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Ein verlorenes Spiel

Meinem Vater war anzusehen, dass er nicht wusste, was er machen sollte. Widersprechen konnte er meiner Mutter schlecht, weil er ja die Idee selber gut fand, es John hier so heimisch wie möglich zu machen. Schließlich rang er sich dazu durch, den gemeinsamen Fußballfernsehabend mit Gerd und Wolfgang abzusagen. Er wollte sich mit der englischen Dekoration in unserem Haus seinen Freunden gegenüber nicht lächerlich machen. Um halb acht, eine halbe Stunde vor dem Anpfiff, versuchte er Gerd anzurufen. Nervös wählte er die Nummer. Aber er hatte kein Glück. Gerds Frau sagte, Gerd sei schon auf dem Weg zu Wolfgang. Also versuchte es mein Vater bei Wolf­gang. Aber auch dort hatte er kein Glück. Wolfgangs Frau sagte, er sei soeben mit Gerd losgezogen. Sie wollten an der Tankstelle noch ein paar Besorgungen machen, Salzstan­gen, Bier, Erdnüsse.

„So ein Mist aber auch", schimpfte mein Vater, als er den Hörer wieder auflegte. Jetzt sind sie nicht mehr aufzuhal­ten."

In den folgenden Minuten rannte mein Vater wie ein aufge­scheuchtes Huhn31 durchs Haus. Mal war er im Wohnzim­mer, wo schon der Fernseher lief, und hielt ratlos eine der englischen Bierdosen in den Händen, mal saß er im Ess­zimmer und trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch. Dann wieder rannte er zur Haustür und spähte nach seinen Freunden, die er jeden Augenblick erwartete. Meine Mutter war derweil32 im oberen Stock und tele­fonierte.

Dann war vor unserem Haus ein Auto zu hören. Mein Vater eilte zur Tür und sah hinaus. Er hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt und wirkte konzentrierter. „Da sind sie", sagte er und ging nach draußen. Durchs Fenster sah ich Gerd und Wolfgang durch den Gar­ten kommen. Gerd trug eine schwarz-gelbe Dortmund- Mütze und Wolfgang eine vom HSV. Alle drei waren Fans unterschiedlicher Mannschaften und ständig gab es zwi­schen ihnen Meinungsverschiedenheiten. Aber wenn die deutsche Nationalmannschaft spielte, waren sie sich natür­lich einig. Normalerweise.

Ich sah, wie mein Vater ihnen auf dem Gartenweg entge­genging, sie mit einer Handbewegung aufhielt und nach erklärenden Worten suchte.

Gerd und Wolfgang hatten mehrere Bierflaschen dabei, von denen sie meinem Vater zwei in die Hände drückten.

Sie waren überaus gut gelaunt und ich hörte, wie sie mei­nem Vater ihre Tipps gaben.

„Fünf zu eins putzen wir die Stümper33 weg34!", sagte Gerd und war schon vorbei an Vater, als er mit einem Mal inne­hielt.

„Hast du eine neue Frisur?"

„Ach was", sagte mein Vater und wuschelte sich seinen falschen Scheitel weg. „Drei zu zwei!"

Das war Wolfgangs Tipp, der ebenfalls an Vater vorbei ins Haus zu kommen versuchte. Vater aber hielt ihn am Ärmel fest und spähte dabei auch nach Gerd, der ihm aber schon entwischt war.

Die Tür ging auf. Gerd kam herein und grüßte mich. „Hallo, Paul! Na, schaust du heute das Länderspiel mit uns?" „Ja", sagte ich.



„Hat es schon angefangen?", fragte Gerd und schielte an mir vorbei ins Wohnzimmer.

„Nein", sagte ich.

Hinter Wolfgang kam mein Vater ins Haus.

„So Wartet doch", sagte er. „Ich muss euch was sagen." „

Hallo, Paul!", grüßte mich Wolfgang. „Dein Tipp?" „Keine Ahnung", sagte ich und hob unwissend die Schul­tern.

„Gerd! Wolfgang!", rief ihnen mein Vater eindringlich hin­terher. „So wartet doch!"

Gerd war jetzt schnurstracks35 auf dem Weg ins Wohnzim­mer.

„Halt!", rief mein Vater hinterher. „Ich wollte euch doch noch..."

Ich sah, wie Gerd im Wohnzimmer wie vom Donnerschlag getroffen stehen blieb, sich mit mechanischen Bewegun­gen eine Bierdose nahm und ein ziemlich dummes Gesicht machte. Er sah sich im übrigen Wohnzimmer um. Entdeckte den großen Union Jack an der Wand und die kleinen in den Gläsern.

„Sag mal...",stammelte er, „sag mal ,sag mal..." Wolfgang, der einen kleinen Blumenstrauß mitgebracht hatte, suchte im Esszimmer nach meiner Mutter. Dort fand er aber nur die englische Königin in einem Bilderrahmen und noch einen Union Jack an der Wand. „Ich glaub, ich bin im falschen Film", sagte Wolfgang, als er wieder aus dem Esszimmer kam, und warf meinem Vater einen verwunderten Blick zu.

„Sag mal... sag mal...", kam es unverändert von Gerd aus dem Wohnzimmer. „Willst du uns verscheißern36? Was soll denn der ganze englische Kram hier? Und das Bier? Du glaubst doch nicht, dass ich das runterkriege!"

Gerd stand in der Wohnzimmertür, seine Dortmund-Kappe auf dem Kopf, und hielt die englische Bierdose vor sich wie einen ekligen, stinkenden Lappen. „Ja", sagte mein Vater. „Das ist es ja." Für einen kurzen Augenblick wechselten seine hilflosen Blicke zwischen Gerd und Wolfgang hin und her. Dann sah er auf seine Uhr, und als er merkte, dass er bis zum Anpfiff noch fünf Minuten Zeit hatte, packte er den Gerd kurz entschlossen am Arm und zog ihn zusammen mit Wolfgang ins Esszimmer. Er schloss die Tür hinter sich, um seinen Freunden endlich ungestört sagen zu können, was er die ganze Zeit schon sagen wollte.

Ich hörte durch die Tür nur leises Gegrummel37, die Stim­me meines Vaters. Dann ein erstauntes „Was?!" von Gerd und ein „Ach komm! Das ist doch nicht dein Ernst!" von Wolfgang. Wenig später ging die Esszimmertür wieder auf und die drei kamen heraus.

„Wir sollen für England sein?", fragte Gerd. „Bloß weil euer Sprachenschüler nicht spricht? Siehst du die Mütze auf meinem Kopf? Ist das ein englischer Verein? Ganz gewiss nicht!"

„Meinst du nicht, dass sich euer John verscheißert vor­kommt, wenn wir für England sind?", fragte Wolfgang. „Der ist ein ganz eigenartiger Junge", sagte mein Vater.

„Und du glaubst, der fängt an zu sprechen, wenn wir für England jubeln?", fragte Gerd meinen Vater. „Alles, was recht ist, und wirklich in aller Freundschaft, aber das geht zu weit. Beim Fußball ist bei mir das Hirn abgeschaltet. Da kommt ganz tief in mir der Fan durch. Da habe ich was von einem Tier. Da kann ich nicht anders. Nichts gegen euren John und nichts gegen England. Aber ... wir putzen die heute von der Platte38 und da muss ich jubeln können. Das verstehst du doch."

Gerd klopfte meinem Vater Anteil nehmend auf die Schul­ter. Mein Vater blickte traurig drein und nickte leicht. „Fahren wir zu mir?", fragte Wolfgang den Gerd. Der nickte und verabschiedete sich von meinem Vater und von mir.

„Grüß deine Frau!", sagte Wolfgang noch zu meinem Vater und drückte ihm den Blumenstrauß .in die Hand.

Mein Vater sah ihnen sehnsuchtsvoll hinterher. Traurig setzte er sich die Bayern-Kappe wieder auf den Kopf. Kurz richtete er seinen Blick auf den Fernseher im Wohnzimmer, wo das Spiel schon begonnen hatte. „Wartet!", rief er plötzlich Gerd und Wolfgang hinterher. „Ich komme mit!"

Er gab mir die Blumen und trug mir auf: „Sag deiner Mut­ter, dass ich mir das Spiel bei Wolfgang ansehe. Das Wohn­zimmer ist ohne uns Deutschland-Fans viel heimischer für John."



Date: 2016-01-03; view: 1086


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