Die unzähligen Volksbücher des Renaissancezeitalters gehörten zu den vielgelesenen Unterhaltungsbüchern, deren Hauptanliegen war, das Lesebedürfnis breiter Schichten der Bevölkerung zu befriedigen. Die Verfasser der meisten Volksbücher sind unbekannt. Ihr Stoff- und Themenkreis ist äußerst vielschichtig, häufig stellen sie Bearbeitungen mittelalterlicher Ritterepen, Heiligenlegenden, Reisebeschreibungen, Abenteuergeschichten, Volkssagen und italienischer Novellen dar. Aber es gibt auch Volksbücher, die keine vorgeprägten Vorlagen hatten. Zu den hervorragendsten Geschichten dieser Art zählen vor allein die unten zu behandelnden Volksbücher «Reinke de Vos» («Reynke de voß») (1498), «Till Eulenspiegel» (1515), «Historia von D. Johann Fausten» (1587) und das «Lalebuch» (1597).
„Reinke de Vos“, der in hochdeutscher Fassung den Titel «Reineke Fuchs» führt, bildet den Höhepunkt und Abschluß der mittelalterlichen Tierepik (In Latein abgefaßtes «Ecbasis captivi», französischer «Roman de renart» (um 1100), «Reinhart Fuchs» von Heinrich dem Gleißner, der sogenannte «Isengrimus», niederländischer «Reinaert de Vos», «Reinaerts Historie» des Hinrek van Alkmar). Die letzte diente dem anonymen Verfasser des «Reinke de Vos» als Vorlage.
«Reinke de Vos» ist ein kritisch-satirisches Buch, in dem der unbekannte Dichter seiner bösen Zeit einen Spiegel vorhält. Im Mittelpunkt der Dichtung steht der listige und verschlagene Fuchs, der sich wegen seiner unzähligen Missetaten und Betrügereien nun vor dem Gericht des königlichen Löwen verantworten soll. Durch eine geniale Lügengeschichte gelingt es ihm aber — bereits zum wievielten Male — seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und als Sieger aus dem Rechtsstreit hervorzugehen. Er wird gar Kanzler des Reichs und geheimer Berater des Königs. Diese großartige, vom Geist der Reformation getragene Satire richtet sich vorrangig gegen den Feudalismus und seine Verfallserscheinungen, gegen die weltliche und geistliche Obrigkeit, gegen käufliche Rechtsprechung, Betrug und Heuchelei sowie gegen Habsucht und Geldgier. Nur in der Welt allgemeiner Ungerechtigkeit und Korruption kann der ritterliche Wegelagerer und Straßenräuber Reineke Fuchs seine Untaten verüben, dies bekennt er offenherzig selbst.
Diese Dichtung ist somit eine hervorragende Satire auf die Sitten und Bräuche der weltlichen und geistlichen Machthaber, die dem armen Volk schonungslos die Haut über die Ohren ziehen, die nur an sich selbst denken und das Gemeinwohl vernachlässigen. Überall herrschen Korruptheit und Rechtlosigkeit und Geld regiert die Welt.
«Reineke Fuchs» genoss große Beliebtheit damals wie nachher. Luther nannte ihn eine «lebendige Contrafactur des Hoflebens» und Goethe —«eine unheilige Weltbibel». Diese Dichtung war nicht nur in Deutschland populär, sondern auch im Ausland: sie wurde in viele Fremdsprachen übersetzt. Im achtzehnten Jahrhundert wurde sie vom Theaterreformator Gottsched bearbeitet und diente Goethe als Ausgangspunkt für seine antifeudale satirische Dichtung «Reineke Fucks». Im neunzehnten Jahrhundert war es der fortschrittliche Vormärzsatiriker Adolf Glaßbrenner, der sich diesem Stoff nochmals zuwandte.