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Opicina, 16. November 1992 4 page

 

November

 

Heute nacht ist das Wetter umgeschlagen, von Osten ist der Wind gekommen und hat in wenigen Stunden alle Wolken weggefegt. Bevor ich zu schreiben anfing, habe ich einen Spaziergang durch den Garten gemacht. Die Bora wehte noch heftig, kroch einem unter die Kleider. Buck war begeistert, wollte spielen und lief mit einem Pi- nienzapfen im Maul neben mir her. Mit meinem bißchen Kraft konnte ich den Zapfen nur einmal für ihn werfen, und auch nicht sehr weit, aber Buck war trotzdem zufrieden. Nachdem ich den Gesundheitszustand deiner Rose geprüft hatte, habe ich noch den Nußbaum und den Kirschbaum begrüßt, meine Lieblingsbäume.

Weißt du noch, wie du mich immer ausgelacht hast, wenn ich Baumstämme streichelte? »Was machst du da?« sagtest du. »Das ist doch kein Pferderücken.« Wenn ich dich darauf hinwies, daß einen Baum zu streicheln nicht anders ist, als irgendein anderes Lebewesen zu streicheln, ja sogar besser, zucktest du die Schultern und gingst ärger- lich davon. Warum es besser ist? Nun, wenn ich zum Beispiel Buck am Kopf kraule, spüre ich zwar etwas Warmes, Vibrierendes, darunter aber immer eine leichte Erregung: Die Fressenszeit, die schon zu nah oder noch zu fern ist, die Sehnsucht nach dir oder auch nur die Erinnerung an einen bösen Traum. Verstehst du? Der Hund hat, wie der Mensch, zu viele Sorgen, zu viele Bedürfnisse. Ob er ruhig und glücklich sein kann, hängt nie von ihm alleine ab.

Beim Baum dagegen ist das anders. Von dem Augenblick an, in dem er aus der Erde sprießt, bis zu seinem Tod bleibt er immer an derselben Stelle. Mit seinen Wurzeln ist er dem Herzen der Erde näher als jedes andere Ding, mit seiner Krone ist er dem Himmel am nächsten. Der Saft strömt durch sein Inneres, von oben nach unten, von unten nach oben. Er dehnt sich aus und nimmt sich zurück, je nach dem Licht des Tages. Er wartet auf den Regen, er wartet auf die Sonne, er wartet auf die eine Jahreszeit, dann auf die nächste, er wartet auf den Tod. Nichts von dem, was es ihm ermöglicht zu leben, hängt von seinem Willen ab. Er ist da und Schluß. Verstehst du jetzt, warum es schön ist, Bäume zu streicheln? Wegen ihrer Festigkeit, wegen ihres Atems, der so lang, so ruhig, so tief ist. Irgendwo in der Bibel steht geschrieben, Gott habe große Nasenlöcher. Auch wenn es ein wenig unehrerbietig ist, ist mir doch jedesmal, wenn ich versuchte, mir den Anblick des göttlichen Wesens vorzustellen, das Bild einer Eiche in den Sinn gekommen.

Zu Hause, im Garten meiner Kindheit, gab es eine Eiche, sie war so groß, daß zwei Leute nötig waren, um ihren Stamm zu umfassen. Schon mit vier oder fünf Jahren ging ich gern zu ihr. Ich setzte mich darunter, spürte die Feuch-tigkeit des Grases unter meinem Po, den kühlen Wind in den Haaren und auf dem Gesicht. Ich atmete und wußte, daß es eine höhere Ordnung der Dinge gab und daß ich, zusammen mit allem, was ich sah, in jener Ordnung enthalten war. Obwohl ich nichts von Musik verstand, sang etwas in mir. Ich wüßte nicht zu sagen, was für ein Lied es war, es gab weder einen Refrain noch eine bestimmte Melodie. Es war vielmehr, als bliese in der Gegend meines Herzens ein Blasebalg in regelmäßigem, mächtigem Rhythmus, und als erzeuge dieser Luftstrom, indem er sich im ganzen Körper und im Geist ausbreitete, ein helles Licht, ein Licht von zweierlei Wesensart: seiner eigenen, der des Lichts, und der der Musik. Ich war glücklich, daß ich existierte, und außer diesem Glück gab es nichts mehr für mich.



Es mag dir seltsam oder übertrieben erscheinen, daß ein Kind so etwas erahnen kann. Leider sind wir gewohnt, die Kindheit als eine Zeit der Blindheit, des Mangels zu betrachten, und nicht als eine Phase größeren Reichtums. Dennoch würde es genügen, mit Aufmerksamkeit die Augen eines Neugeborenen anzusehen, um sich klarzuma- chen, daß es genau so ist. Hast du das je getan? Versuch’s mal, wenn sich dir eine Gelegenheit bietet. Schieb die Vorurteile im Geist beiseite und beobachte es. Wie ist sein Blick? Leer, unbewußt? Oder uralt, fern und wissend? Die
Kinder haben von Natur aus einen weiteren Atem in sich, wir Erwachsenen sind es, die ihn verloren haben und uns nicht damit abfinden können. Mit vier, fünf Jahren wußte ich noch nichts von Religion, von Gott, von all dem Durcheinander, das die Menschen angerichtet haben, indem sie über diese Dinge sprachen.

Weißt du, als es darum ging zu entscheiden, ob du in der Schule den Religionsunterricht besuchen solltest oder nicht, war ich lange sehr unentschlossen. Auf der einen Seite erinnerte ich mich daran, wie schlimm für mich der Zusammenstoß mit den Dogmen gewesen war, andererseits war ich fest überzeugt, daß man bei der Erziehung nicht nur an den Verstand, sondern auch an den Geist denken müsse. Die Lösung kam von selbst, am selben Tag, an dem dein erster Hamster starb. Du hieltest ihn in der Hand und sahst mich ratlos an. »Wo ist er jetzt?« hast du mich gefragt. Ich habe dir geantwortet, indem ich dir die Frage zurückgab: »Was meinst du denn, wo er jetzt ist?« Weißt du noch, was du geantwortet hast: »Er ist an zwei Orten. Ein bißchen hier und ein bißchen oben in den Wolken.« Noch am selben Nachmittag haben wir ihn mit einer kleinen Beerdigungsfeier begraben. Vor dem Erdhäufchen kniend, hast du dein Gebet gesprochen: »Sei glücklich, Tony. Eines Tages werden wir uns wiedersehen.«

Vielleicht habe ich es dir nie erzählt, aber die ersten fünf Schuljahre habe ich bei den Nonnen verbracht, im Institut vom Heiligen Herz Jesu. Das war kein geringer Schaden für meinen sowieso nicht sehr gefestigten Geist, glaub mir. Im Eingang hatten die Nonnen eine große Weihnachtskrippe aufgebaut, die das ganze Jahr über stehenblieb. Da war Jesus im Stall mit dem Vater und der Mutter und Ochs und Esel, und rundherum Berge und Steilhänge aus Pappmaché, die nur von einer Herde Schäflein bevölkert waren. Jedes Schäflein stand für eine Schülerin, und je nach ihrem Betragen im Laufe des Tages wurde es von Jesus’ Stall weggerückt oder ihm angenähert. Jeden Morgen, bevor wir in die Klasse gingen, kamen wir dort vorbei und mußten uns ansehen, welchen Platz wir einnahmen. Gegenüber dem Stall lag eine tiefe Schlucht, und dort standen die Allerschlimmsten, mit zwei Hufen schon über dem Abgrund. Vom sechsten bis zehnten Lebensjahr war mein Leben davon bestimmt, welche Schritte mein Schaflein machte. Und ich brauche wohl nicht eigens zu erwähnen, daß es sich fast nie vom Rand des Abgrunds wegbewegte.

Innerlich versuchte ich mit all meiner Willenskraft, die Gebote zu befolgen, die man mich gelehrt hatte. Ich tat es aus dem normalen Anpassungsdrang heraus, den alle Kinder haben, aber nicht nur: Ich war wirklich überzeugt, daß man gut sein müsse, nicht lügen sollte, nicht eitel sein dürfte. Dennoch war ich immer nahe daran, herunterzufallen. Warum? Wegen Nichtigkeiten. Wenn ich in Tränen aufgelöst zur Mutter Oberin ging, um sie nach dem Grund eines neuerlichen Weggerücktwerdens zu fragen, antwortete sie: »Weil du gestern eine zu große Schleife im Haar hattest... Weil eine Kameradin dich beim Verlassen der Schule summen hörte... Weil du dir vor dem Essen nicht die Hände gewaschen hast.« Verstehst du? Noch einmal bestand meine Schuld aus Äußerlichkeiten, aus den gleichen Dingen, die meine Mutter mir vorhielt. Wir wurden nicht zu Konsequenz, sondern zum Konformismus erzogen. Eines Tages, als ich am äußersten Rand des Abgrunds angekommen war, fing ich an zu schluchzen und sagte: »Aber ich liebe Jesus doch.« Und weißt du, was die Schwester, die bei uns war, daraufhin sagte? »Ah, außer daß du unordentlich bist, lügst du auch noch. Wenn du Jesus wirklich liebhättest, würdest du deine Hefte besser in Ordnung halten.« Und peng, gab sie meinem Schäfchen mit dem Zeigefinger einen Schubs, so daß es in den Abgrund stürzte.

Nach diesem Vorfall habe ich, glaube ich, zwei ganze Monate lang nicht geschlafen. Kaum schloß ich die Augen, fühlte ich, wie sich der Bezug der Matratze unter meinem Rücken in Flammen verwandelte und gräßliche Stimmen in mir höhnten: »Warte nur, gleich holen wir dich!« Natürlich habe ich meinen Eltern von all dem nie etwas erzählt. Als meine Mutter sah, wie gelb im Gesicht und nervös ich war, sagte sie: »Das Kind ist erschöpft«, und ohne mit der Wimper zu zucken schluckte ich Löffel um Löffel voll Stärkungsmittel.

Wer weiß, wie viele empfindsame und intelligente Menschen sich dank Vorfällen dieser Art für immer von den Fragen des Geistes entfernt haben. Jedesmal, wenn ich jemanden sagen höre, wie schön doch die Schulzeit gewesen sei, und wie er sich danach zurücksehne, wundere ich mich. Für mich waren diese Jahre mit die schlimmsten meines Lebens, vielleicht sogar die schlimmsten überhaupt, wegen des ständigen Gefühls der Ohnmacht. Die gesamte Dauer der Grundschule war ich unbändig hin und her gerissen zwischen dem Willen, dem treu zu bleiben, was ich in mir fühlte, und dem Wunsch, dem nachzueifern, was die anderen glaubten, obwohl ich ahnte, daß es falsch war.

Es ist seltsam, aber wenn ich jetzt die Gefühle jener Zeit noch einmal durchlebe, habe ich den Eindruck, daß meine große Wachstumskrise nicht, wie es immer geschieht, in der Pubertät stattgefunden hat, sondern in jenen Kindheitsjahren. Mit zwölf, dreizehn, vierzehn Jahren besaß ich schon eine traurige Unerschütterlichkeit. Die großen metaphysischen Fragen waren allmählich in den Hintergrund getreten, um neuen, harmlosen Phantasien Platz zu machen. Sonntags und zu den hohen kirchlichen Feiertagen ging ich mit meiner Mutter in die Messe, kniete mit zerknirschtem Ausdruck nieder, um die Hostie in Empfang zu nehmen, doch während ich es tat, dachte ich an an- dere Dinge; es war nur eine der vielen kleinen Rollen, die ich spielen mußte, um in Ruhe leben zu können. Deshalb habe ich dich nicht am Religionsunterricht teilnehmen lassen und es auch nie bereut. Als du mir in deiner kindlichen
Neugier Fragen über das Thema stelltest, versuchte ich, dir auf direkte und unbeschwerte Art zu antworten und
dabei das Geheimnis zu achten, das in jedem von uns ist. Und als du mir keine Fragen mehr stelltest, habe ich ohne
Aufhebens aufgehört, darüber zu reden. Man darf, was diese Dinge angeht, weder drängen noch zerren, sonst ge-
schieht genau das gleiche, was den fliegenden Händlern passiert. Je mehr sie ihr Produkt anpreisen, um so mehr kommt einem der Verdacht, daß es sich um Betrug handelt. Ich habe bei dir nur versucht, nicht zu ersticken, was schon da war. Im übrigen habe ich abgewartet.

Glaub aber nicht, mein Weg sei so leicht gewesen; auch wenn ich mit vier Jahren den Atem ahnte, der die Dinge umweht, hatte ich ihn doch mit sieben schon wieder vergessen. In der ersten Zeit hörte ich noch die Musik, das stimmt, sie war im Hintergrund, aber sie war noch da. Sie klang wie ein Gebirgsbach in einer Klamm, wenn ich still und aufmerksam lauschte, konnte ich oben am Rand der Schlucht sein Murmeln vernehmen. Dann hat sich der Ge- birgsbach in ein altes Radio verwandelt, in ein Radio, das gerade kaputtgeht. Einmal brach die Musik viel zu laut hervor, dann war sie wieder ganz weg.

Mein Vater und meine Mutter ließen keine Gelegenheit aus, um mir meine Singgewohnheit vorzuwerfen. Einmal beim Mittagessen bekam ich sogar eine Ohrfeige – meine erste Ohrfeige –, weil mir ein »Trallala« herausgerutscht war. »Bei Tisch singt man nicht«, hatte mein Vater gedonnert. »Man singt nicht, wenn man kein Sänger ist«, hatte meine Mutter bekräftigt. Ich weinte und sagte immer wieder unter Tränen: »Aber es singt in mir.« Alles, was sich von der konkreten stofflichen Welt löste, war für meine Eltern vollkommen unverständlich. Wie hätte es mir da
möglich sein sollen, meine Musik zu bewahren? Mein Schicksal hätte mindestens das einer Heiligen sein müssen. Es war aber vielmehr das grausame Schicksal der Normalität.

Ganz allmählich ist die Musik verstummt, und mit ihr das Gefühl tiefer Freude, das mich in den ersten Jahren be-gleitet hatte. Der Freude habe ich am allermeisten nachgetrauert, weißt du. Später bin ich auch glücklich gewesen, gewiß, aber das Glück verhält sich zur Freude wie eine elektrische Lampe zur Sonne. Das Glück hat immer einen Gegenstand, man ist über etwas glücklich, es ist ein Gefühl, dessen Auftreten von etwas Äußerem abhängt. Die
Freude dagegen hat keinen Gegenstand. Sie kommt ohne jeden ersichtlichen Grund über dich, sie gleicht in ihrem Wesen der Sonne, leuchtet dank der Verbrennung ihres eigenen Herzens.

Im Lauf der Jahre habe ich mich selbst aufgegeben, mein tiefstes Inneres, um eine andere zu werden, so wie meine Eltern es erwarteten. Ich habe meine Persönlichkeit aufgegeben, um einen Charakter anzunehmen. Charakter, das wirst du noch merken, wird m der Welt viel mehr geschätzt als Persönlichkeit.

Aber im Gegensatz zu dem, was immer angenommen wird, vertragen Charakter und Persönlichkeit sich nicht, meistens schließen sie sich sogar gegenseitig aus. Meine Mutter, zum Beispiel, hatte einen starken Charakter, sie war sich jeder ihrer Handlungen sicher, und es gab nichts, absolut nichts, was diese Sicherheit erschüttern konnte. Ich war das genaue Gegenteil von ihr. Im täglichen Leben gab es nichts, das meine Begeisterung erregte. Vor jeder Entscheidung schwankte und zögerte ich so lange, daß schließlich diejenigen, die bei mir waren, die Geduld ver- loren und für mich entschieden.

Glaub nicht, es sei ein natürlicher Prozeß gewesen, die Persönlichkeit abzustreifen, um so zu tun, als hätte ich einen Charakter. Etwas tief in mir lehnte sich weiter dagegen auf, ein Teil wünschte sich, weiter ich selbst zu sein, während der andere, um geliebt zu werden, sich den Erfordernissen der Welt anpassen wollte. Welch harter Kampf! Ich haßte meine Mutter, ihre oberflächliche, leere Art. Ich haßte sie, und doch wurde ich allmählich und gegen meinen Willen ganz genau wie sie. Das ist die große und schreckliche Erpressung der Erziehung, der man fast nicht entgehen kann. Kein Kind kann ohne Eiebe leben. Deshalb paßt man sich dem verlangten Modell an, auch wenn es einem überhaupt nicht gefällt und man es nicht richtig findet. Und dieser Mechanismus verschwindet auch im Erwachsenenalter nicht. Kaum bist du Mutter, wird er wieder wirksam, ohne daß du es merkst oder willst, be-
einflußt er erneut deine Handlungen. So war ich, als deine Mutter geboren wurde, absolut sicher, daß ich mich anders verhalten würde. Und das habe ich auch getan, aber dieses andere war unecht, nur an der Oberfläche. Um deiner
Mutter kein Vorbild aufzuzwingen, wie man es mir noch vor der Zeit aufgezwungen hatte, habe ich sie immer frei
wählen lassen, ich wollte, daß sie sich in allen ihren Handlungen angenommen fühlt, und wiederholte ihr immerzu:
»Wir sind zwei verschiedene Menschen und müssen uns in der Verschiedenheit achten.«

In all dem war ein Fehler, ein schwerer Fehler. Und weißt du, welcher? Mein Mangel an Identität. Obwohl ich nun erwachsen war, fehlte mir jede Sicherheit. Es gelang mir nicht, mich zu lieben, mich zu schätzen. Dank des ausgeprägten und jede Gelegenheit wahrnehmenden Spürsinns, der die Kinder auszeichnet, merkte deine Mutter das sofort: Sie fühlte, daß ich schwach, zerbrechlich, leicht zu überwältigen war. Das Bild, das mir einfällt, wenn ich an unsere Beziehung denke, ist das eines Baums und seiner Schmarotzerpflanze. Der Baum ist älter, höher, er steht schon lange da und hat tiefere Wurzeln. Die Pflanze sprießt zu seinen Füßen, in nur einem Sommer, ihre Wurzeln sind eher wie Fäden, dringen kaum in die Erde ein. An jedem dieser Fäden sind kleine Saugnäpfe, und damit rankt sie sich am Stamm empor. Nach ein, zwei Jahren ist sie schon hoch oben in der Krone angekommen. Während ihr Wirt die Blätter verliert, bleibt sie grün. Sie breitet sich immer weiter aus, klammert sich fest, überwuchert ihn vollkommen, und Sonne und Regen treffen nur noch sie. Da verdorrt der Baum und stirbt, der Stamm dient nur noch als elendes Gerüst für die Kletterpflanze.

Nach ihrem tragischen Ende habe ich mehrere Jahre nicht mehr an sie gedacht. Manchmal wurde mir bewußt, daß ich sie vergessen hatte, und ich beschuldigte mich der Grausamkeit. Ich mußte mich um dich kümmern, das stimmt, aber ich glaube nicht, daß das der wahre Grund war, oder vielleicht nur zum Teil. Das Gefühl der Niederlage war zu groß, um es eingestehen zu können. Erst in den letzten Jahren, als du anfingst, dich zu entfernen und deinen eigenen Weg zu suchen, ist mir der Gedanke an deine Mutter wieder in den Sinn gekommen und hat angefangen, mich zu bedrängen. Am meisten bereue ich, daß ich nie den Mut hatte, ihr zu widersprechen, daß ich nie zu ihr gesagt habe: »Du täuschst dich gewaltig, du bist dabei, eine Dummheit zu begehen.« Ich fühlte, daß die Schlagworte, die sie benützte, überaus gefährlich waren, es ging um Dinge, die ich, zu ihrem eigenen Besten, sofort hätte unterbinden müssen, und doch hielt ich mich zurück und griff nicht ein. Das hatte nichts mit Trägheit zu tun. Die Dinge, über die wir diskutierten, waren wesentlich. Was mich so handeln – oder besser gesagt nicht handeln – ließ, war die Einstellung, die meine Mutter mir beigebracht hatte. Um geliebt zu werden, mußte ich den Zusammenstoß vermeiden, so tun, als wäre ich jemand, der ich nicht war. Ilaria war auf natürliche Weise überheblich, sie hatte mehr Charakter, und ich fürchtete die offene Auseinandersetzung, ich hatte Angst zu widersprechen. Hätte ich sie wirklich geliebt, hätte ich mich empören, sie hart anfassen müssen; ich hätte sie zwingen müssen, Dinge ganz oder gar nicht zu tun. Vielleicht war es genau das, was sie wollte, was sie gebraucht hätte.

Wer weiß, warum die elementaren Wahrheiten am schwersten zu verstehen sind? Wenn ich damals begriffen hätte, daß die Haupteigenschaft der Liebe die Kraft ist, wären die Ereignisse wahrscheinlich anders verlaufen. Aber um stark zu sein, muß man sich selbst lieben; um sich selbst zu lieben, muß man sich von Grund auf kennen, alles von sich wissen, auch die verborgensten Dinge, die am schwersten zu akzeptieren sind. Wie schafft man es, eine derartige Entwicklung zu vollziehen, während das Leben dich mit seinem Lärm weiterschleift? Nur wer von Anfang an mit außergewöhnlichen Gaben ausgestattet ist, kann so etwas. Den gewöhnlichen Sterblichen, den Menschen wie mir, wie deine Mutter, bleibt nichts als das Schicksal der Blätter und der Plastikflaschen. Jemand – oder der Wind – wirft dich plötzlich in einen Fluß, und dank des Stoffes, aus dem du bestehst, schwimmst du, anstatt unterzugehen; schon das erscheint dir wie ein Sieg und sofort läßt du dich treiben, gleitest rasch in der Richtung dahin, in die der Strom dich trägt; ab und zu bist du wegen eines Wurzelknotens oder eines Steins zu einer Pause gezwungen, das Wasser zerrt eine Weile an dir, dann steigt es wieder und du befreist dich, schwimmst weiter; wenn der Fluß ruhig dahinfließt, schwimmst du oben, wenn Stromschnellen kommen, zieht es dich hinunter; du weißt nicht, wohin du unterwegs bist, und hast es dich auch nie gefragt; auf den ruhigeren Strecken kannst du die Landschaft sehen, die Böschungen, die Sträucher; mehr denn Einzelheiten siehst du die Formen, die Art der Farben, du bist zu schnell, um noch mehr zu erkennen; dann, mit der Zeit und der wachsenden Entfernung, werden dieBöschungen flacher, der Fluß breiter, er hat noch Ufer, aber nicht mehr lange. »Wohin komme ich?« fragst du dich daraufhin, und genau in dem Augenblick öffnet sich vor dir das Meer.

Ein großer Teil meines Lebens war so. Ich zappelte mehr, als daß ich schwamm. Mit unsicheren, ziellosen Be wegungen ohne Anmut und Freude gelang es mir gerade eben, mich über Wasser zu halten.

Warum ich dir das alles schreibe? Was diese langen und zu intimen Geständnisse bedeuten? Vielleicht hast du es
längst satt, hast schnaubend eine Seite nach der anderen umgeblättert. Worauf will sie hinaus, wirst du dich gefragt haben, wo führt sie mich hin? Es stimmt, ich schweife ab; anstatt auf der Hauptstraße zu bleiben, biege ich oft und gern in schmale Seitenpfade ein. Ich mache den Eindruck, als hätte ich mich verirrt, und vielleicht ist es nicht nur ein Eindruck, sondern ich habe mich wirklich verirrt. Aber so ist der Weg, zu dem man das braucht, was du so sehr suchst: eine innere Mitte.

Weißt du noch, als ich dir beibrachte, wie man Crepes macht? Wenn du sie in die Luft wirfst, sagte ich zu dir, mußt du an alles denken außer daran, daß sie schön glatt wieder in die Pfanne zurückfallen sollen. Wenn du nur ihre Flugbahn im Sinn hast, kannst du sicher sein, daß sie zusammengeklappt aufkommen oder direkt auf dem Herd landen. Es ist komisch, aber es ist die Ablenkung, die die Dinge zu ihrer Mitte, zu ihrem Herzen kommen läßt.

Anstelle des Herzens meldet sich jetzt der Magen zu Wort. Er knurrt, und er hat recht, denn über einer Crêpe und einer Reise auf dem Fluß ist es Zeit zum Abendessen geworden. Jetzt muß ich dich verlassen, aber vorher schicke ich dir noch einen weiteren verhaßten Kuß.

 

 

November

 

Der gestrige Wind hat ein Opfer gefordert, ich fand es heute morgen bei meinem gewohnten Spaziergang durch den Garten. Fast als hätte es mein Schutzengel mir eingeflüstert, bin ich nicht wie immer einfach einmal ums Haus gegangen, sondern ganz nach hinten, bis dorthin, wo früher einmal der Hühnerstall stand und wo jetzt der Komposthaufen ist. Und während ich an dem Mäuerchen entlangging, das uns von Walters Familie trennt, bemerkte ich etwas Dunkles auf dem Boden. Es hätte ein Pinienzapfen sein können, war es aber nicht, denn es bewegte sich in ziemlich regelmäßigen Abständen. Ich hatte das Haus ohne Brille verlassen, und erst als ich mich direkt darüber- beugte, erkannte ich, daß es sich um eine junge Amsel handelte. Bei dem Versuch, sie zu fangen, hätte ich mir um ein Haar den Oberschenkel gebrochen. Immer, wenn ich sie fast erwischt hatte, machte sie einen kleinen Satz nach vorn. Wäre ich jünger gewesen, hätte ich sie im Handumdrehen gehabt, aber mittlerweile bin ich einfach zu lang- sam. Zum Schluß ist mir ein genialer Einfall gekommen, ich habe mein Kopftuch abgenommen und es über sie ge- worfen. Darin eingewickelt habe ich sie ins Haus getragen und in einer alten Schuhschachtel untergebracht, die ich innen mit alten Lappen ausgepolstert habe, in den Deckel habe ich Löcher gebohrt, eins davon so groß, daß sie den Kopf durchstecken konnte.

Während ich schreibe, steht sie hier vor mir auf dem Tisch. Ich habe sie noch nicht gefüttert, weil sie noch zu aufgeregt ist. Wenn ich sie so sehe, werde ich selbst ganz aufgeregt, ihr verängstigter Blick bringt mich in Verlegen- heit. Wenn jetzt eine Fee herabschwebte und mit ihrem blendenden Glanz zwischen Kühlschrank und Kohleherd erschiene, weißt du, worum ich sie dann bitten würde? Ich würde mir den Ring von König Salomon wünschen, den Zauberring, der es einem ermöglich, mit allen Tieren der Welt zu sprechen. Dann könnte ich zu der Amsel sagen: »Mach dir keine Sorgen, mein Kleines, ich bin zwar ein Mensch, aber von den besten Absichten beseelt. Ich werde
dich pflegen, dich füttern, und wenn du wieder gesund bist, werde ich dich wieder fliegen lassen.«

Aber kommen wir zu uns. Gestern haben wir uns in der Küche verabschiedet, mit meinem prosaischen Gleichnis von den Crepes. Ziemlich sicher hat dich das geärgert. Wenn man jung ist, denkt man immer, daß man für die großen Dinge – um sie zu beschreiben – noch größere, hochtrabende Worte braucht. Kurz vor deiner Abreise hast du mir einmal einen Brief unter das Kopfkissen gelegt, in dem du versuchtest, mir dein ganzes Unbehagen zu erklären. Da du ja jetzt weit weg bist, kann ich dir sagen, daß ich von diesem Brief, außer eben dem Gefühl von Unbehagen, überhaupt nichts verstanden habe. Alles war so verworren, so dunkel. Ich bin eine einfache Person, die Zeit, der ich angehöre, ist anders als die, der du angehörst: Wenn etwas weiß ist, sage ich, daß es weiß ist, wenn es schwarz ist, sage ich, daß es schwarz ist. Die Lösung der Probleme ergibt sich aus der täglichen Erfahrung, daraus, daß man die Dinge so sieht, wie sie wirklich sind, und nicht so, wie sie, nach Meinung von jemand anderem, sein müßten. In dem Moment, in dem man beginnt, den Ballast abzuwerfen, das auszusondern, was nicht zu uns gehört, was von außen kommt, ist man schon auf dem richtigen Weg. Sehr oft habe ich den Eindruck, daß die Sachen, die du liest, dich verwirren, anstatt dir zu helfen, daß sie Schwärze um sich verbreiten wie Tintenfische auf der Flucht.

Vor der Entscheidung über deine Abreise hattest du mich vor eine Alternative gestellt. Entweder wolltest du ein Jahr ins Ausland gehen oder eine Psychoanalyse anfangen. Meine Reaktion war hart, weißt du noch? Meinetwegen kannst du auch drei Jahre wegbleiben, habe ich zu dir gesagt, aber zu einem Psychoanalytiker lasse ich dich kein einziges Mal, das erlaube ich nicht, auch wenn du es selbst bezahlen würdest. Du warst sehr betroffen von meiner überaus scharfen Reaktion. Im Grunde genommen glaubtest du, mir mit der Psychoanalyse ein geringeres Übel vorzuschlagen. Auch wenn du in keiner Weise aufbegehrtest, stelle ich mir vor, daß du gedacht hast, ich sei zu alt, um diese Dinge zu verstehen, oder nicht auf dem laufenden. Doch du irrst dich. Von Freud hatte ich schon als Kind reden hören. Einer der Brüder meines Vaters war Arzt, und da er in Wien studiert hatte, war er sehr früh mit Freuds Theorien in Berührung gekommen. Er war begeistert davon, und jedesmal, wenn er zu uns zum Mittagessen kam, versuchte er, meine Eltern von ihrer Bedeutung zu überzeugen. »Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß ich Angst vor dem Tod habe, wenn ich träume, daß ich Spaghetti esse«, donnerte meine Mutter dann. »Wenn ich von Spaghetti träume, bedeutet das nur eines, nämlich daß ich Hunger habe.« Vergeblich versuchte mein Onkel, ihr zu erklären, daß ihre Uneinsichtigkeit von einer Verdrängung herrühre, daß ihre Furcht vor dem Tod unverkennbar sei, denn die Spaghetti seien ja nichts anderes als Würmer, und zu Würmern würden wir ja eines Tages allesamt werden. Weißt du, was meine Mutter dann entgegnete? Nach einem Augenblick des Schweigens kreischte sie mit ihrer Sopranstimme: »Und wenn ich nun von Makkaroni träume?«

Meine Begegnungen mit der Psychoanalyse beschränken sich jedoch nicht auf dieses Kindheitserlebnis. Deine Mutter hat sich fast zehn Jahre lang von einem Psychoanalytiker – oder von einem, der sich dafür hielt – behan-
deln lassen, bis zu ihrem Tod ging sie zu ihm, und so konnte ich, wenn auch indirekt, die gesamte Entwicklung der Beziehung Tag für Tag mitverfolgen. Am Anfang erzählte sie mir, ehrlich gesagt, nichts, diese Dinge unterliegen, wie du weißt, der Schweigepflicht. Was mich jedoch sofort – und zwar negativ – beeindruckt hat, war das unmittelbare und allumfassende Abhängigkeitsgefühl. Schon nach einem Monat drehte sich ihr ganzes Leben um diesen Termin, darum, was in der einen Stunde zwischen ihr und diesem Herrn geschah. Eifersucht, wirst du sagen. Vielleicht, schon möglich, aber das war nicht die Hauptsache; was mich bedrückte, war eher das Unbehagen, sie wieder als Sklavin einer neuen Abhängigkeit zu sehen, zuerst die Politik und dann die Beziehung zu diesem Herrn. Ilaria hatte ihn im letzten Jahr ihres Aufenthalts in Padua kennengelernt, und dorthin fuhr sie dann auch jede Woche. Als sie mir ihre neue Beschäftigung mitteilte, war ich ein wenig ratlos und fragte sie: »Glaubst du denn, daß es wirklich nötig ist, bis nach Padua zu fahren, um einen guten Arzt zu finden?«


Date: 2016-01-14; view: 448


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