Damals waren sie außerdem fast alle Feministinnen; deine Mutter hatte mit einigen Freundinnen eine Frauengruppe gegründet. Es war viel Richtiges an dem, was sie sagten, manche Ansichten teilte ich durchaus, aber neben diesen richtigen Dingen gab es auch viel Überzogenes, ungesunde und verdrehte Vorstellungen. Eine davon war, daß die Frauen ausschließlich selbst über ihren Körper bestimmten und es deshalb ganz allein von ihnen abhing, ob sie ein Kind bekamen oder nicht. Der Mann war nichts weiter als eine biologische Notwendigkeit, und dementsprechend mußte man mit ihm umgehen. Deine Mutter war nicht die einzige gewesen, die sich so verhalten hatte, auch zwei oder drei ihrer Freundinnen bekamen ihre Kinder auf die gleiche Art. Ganz unverständlich ist es nicht, weißt du. Die Fähigkeit, Leben zu schenken, gibt einem ein Allmachtsgefühl. Der Tod, die Dunkelheit, die Vergänglichkeit rücken weiter in die Ferne, du setzt einen Teil von dir wieder in die Welt, vor diesem Wunder verschwindet alles andere.

Zur Untermauerung ihrer Thesen zitierten deine Mutter und ihre Freundinnen Dinge aus dem Tierreich: »Die Weibchen«, sagten sie, »tun sich mit den Männchen nur zur Paarung zusammen, dann geht jedes wieder seiner Wege, und die Jungen bleiben bei der Mutter.« Ob das stimmt oder nicht, kann ich nicht überprüfen. Ich weiß je-doch, daß wir Menschen sind, jeder von uns kommt mit einem Gesicht auf die Welt, das ihn von allen anderen un-terscheidet, und dieses Gesicht tragen wir dann unser ganzes Leben lang mit uns herum. Eine Antilope kommt mit einer Antilopenschnauze auf die Welt, ein Löwe mit einem Löwenmaul, sie gleichen allen anderen Tieren ihrer Art aufs Haar. Das Äußere bleibt in der Natur immer gleich, ein Gesicht aber, das hat nur der Mensch und sonst niemand. Ein Gesicht, verstehst du? Im Gesicht ist alles enthalten. Deine Geschichte, dein Vater, deine Mutter, deine Großeltern und die Urgroßeltern, womöglich auch ein entfernter Onkel, an den sich niemand mehr erinnert. Hinter dem Gesicht steht die Persönlichkeit, die guten und die weniger guten Dinge, die du von deinen Vorfahren mitbekommen hast. Das Gesicht ist etwas Ureigenes, etwas, das uns erlaubt, uns im Leben einzurichten und zu sagen: So, hier bin ich. Als du mit dreizehn, vierzehn Jahren anfingst, stundenlang vor dem Spiegel zu stehen, habe ich daher sofort verstanden, daß es genau das war, was du suchtest. Du studiertest deine Pickel und Mitesser oder die auf einmal zu große Nase, aber auch noch etwas anderes. Indem du die Züge deiner Familie mütterlicherseits ab- zogst und wegschobst, versuchtest du, dir eine Vorstellung vom Gesicht des Mannes zu machen, der dich in die Welt gesetzt hatte. Die Sache, die deine Mutter und ihre Freundinnen nicht genug bedacht hatten, war genau diese: Eines Tages würde das Kind, während es sich im Spiegel betrachtete, herausfinden, daß noch jemand anders in ihm steckte, und würde alles über diesen anderen herausfinden wollen. Es gibt Menschen, die dem Gesicht ihrer Mutter, ihres Vaters ihr ganzes Leben lang hinterherlaufen.

Ilaria war überzeugt, die Genetik spiele bei der Entwicklung eines Lebens keine Rolle. Wichtig waren für sie die Erziehung, die Umgebung, die Art, wie man aufwuchs. Ich teilte diese Auffassung nicht, für mich ging beides Hand in Hand: zur Hälfte die Umgebung, zur Hälfte das, was wir von Geburt an in uns tragen.

Solange du nicht in die Schule gingst, hatte ich keine Probleme, du fragtest dich nie nach deinem Vater, und ich hütete mich wohl, davon zu sprechen. Mit deinem Eintritt in die Grundschule bemerktest du plötzlich, dank deiner Schulkameradinnen und der teuflischen Aufsatzthemen, die die Lehrerinnen stellten, daß in deinem Alltag etwas fehlte. In deiner Klasse gab es natürlich viele Kinder, deren Eltern getrennt lebten oder die aus ungeordneten Verhält- nissen stammten, aber bei keinem gab es, in bezug auf den Vater, eine so völlige Leere wie bei dir. Wie sollte ich dir im Alter von sechs, sieben Jahren erklären, was deine Mutter getan hatte? Schließlich wußte ich ja im Grunde ge-nommen selbst nichts darüber, außer daß du dort in der Türkei empfangen wurdest. Also habe ich, um eine wenig-stens einigermaßen glaubwürdige Geschichte zu erfinden, die einzig feststehende Tatsache benutzt, das Ursprungs-land.

Ich hatte ein Buch mit orientalischen Märchen gekauft und las dir jeden Abend eines vor. Nach dem gleichen Muster hatte ich dann eigens für dich ein Märchen erfunden, erinnerst du dich noch daran? Deine Mutter war eine
Prinzessin und dein Vater ein Prinz des Halbmonds. Wie alle Königskinder liebten sie sich so sehr, daß sie bereit waren, füreinander zu sterben. Diese Liebe neideten ihnen aber viele bei Hof. Am neidischsten von allen war der Großwesir, ein mächtiger, böser Mann. Und er war es gewesen, der einen schrecklichen Zauberspruch gegen die Prinzessin und das Wesen, das sie in ihrem Schoß trug, ausgesprochen hatte. Zum Glück war der Prinz von einem
treuen Diener gewarnt worden, und so hatte deine Mutter bei Nacht, als Bäuerin verkleidet, das Schloß verlassen und sich hierher geflüchtet, in die Stadt, wo du das Licht der Welt erblicktest.

»Ich bin das Kind eines Prinzen?« hast du mich mit leuchtenden Augen gefragt. »Natürlich«, erwiderte ich,
»aber das ist ein ganz geheimes Geheimnis, das darfst du niemandem verraten.« Was ich mit dieser merkwürdigen Lüge zu erreichen hoffte? Nichts, ich wollte dir nur ein paar weitere unbeschwerte Jahre schenken. Ich wußte ja, daß du eines Tages aufhören würdest, an mein dummes Märchen zu glauben. Ich wußte auch, daß du mich von jenem Tag an sehr wahrscheinlich hassen würdest. Dennoch war es mir einfach unmöglich, dir das Märchen nicht zu erzählen. Auch wenn ich mein ganzes bißchen Mut zusammengenommen hätte, ich hätte nie zu dir sagen können: »Ich weiß nicht, wer dein Vater ist, und vielleicht wußte deine Mutter es auch nicht.«

Es waren die Jahre der sexuellen Revolution, die erotische Betätigung wurde als normale Körperfunktion ange-sehen: Sie sollte immer ausgeübt werden, wenn man dazu Lust hatte, einmal mit dem einen, am nächsten Tag mit einem anderen. Ich habe Dutzende von jungen Männern an der Seite deiner Mutter auftauchen sehen, aber ich erin- nere mich an keinen, mit dem es länger als einen Monat gedauert hätte. Ilaria, die schon an sich nicht sehr stabil war, hatte dieser ständige Wechsel in der Liebe noch mehr durcheinandergebracht als die anderen. Auch wenn ich sie nie an etwas gehindert, sie nie in irgendeiner Weise kritisiert habe, war ich doch recht verstört wegen dieser plötzlichen Freizügigkeit der Sitten. Es war nicht so sehr die Promiskuität, die mich beeindruckte, als vielmehr die Verarmung der Gefühle. Nachdem die Verbote und die Einzigartigkeit der Person weggefallen waren, gab es auch keine Leidenschaft mehr. Ilaria und ihre Freundinnen kamen mir vor wie stark erkältete Gäste bei einem Festessen, aus Höflichkeit aßen sie von allem, was ihnen angeboten wurde, ohne jedoch den Geschmack wahrzunehmen: Karotten, Braten und Beignets, für sie schmeckte alles gleich.

Die Entscheidung deiner Mutter hatte sicher mit der neuen Freizügigkeit zu tun, doch vielleicht spielte auch noch etwas anderes eine Rolle. Was wissen wir über das Funktionieren des Geistes? Viel, aber nicht alles. Wer kann daher sagen, ob sie, an einem dunklen Ort des Unbewußten, nicht geahnt hat, daß dieser Mann, den sie vor sich hatte, nicht ihr Vater war? Kamen viele Beunruhigungen, viele Unsicherheiten nicht vielleicht daher? Solange sie klein war und auch, als sie zum jungen Mädchen heranwuchs, habe ich mich das nie gefragt, die Illusion, in der ich sie hatte aufwachsen lassen, war vollkommen. Doch als sie von dieser Reise zurückkam, im dritten Monat schwanger, da ist mir alles wieder eingefallen. Man entkommt der Falschheit, den Lügen nicht. Oder besser gesagt, eine Zeitlang kann man entkommen, und wenn du es am wenigsten erwartest, holen sie dich dann ein, nicht mehr gefügig, scheinbar harmlos wie in dem Augenblick, als du sie gesagt hast, nein; in der Zeit ihrer Abwesenheit haben sie sich in schreckliche Ungeheuer verwandelt, in allesfressende Riesen. Du entdeckst sie, und eine Sekunde später wirst du umgerissen, sie verschlingen dich und alles, was um dich ist, mit einer entsetzlichen Gier. Eines Tages, mit zehn Jahren, bist du weinend aus der Schule heimgekommen. »Lügnerin!« hast du zu mir gesagt und dich sofort in dein Zimmer eingeschlossen. Du hattest entdeckt, daß das Märchen gelogen war.

»Die Lügnerin« könnte als Titel über meinem Lebensbericht stehen. Seit ich geboren wurde, habe ich nur ge- logen.

Damit habe ich drei Leben zerstört.

Dezember

 

Die Amsel sitzt immer noch vor mir auf dem Tisch. Sie hat etwas weniger Appetit als in den vergangenen Tagen. Anstatt mich ununterbrochen zu rufen, sitzt sie still an ihrem Platz, streckt den Kopf nicht mehr aus dem Loch in der Schachtel, nur die obersten Federn sehe ich noch ein wenig herausschauen. Heute morgen bin ich trotz der Kälte mit den Razmans in die Gärtnerei gefahren. Ich war bis zum letzten Augenblick unentschieden, die Temperatur war so niedrig, daß sie sogar einen Bären abgeschreckt hätte, und außerdem meldete sich in einem dunklen Winkel meines Herzens eine Stimme, die zu mir sagte: Was liegt dir daran, noch mehr Blumen zu pflanzen? Aber während ich schon die Nummer der Razmans wählte, um die Verabredung abzusagen, sah ich durchs Fenster die fahlen Farben des Gartens und schämte mich für meinen Egoismus. Ich werde vielleicht keinen nächsten Frühling mehr erleben, aber du wirst ja den Frühling bestimmt noch oft sehen.

Wie unwohl mir in diesen Tagen zumute ist! Wenn ich nicht schreibe, wandere ich durch die Zimmer, ohne ir-gendwo Ruhe zu finden. Unter den wenigen Dingen, die ich noch tun kann, gibt es nichts, wodurch ich mich einem Zustand der Gelassenheit annähern, meine Gedanken einen Moment von den traurigen Erinnerungen ablenken könnte. Ich habe den Eindruck, das Gedächtnis funktioniert so ähnlich wie eine Tiefkühltruhe. Weißt du, wie es ist, wenn man ein Gericht herausholt, das lange dort drinnen gelegen hat? Am Anfang ist es hart wie ein Backstein, hat keinen Geruch, keinen Geschmack, ist mit einer weißen Patina überzogen; kaum stellst du es aber aufs Feuer, nimmt es nach und nach seine Form, seine Farbe wieder an und erfüllt die Küche mit seinem Aroma. Genauso schlummern die traurigen Erinnerungen lange Zeit in einer der unzähligen Höhlen des Gedächtnisses, Jahre, Jahrzehnte, ein ganzes Leben lang. Dann, eines schönen Tages, kommen sie wieder an die Oberfläche, der Schmerz, der sie begleitete, ist wieder gegenwärtig, heftig und stechend wie an jenem Tag vor so vielen Jahren.

Ich war dabei, dir von mir, von meinem Geheimnis zu erzählen. Doch um eine Geschichte zu erzählen, muß man beim Anfang beginnen, und der Anfang liegt in meiner Jugend, in der eher ungewöhnlichen Einsamkeit, in der ich aufgewachsen war und weiterhin lebte. Zu meiner Zeit war Intelligenz für eine Frau eine Gabe, die nur schlecht für die Ehe taugte; nach den damaligen Gebräuchen sollte eine Ehefrau nichts anderes sein als eine stillhaltende, hin- gebungsvolle Gebärende. Eine Frau, die Fragen stellte, eine neugierige, unruhige Ehefrau war das Eetzte, was man sich wünschen konnte. Deshalb war ich in meiner Jugend wirklich sehr allein. Da ich hübsch und auch recht wohlhabend war, hatte ich zwar, ehrlich gesagt, mit achtzehn bis zwanzig Jahren Schwärme von Verehrern um mich. Kaum zeigte ich jedoch, daß ich sprechen konnte, kaum öffnete ich ihnen mein Herz mit den Gedanken, die sich darin regten, entstand eine Leere um mich. Natürlich hätte ich auch schweigen und mich verstellen können, aber leider – oder zum Glück – war trotz der Erziehung, die ich erhalten hatte, ein Teil von mir noch lebendig, und dieser Teil weigerte sich hartnäckig zu heucheln.

Nach dem Gymnasium studierte ich nicht, wie du weißt, weil mein Vater dagegen war. Der Verzicht fiel mir sehr schwer. Gerade deshalb war ich sehr wissensdurstig. Kaum erzählte mir ein junger Mann, er studiere Medizin, bestürmte ich ihn mit Fragen, wollte alles wissen. Genauso machte ich es auch mit den zukünftigen Ingenieuren, den angehenden Rechtsanwälten. Dieses Verhalten von mir verwirrte sie, es wirkte, als interessierte ich mich mehr für die Tätigkeit als für die Person, und so war es ja vielleicht tatsächlich. Wenn ich mit meinen Freundinnen, meinen Schulkameradinnen redete, hatte ich das Gefühl, als gehörte ich einer Welt an, die Lichtjahre entfernt war. Die große Wasserscheide zwischen mir und ihnen war die weibliche Koketterie. Mir ging sie vollkommen ab, während meine Gefährtinnen sie im höchsten Grade vervollkommnet hatten. Hinter ihrer scheinbaren Überheblichkeit, hinter ihrer scheinbaren Selbstsicherheit sind die Männer äußerst zerbrechlich und naiv; sie haben in ihrem Inneren äußerst einfache Hebel, es genügt, einen zu betätigen, und schon fallen sie in die Pfanne wie gebratene kleine Fische. Ich habe das ziemlich spät begriffen, aber meine Freundinnen wußten es schon damals, mit fünfzehn, sechzehn Jahren.

Mit natürlichem Talent nahmen sie Briefchen an oder lehnten sie ab, schrieben selbst welche in dem einen oder anderen Ton, verabredeten ein Rendezvous und gingen nicht oder erst sehr spät hin. Beim Tanzen rieben sie den richtigen Körperteil an ihrem Partner, und während sie sich an ihn drängten, sahen sie dem Mann mit dem innigen Ausdruck junger Rehe in die Augen. Das ist die weibliche List, das sind die Schmeicheleien, die zum Erfolg bei Männern führen. Ich aber, verstehst du, ich war wie eine Kartoffel, ich begriff überhaupt nichts von all dem, was um mich herum geschah. Auch wenn es dir seltsam erscheinen mag, gab es ein tiefes Gefühl der Aufrichtigkeit in mir, und diese Aufrichtigkeit sagte mir, daß ich niemals einen Mann würde täuschen können. Ich dachte, daß ich eines Tages einem jungen Burschen begegnen würde, mit dem ich mich bis spät in die Nacht unterhalten könnte, ohne je müde zu werden; indem wir redeten und redeten, würden wir merken, daß wir die Dinge auf die gleiche Weise sahen, daß wir die gleichen Gefühle hegten. Daraus würde dann Liebe entstehen, und es würde eine auf Freundschaft, auf Achtung und nicht auf die Leichtigkeit eines Betrugs gegründete Liebe sein.

Ich wollte eine Liebesfreundschaft, und darin war ich sehr männlich, männlich im antiken Sinn. Es war die gleichberechtigte Beziehung, glaube ich, die meine Verehrer abschreckte. So kam ich allmählich in die Rolle, die gewöhnlich den häßlichen Mädchen zukommt. Mein Freundeskreis war groß, aber es waren einseitige Freund- schaften; alle kamen nur zu mir, um mir ihren Liebeskummer zu gestehen. Meine Gefährtinnen heirateten eine nach der anderen. Es kommt mir vor, als sei ich an einem bestimmten Punkt meines Lebens nur noch auf Hochzeiten gegangen. Meine Altersgenossinnen bekamen Kinder, und ich war immer die unverheiratete Tante, ich lebte zu Hause bei meinen Eltern und hatte mich schon fast damit abgefunden, für immer unverheiratet zu bleiben. »Was geht bloß in deinem Kopf vor«, sagte meine Mutter, »ist es denn möglich, daß dir einfach keiner gefällt?« Für meine
Eltern war es eindeutig, daß die Schwierigkeiten, die ich mit dem anderen Geschlecht hatte, von der Verschroben-
heit meines Charakters herrührten. Ob ich traurig darüber war? Ich weiß nicht.

Ehrlich gesagt, empfand ich innerlich nicht den brennenden Wunsch nach einer Familie. Die Vorstellung, ein Kind auf die Welt zu bringen, verursachte mir ein gewisses Mißtrauen. Ich hatte selbst als Kind zu viel gelitten und fürchtete mich davor, ein unschuldiges Wesen ebenso leiden zu lassen. Darüber hinaus war ich, obgleich ich noch zu Hause lebte, vollkommen unabhängig, konnte frei über jede Stunde meiner Tage verfügen. Um ein wenig Geld zu verdienen, gab ich Nachhilfeunterricht in Griechisch und Latein, meinen Eieblingsfächern. Sonst hatte ich keine weiteren Verpflichtungen, konnte ganze Nachmittage in der Stadtbibliothek verbringen, ohne irgend jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, konnte so oft ins Gebirge fahren, wie ich Lust hatte.

Kurz und gut, verglichen mit dem anderer Frauen, war mein Leben frei, und ich fürchtete sehr, diese Freiheit zu verlieren. Dennoch empfand ich diese ganze Freiheit, dieses scheinbare Glück im Lauf der Zeit als immer unechter, immer erzwungener. Die Einsamkeit, die mir anfangs wie ein Privileg erschienen war, begann, mich zu belasten. Meine Eltern wurden allmählich alt, mein Vater hatte einen Schlaganfall gehabt und konnte nicht mehr gut gehen. Jeden Tag begleitete ich ihn zum Zeitungkaufen, ich mag etwa siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt gewesen sein. Er stützte sich auf meinen Arm, und als ich so mein Bild zusammen mit dem seinen in den Schau- fenstern gespiegelt sah, fühlte ich mich plötzlich ebenfalls alt, und mir wurde klar, welche Wende mein Leben zu nehmen begann: In Kürze würde er sterben, meine Mutter würde ihm folgen, ich würde allein bleiben in einem
großen Haus voller Bücher, zum Zeitvertreib würde ich vielleicht sticken oder Aquarelle malen, und die Jahre
würden nur so verfliegen. Bis eines Morgens jemand, besorgt darüber, daß er mich mehrere Tage nicht gesehen hätte, die Feuerwehr rufen würde, und die Feuerwehrmänner die Türe aufbrechen und meinen Körper auf dem Boden liegend finden würden. Ich wäre tot, und was von mir bliebe, wäre nicht viel anders als die vertrocknete Hülle, die auf der Erde liegenbleibt, wenn Insekten sterben.

Ich fühlte, wie mein Frauenkörper verblühte, ohne gelebt zu haben, und das machte mich sehr traurig. Und außerdem fühlte ich mich allein, sehr allein. Seit meiner Geburt hatte ich nie jemanden gehabt, mit dem ich reden
konnte, wirklich reden, meine ich. Natürlich war ich sehr intelligent, las viel, wie mein Vater zum Schluß mit einem gewissen Stolz sagte: »Olga wird nie heiraten, weil sie zu viel im Kopf hat.« Aber diese ganze angebliche Intelligenz führte nirgendwohin, ich war nicht fähig, was weiß ich, eine große Reise zu machen, etwas gründlich zu studieren. Weil ich nicht auf die Universität gegangen war, fühlte ich mich, als hätte man mir die Flügel gestutzt. Doch in Wirklichkeit lag die Ursache meiner Ungeschicklichkeit, meiner Unfähigkeit, meine Begabungen gewinnbringend einzusetzen, nicht darin. Schließlich hatte Schliemann Troja auch auf eigene Faust entdeckt. Ich wurde von etwas an- derem gebremst, von dem kleinen Toten in mir, erinnerst du dich? Er bremste mich, er hinderte mich daran, weiter- zugehen. Ich stand da und wartete. Worauf? Davon hatte ich nicht die blasseste Ahnung.


Date: 2016-01-14; view: 549


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