Philipp Mainländer Die Philosophie der Erlösung 2 page
Das Karma wirkt in der Welt, sangsara; es geht aber unter und wird vernichtet beim Eintritt in das nirwana.
Was ist nirwana? Vier Wege führen zu demselben:
1) der Weg Sowán,
i617 2) der Weg Sakradágami,
3) der Weg Anágami,
4) der Weg Arya.
Nagaséna, ein budhaistischer Priester mit einem sehr feinen dialektischen Geiste, schildert die Wesen auf den 4 Pfaden wie folgt:
1) There is the being, who has entered de path sowán. He entirely approves of the doctrines of the great teacher; he also rejects the error called sakkáya – drishti, which teaches, I am, this is mine; he sees that the practises enjoined by the Budhas must be attended to if nirwana is to be gained. Thus, in three degrees his mind is pure; but in all others it is yet under the influence of impurity. 1. Das Wesen, welches den Weg sowán betreten hat, bekennt sich vollständig zu den Lehren Budha’s; es verwirft auch den Irrthum, sakkáya-drishti genannt, welcher lehrt: Ich bin, dies ist mein; es erkennt, daß nirwana nur durch Gehorsam gegen die von den Weisen anempfohlenen Vorschriften erlangt werden kann. Sein Geist ist demnach nach drei Richtungen hin frei, nach allen anderen steht er unter dem Einfluß der Unreinheit.
2) There is the being that has entered the path Sakradágami. He has rejected the three errors overcome by the man, who has entered sowan, und he is also saved from the evils of Kama-raga (evil desire, sensuous passion) and the wishing evil to others. Thus in five degrees his mind is pure; but as to the rest it is entangled, slow. 2. Das Wesen auf dem Wege Sakradágami hat die drei Irrthümer Verworfen, wie Das auf dem Wege sowán, und ist ferner frei von Káma-raga (böser Begierde, sinnlicher Leidenschaft); es wünscht auch Anderen nichts Böses. Sein Geist ist also nach 5 Richtungen hin rein, aber nach allen anderen ist er verwirrt und nachlässig.
3. There is the being that has entered the path anágami. He is free from the five errors overcome by the man who has entered Sakradagami, and also from evil | 3. Das Wesen auf dem Pfade anágami ist frei von den 5 Irrthümern wie Das auf dem Wege Sakradágami und auch frei von bösen Gelüsten, Unwissenheit, Zwei|fel,
i618 desire, ignorance, doubt, the precepts of the sceptics and hatred. Haß und verwirft die Satzungen der Skeptiker.
4. There is the rahat. He has vomited up klesha, as if it were an indigested mass; he has arrived at the happiness which is obtained from the sight of nirwana; his mind is light, free and quick towards the rahatship. (Spence Hardy. Eastern Monachism. 289.) 4. Der rahat hat alle Liebe zu anderen Dingen, wie eine unverdaute Masse, ausgespieen; er lebt in der Seligkeit, die der Anblick nirwana’s hervorbringt. Sein Geist ist rein, frei und bewegt sich rasch der Erlösung entgegen.
Die Uebereinstimmung der nachstehenden Schilderung des Zustandes eines rahat mit der des Franckforter’s, den Zustand eines vergotteten Menschen betreffend, ist erstaunlich.
The rahats are subject to the endurance of pain of body, such as proceeds from hunger, disease; but they are entirely free from sorrow or pain of mind. The rahats have entirely overcome fear. Were a 100,000 men, armed with various weapons, to assault a single rahat, he would be unmoved, and entirely free from fear. (287.) Die rahats sind körperlichen Leiden unterworfen, welche aus Hunger und Krankheiten entstehen; aber sie sind frei von Sorgen und Herzeleid. Die rahats haben die Furcht vollständig besiegt. Sollten hunderttausend bewaffnete Männer auf einen einzelnen rahat eindringen, so würde er unbewegt und furchtlos bleiben.
Seriyut, a rahat, knowing neither desire nor aversion declared: I am like a servant awaiting the command of the master, ready to obey it, whatever it may be; I await the appointed time for the cessation of existence; I have no wish to live; I have no wish to die; desire is extinct. (287.) Seriyut, ein rahat, frei von Neigung und Abneigung, erklärte: Ich bin wie ein Diener, der die Befehle seines Herrn erwartet, bereit, Alles auszuführen, was mir gesagt wird. Ich erwarte die bestimmte Zeit, wann mein Dasein gänzlich aufhören wird; ich will weder leben, noch will ich sterben: Jeder Wunsch ist todt in mir.
Nirwana selbst ist Nichtsein:
i619 Nirwana is the destruction of all the elements of existence. The being who is purified, perceiving the evils arising from the sensual organs, does not rejoice therein; by the destruction of the 108 modes of evil desire he has released himself from birth, as from the jaws of an alligator; he has overcome all attachment to outward objects; he is released from birth; and all the afflictions connected with the repetition of existence are overcome. Thus all the principles of existence are annihilated, and that annihilation is nirwana. (292.) Nirwana ist die Vernichtung aller Lebenselemente. Das gereinigte Wesen erfreut sich nicht mehr durch Sinnenlust, nachdem es die Uebel erkannt hat, die daraus entspringen. Durch Vernichtung der 108 Arten böser Begierden befreite es sich von der Wiedergeburt, wie aus dem Rachen eines Alligators; es hat alle Anhänglichkeit an andere Wesen besiegt; es ist vollkommen frei vom Leben, und alle Schmerzen, welche mit der Wiedergeburt verknüpft sind, sind überstanden. Auf diese Weise ist das Leben bis in die Wurzeln vernichtet und dieser Vernichtung ist Nirwana.
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Nirwana ist thatsächlich das Nichtsein, absolute Vernichtung, obgleich die Nachfolger Budha’s sich bemühten, es als etwas Wirkliches der Welt, sangsara, gegenüberzustellen und ein Leben in ihm zu lehren, das Leben der rahats und Budhas. Nirwana soll kein Ort sein und dennoch sollen die Seligen darin wohnen; im Tode der Erlösten soll jedes Lebensprincip vernichtet werden und dennoch sollen die rahats leben.
Die Vereinigung mit Gott, von der der Franckforter spricht, findet, wie wir gesehen haben, schon in der Welt statt und ist eben das Himmelreich. Das Himmelreich nach dem Tode ist, wie Nirwana, das Nichtsein; denn wenn man diese Welt und das Leben in ihr überspringt und von einer Welt, die nicht diese Welt und von einen Leben, das nicht dieses Leben sei, spricht – wo ist denn da irgend ein Anhaltspunkt?
Vergleicht man nun die Lehre des Franckforter’s, die Lehre Budha’s und die von mir geläuterte Schopenhauer’sche Lehre mit einander, so wird man finden, daß sie, in der Hauptsache, die |
i620 denkbar größte Uebereinstimmung aufweisen; denn Einzelnwille, Karma und individueller Wille zum Leben sind Eines und dasselbe. Alle drei Systeme lehren ferner, daß das Leben ein wesentlich unglückliches ist, von dem man sich durch Erkenntniß befreien müsse und könne; schließlich ist das Himmelreich nach dem Tode, Nirwana und das absolute Nichts Eines und dasselbe.
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Schlußwort.
i621
Schopenhauer setzte über seine Kritik der Kantischen Philosophie den Voltaire’schen Ausspruch:
C’est le privilège du vrai génie, et surtout du génie qui ouvre une carrière, de faire impunément de grandes fautes.
Dieses Wort muß auch auf ihn selbst angewandt werden: denn er war nicht nur ein echtes, sondern auch ein bahnbrechendes Genie, dessen Leistungen niemals vergessen werden können, und durfte, ja, er mußte als solches große Fehler machen. Ich habe mich bemüht, dieselben aufzudecken (es war keine leichte Arbeit), getragen von aufrichtiger Verehrung und unaussprechlicher Dankbarkeit gegen den Meister, von dessen Einfluß auf mich ich nicht reden will. Denn wie konnte ich besser meine Dankbarkeit gegen den großen Todten beweisen, als dadurch, daß ich seine Lehre, durch Befreiung von Auswüchsen und Absurditäten, für Jeden, wie ich hoffe, zündend machte? Schopenhauer’s Werke sind fast noch gar nicht bekannt. Von den Wenigen, die sie kennen, schütten die Meisten, von den Fehlern abgestoßen, das Kind mit dem Bade aus. Da galt es zu handeln! Die schönste Frucht alles philosophischen Denkens: die Verneinung des individuellen Willens zum Leben mußte gerettet, auf einen unerschütterlichen Grund gebracht und für Alle sichtbar aufgestellt werden. Möge das neue Kreuz alle Diejenigen zur Erlösung führen, welche erlöst sein wollen und doch nicht glauben können. Vier Namen werden alle Stürme und Umwälzungen der kommenden Zeiten überdauern und erst mit der Menschheit untergehen, die Namen Budha, Christus, Kant und Schopenhauer. –
Ich kann nicht schließen, ohne einige Worte über den Stil Schopenhauer’s gesagt zu haben. Er ist durchweg deutlich, klar und durchsichtig, auch da, wo transscendente Fragen abgehandelt |
i622 werden, und man kann ihn den philosophischen Musterstil nennen. La clarté est la bonne foi des philosophes.
Eine große Zierde der Werke Schopenhauer’s sind die immer treffenden Gleichnisse, von oft zauberhafter Wirkung. Sie bekunden die Lebhaftigkeit seines Geistes, die überaus große Combinationsfähigkeit desselben und den künstlerischen Blick in die anschauliche Welt. So vergleicht er Willen und Intellekt mit dem sehenden Lahmen, getragen vom starken Blinden; den, vom sich fürchtenden oder hoffnungsvollen Willen beeinflußten Intellekt mit einer Fackel, bei der man lesen soll, während der Nachtwind sie heftig bewegt; Schriften, welche Zeitfragen behandeln und über die der Strom der Entwicklung weggegangen ist, mit alten Kalendern; Den, welcher sich selbst genügt, mit der hellen, warmen, lustigen Weihnachtsstube mitten im Schnee und Eise der Decembernacht (echt deutsch!); die Genüsse einer schlechten Individualität mit köstlichen Weinen in einem mit Galle tingirten Munde; den Reichthum und den Ruhm mit Seewasser: je mehr man davon trinkt, desto durstiger wird man; die normalen Reflexbewegungen mit der legitimen Autokratie untergeordneter Beamten u.s.w. u.s.w.
Hierher gehören auch die treffenden Ausdrücke wie: das Gehirn muß anbeißen; den bürgerlichen Personen im Drama fehlt es an Fallhöhe; der Morgen ist die Jugend des Tages; die Meisten schreiben nicht wie der Architekt baut, nach einem Plane, sondern wie man Domino spielt; das Schicksal mischt die Karten und wir spielen; alle Krämpfe sind eine Rebellion der Nerven der Gliede gegen die Souveränität des Gehirns; alle Dinge sind herrlich zu sehen, aber schrecklich zu sein u.s.w.
Seine Aphorismen zur Lebensweisheit, seine Paränesen und Maximen strotzen von prägnanten Bildern, und jede Seite bekundet den feinen Kopf, den reichen, genialen, überlegenen Geist.
Ich erwähne ferner seine witzige und sarkastische Ader. Wie beißend nennt er in der Einleitung zur Schrift: »Ueber den Willen in der Natur« (1835) das Kantische System das neueste aller bisherigen!
Auch will ich noch auf Schopenhauer’s Ausfälle gegen die »drei Sophisten nach Kant« und die Philosophie- Professoren hinweisen. Ihr Ton ist giftig und grob zugleich; doch sind sie im Grunde harmloser als sie sich geben. Wenn ich sie las, schwebte |
i623 mir immer sein Kopf vor mit lächelndem Munde und heiteren Augen. So wird er wohl auch ausgesehen haben, als er dem geduldigen Papier die galligen Worte anvertraute und – – mit Behagen schimpfte.
Und nun frage ich zum Schlusse: wann wird die deutsche Nation den »unverschämten Vers« ihres zweitgrößten Denkers:
»Ein Denkmal wird die Nachwelt mir errichten!«
verwirklichen?
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Philipp Mainländer Die Philosophie der Erlösung
Zweiter Band:
Zwölf philosophische Essays
(1876)
ii-IV
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Von Philipp Mainländer.
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Zweiter Band.
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Zwölf philosophische Essays.
Gehet und predigt und sprechet: das Himmelreich
ist nahe herbeigekommen.
Machet die Kranken gesund, reinigt die Aussätzigen,
wecket die Todten auf, treibet die Teufel aus.
Matth. 10, 7. 8.
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Frankfurt a. M.
Verlag von C. Koenitzer.
1886.
Inhalt
[ii-VII]
ZWEITER BAND.
I. Realismus und Idealismus.
1. Essay: Der Realismus 1
2. Essay: Der Pantheismus 27
3. Essay: Der Idealismus 37
4. Essay: Der Budhaismus 71
1. Der esoterische Theil der Budhalehre 73
2. Der exoterische Theil der Budhalehre 95
3. Die Legende vom Leben Budha’s 115
4. Das Charakterbild Budha’s 176
5. Essay: Das Dogma der Dreieinigkeit 189
1. Der esoterische Theil der Christuslehre 191
2. Der exoterische Theil der Christuslehre 205
3. Das Charakterbild Christi 219
6. Essay: Die Philosophie der Erlösung 233
7. Essay: Das wahre Vertrauen 243
II. Der Socialismus.
8. Essay: Der theoretische Socialismus 275
1. Einleitung 277
2. Der Communismus 280
3. Die freie Liebe 305
4. Die allmälige Realisation der Ideale 329
5. Höhere Ansicht 333
9. Essay: Der praktische Socialismus 339
Drei Reden an die deutschen Arbeiter 341
1. Rede: Das Charakterbild Ferdinand Lassalle’s 343
2. Rede: Die sociale Aufgabe der Gegenwart 372
3. Rede: Das göttliche und das menschliche Gesetz 410
10. Essay: Das regulative Princip des Socialismus 427
Vorwort 429
Statut des Gralsordens 437
Motive 455
Schlußwort 460
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[ii-VIII]
11. Essay: Aehrenlese 461
1. Zur Psychologie 463
2. Zur Physik 464
3. Zur Aesthetik 470
4. Zur Ethik 477
5. Zur Politik 489
6. Zur Metaphysik 506
Eine naturwissenschaftliche Satire 512
12. Essay: Kritik der Hartmann’schen Philosophie des Unbewußten 529
Vorwort 531
1. Einleitung 539
2. Psychologie 553
3. Physik 567
4. Metaphysik 595
Schlußwort 651
I. Realismus und Idealismus.
ii-IX
Sieben Essays.
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Wenn irgend Etwas auf der Welt wünschenswerth ist, so
wünschenswerth, daß selbst der rohe und dumpfe Haufen, in
seinen besonnenen Augenblicken, es höher schätzen würde als
Silber und Gold, so ist es, daß ein Lichtstrahl fiele auf das
Dunkel unseres Daseins und irgend ein Aufschluß uns würde
über diese räthselhafte Existenz, an der Nichts klar ist als ihr
Elend und ihre Nichtigkeit.
Schopenhauer.
ii-XI
I. Realismus und Idealismus.
Sieben Essays.
1. Essay: Der Realismus.
2. Essay: Der Pantheismus.
3. Essay: Der Idealismus.
4. Essay: Der Budhaismus.
1. Der esoterische Theil der Budhalehre.
2. Der exoterische Theil der Budhalehre.
3. Die Legende vom Leben Budha’s.
4. Das Charakterbild Budha’s.
5. Essay: Das Dogma der Dreieinigkeit.
1. Der esoterische Theil der Christuslehre.
2. Der exoterische Theil der Christuslehre.
3. Das Charakterbild Christi.
6. Essay: Die Philosophie der Erlösung.
7. Essay: Das wahre Vertrauen.
Erster Essay. Der Realismus.
ii1
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Primus in orbe Deos fecit timor.
Petronius.
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Es fürchte die Götter
Das Menschengeschlecht!
Sie halten die Herrschaft
In ewigen Händen,
Und können sie brauchen
Wie’s ihnen gefällt.
Goethe.
ii3
Als der erste objectiv gestimmte Naturmensch zum ersten Male über sich und die Welt nachgedacht hatte, schwebte kein Trugbild in seiner Seele: er hatte die Wahrheit mit einem ganz dünnen Schleier gesehen.
Er hatte auf der einen Seite sich und seine Kraft, sein oft siegendes, trotziges, herrliches Ich gesehen; – auf der anderen Seite Gewalten, nicht eine einheitliche Gewalt, die bestimmend in seine individuelle Macht eingriffen, Gewalten, denen gegenüber er sich zuweilen völlig ohnmächtig fühlte.
Die Weltanschauung, die auf diesem durchaus richtigen Aperçü gebildet wurde, war der Polytheismus: die rohe Wahrheit.
Um diese beiden Punkte, gleichsam die beiden Brennpunkte einer Ellipse, also um das in seinen Egoismus eingeschlossene Ich und um die diesem Ich gegenübertretende Summe aller anderen Individuen dieser Welt, drehten und drehen sich alle Religionen und alle Philosophieen, alle Natur- Religionen und großen ethischen Religionen, alle philosophischen Systeme.
Das, was die einzelnen Religionen und die einzelnen philosophischen Systeme von einander trennt, ist nur die Art des Verhältnisses, in welches das Individuum zur übrigen Welt gesetzt wurde. Bald wurde die größere Macht dem Ich zugesprochen, bald der übrigen Welt, bald wurde alle Macht in das Ich, bald alle Macht in die übrige Welt gelegt, bald wurde die Macht der übrigen Welt, die sich dem vorurtheilslosen klaren Auge des Denkenden immer als eine Resultirende vieler Kräfte zeigt, als solche, aber roh aufgefaßt, bald wurde sie zu einer verborgenen, heiligen, allmächtigen Einheit gemacht. Und diese Einheit wurde dann wieder bald außerhalb der Welt und diese nur beherrschend, bald innerhalb der Welt und diese belebend (Weltseele), gesetzt.
ii4 Das richtige Verhältniß des Individuums zur Welt und die richtige Bestimmung des Wesens eines jeden dieser Glieder des Verhältnisses bilden die Wahrheit, das herrliche Licht, dessen Spur der Edle verfolgt, die Schale des Gral, nach deren süßer Flüssigkeit allein nur noch jeder Parcival Verlangen tragen kann, nachdem er sich, von Ekel erfüllt, mit eigenwilligem Entschluß von der Tafel des Lebens verbannt hat.
Und Alle, Alle, welche die Wahrheit suchten, alle Weisen, alle großen Religionsstifter, Propheten und Genialen haben das Licht der Wahrheit gesehen, die Einen nur reiner als die Anderen, Wenige ganz rein. Und warum haben Alle das Licht der Wahrheit gesehen? Weil es sich im Grunde um etwas außerordentlich Einfaches handelt: es haben nur zwei Glieder, die das blödeste menschliche Auge erkennt, comtemplativ betrachtet und in ein Verhältniß zueinander gestellt zu werden. Auch verlangt das echte richtige Verhältniß nur eine freie Urtheilskraft, weil es von der Natur zu jeder Zeit richtig gezeigt wird. Die Sphinx, das Räthsel der Welt, hat vom Augenblicke an, wo ein Mensch zum ersten Mal vor ihr stehen blieb und in ihre Augen blickte, gesprochen:
In meinen Augen liegt der Schlüssel zum Welträthsel. Bleibst du ruhig und hältst dich von Verwirrung frei, so wirst du ihn erkennen und damit das Räthsel lösen!
und sie wiederholte diese Worte seit jenem Augenblicke jedem Parcival, der vor sie trat, und sie wird sie wiederholen bis an’s Ende der menschlichen Gattung Jedem, der sie aufsucht.
Was nun in diesem Suchen nach Wahrheit von Anbeginn der Cultur bis auf unsere Tage in den Augen der Sphinx erkannt wurde, das soll uns jetzt beschäftigen und zwar zunächst Das, was man unter dem Begriff Realismus zusammenfaßt. Wir werden dabei zu dem überraschenden Resultat kommen, daß der indische Pantheismus trotz seines Idealismus der reine, nackte, der auf die Spitze getriebene und hier sich überschlagende Realismus ist.
Vor Allem müssen wir den Begriff Realismus ganz genau definiren.
Seit Kant versteht man unter Realismus (naiver Realismus, kritikloser Realismus) jede Naturbetrachtung, die ohne vorhergegangene genaue Untersuchung des menschlichen Erkenntnißvermögens bewerkstelligt wird. Die Welt wird vom Realismus für genau so |
ii5 gehalten, wie sie das Auge sieht, das Ohr hört, kurz, wie die Sinne sie wahrnehmen. Man kann deshalb auch sagen, daß der Realismus das erkennende Ich überspringt.
Kritischer Idealismus dagegen ist jede Naturbetrachtung, welche die Welt als ein Bild, eine Spiegelung im Geiste des Ich darstellt und die Abhängigkeit dieses Spiegelbildes vom Spiegel der Erkenntnißkraft betont und nachweist. Man kann deshalb auch sagen, daß der kritische Idealismus das erkennende Ich, seinen Stützpunkt, zur Hauptsache macht.
Naiver Realismus und kritischer Idealismus erfüllen aber nicht die ganzen Sphären der Begriffe Realismus und Idealismus, weil sie nur auf dem erkennenden Ich beruhen. Zu ihnen treten noch der absolute Realismus und der absolute Idealismus.
Wir haben mithin mit Absicht auf das rein erkennende Ich:
1) den naiven Realismus,
2) den kritischen Idealismus,
und mit Absicht auf das ganze Ich:
1) den absoluten Realismus,
2) den absoluten Idealismus, den ich auch Ding-an-sich- Idealismus nenne.
Der absolute Realismus überspringt das ganze, das erkennende und wollende Ich.
Der absolute Idealismus erhebt das erkennende und wollende Ich, das einzelne Individuum auf den Thron der Welt.
Schon aus diesen Erklärungen ergiebt sich, daß die Phänomenalität der Welt ganz gut mit dem absoluten Realismus zusammen bestehen kann. Das Individuum ist eine absolut todte Marionette: sein Geist und sein Wille, sein ganzes Wesen ist phänomenal.
Obige Erklärungen sind sehr fest zu halten.
Was ist der Kern aller Religionen der Naturvölker, die im Scheine der Morgenröthe der Cultur lagen?
Ihr Kern ist das außerordentlich lose mit der Welt verknüpfte Individuum.
Der einzelne Mensch aß, trank und zeugte. Er tödtete Thiere, züchtete Thiere und bestellte das Feld. Verwundete ihn auf der Jagd eine giftige Schlange tödtlich oder zerbrach ihm ein Löwe mit gewaltigem Tatzenschlag einen Arm, kämpfte er mit einem Neben|menschen
ii6 und unterlag er, so sah er in allem Dem nichts Merkwürdiges, nichts Staunenswerthes, nichts Fürchterliches, nichts Wunderbares. Die Schlange, der Löwe, der Nebenmensch hatten eine Gewalt ausgeübt, die beschränkt war und die er vollständig klar erkannte. Er wußte, daß er unter günstigen Umständen den Nebenmenschen, den Löwen, die Schlange tödten könnte. Was waren sie dann? Sie waren todt und von ihnen war keine Spur mehr zu entdecken.
Der Mensch ging ruhig seinen Geschäften nach und grübelte nicht. Er steifte sich auf sein trotziges Ich, das, so lange er es in rüstiger Kraft bethätigen konnte, ihm vollständig genügte. Er ruhte auf sich selbst, auf seinem felsenfesten individuellen Lebensgrund, den er wohl als einen schmalen, von anderen Individuen seines Gleichen beschränkten, aber doch als einen festen, soliden, mächtigen erkannte.
Brach dagegen in seinen Heerden eine verheerende Seuche aus, befruchtete der Himmel seine Saaten nicht oder sog die glühende Sonne alle Kraft aus den Halmen und verdorrte sie wie gemähtes Gras, umzog sich das Firmament schwarz und fiel unter furchtbarem Krachen und Donnergepolter das himmlische Feuer auf sein Weib und seine Kinder, erbebte die Erde und verschlang spurlos seine Hütte, sein Hab und Gut, wehten versengende Wüstenwinde über seine Fluren, mußte er vor den Gluthen brennender Wälder und Steppen mit wilden Thieren, die in diesem Falle wie friedliche Lämmer neben ihm liefen, in eiliger Flucht Rettung suchen, traten die Bäche und Flüsse aus und verschlangen in ihren Fluthen das Theuerste, was er besaß, machte ihn Krankheit siech und kraftlos und ließ ihn mit Entsetzen in die kalte Nacht des Todes blicken, – da stürzte er wie besinnungslos zur Erde und leckte Staub, da zitterte sein ganzer Leib, da wankte sein individueller trotziger Lebensgrund, da verlor er seine individuelle Macht und Bedeutung vollständig aus dem Bewußtsein, da betete er zerknirscht die unsichtbare Gewalt an, die im Wüstenwind, in den Wasserfluthen, in den Seuchen, im himmlischen Feuer, in den versengenden Gluthen der Sonne, in seiner Krankheit sich mit furchtbarer, allmächtiger Deutlichkeit offenbarte, da gab er ihr Alles, auch seine Kraft, und fühlte sich in namenloser Angst als reines Nichts.
Die Schlange, den Löwen, den Nebenmenschen konnte er tödten, aber das himmlische Feuer, die Sonne, die Wasserfluth, – diese |
ii7 Gewalten waren total unabhängig von ihm, während er total abhängig von ihnen war.
War jedoch das Gewitter vorbei, schwankte die Erde nicht mehr unter seinen Füßen, waren die Wasser verlaufen, kurz, zeigte die Natur wieder ihre normale Thätigkeit – da steifte er sich wieder auf sein trotziges Ich, da ruhte er wieder auf sich selbst, auf seinem felsenfesten individuellen Lebensgrund.
Sein Verhältniß zur Welt blieb auch noch immer das alte, ursprüngliche, lose, als er anfing, sich Götter zu bilden und diese von Zeit zu Zeit verehrte (gewöhnlich dann, wann er aus deutlichen Vorzeichen auf die baldige Offenbarung der übersinnlichen Kräfte schloß) – ja, es blieb auch dasselbe, als Priesterkasten entstanden waren und die Verehrung der Götter auf Grund eines regelmäßigen Cultus stattfand. Die Furcht vor den Göttern rang noch immer mit dem Bewußtsein der individuellen Macht und Kraft und bald war jene, bald dieses oben auf und Sieger.
Der Polytheismus der Naturvölker zeigt eine große Wahrheit, eine bedeutende Einseitigkeit und eine sehr bemerkenswerthe Unklarheit.
Die große Wahrheit ist:
1) daß das Individuum gleichberechtigt neben der übrigen Welt steht, eine Macht wie diese ist.
2) daß diese übrige Welt aus Individuen zusammengesetzt, eine Collectiv-Einheit, keine einfache Einheit ist.
Die bedeutende Einseitigkeit ist:
daß das Individuum bald sich, bald der übrigen Welt die ganze Macht gab.
Die bemerkenswerthe Unklarheit ist:
daß das Individuum zwar sehr richtig die Macht der übrigen Welt als Thätigkeiten einzelner Individuen erkannte, aber sich nicht zur Erkenntniß durcharbeitete, daß diese einzelnen Thätigkeiten verknüpft und verbunden sind und zwar so innig, als ob sie einer einfachen Einheit entflössen.
Deshalb nannte ich auch oben den Polytheismus die rohe Wahrheit.
Dieser rohen Wahrheit bemächtigten sich nun einzelne geniale Köpfe, die durch sociale Einrichtungen in die günstige Lage versetzt wurden, den Blick in die Augen der Sphinx zu ihrer Lebensaufgabe |
ii8 zu machen: sie waren der harten Arbeit um’s tägliche Brod durch Privilegien enthoben.
Daß es ja Niemanden einfalle, in unglaublicher Verblendung den Despotismus der alten morgenländischen Staaten und die Kastenverfassung der alten Inder mit Koth zu bewerfen. Er würde dem Denker nur die tiefste Unwissenheit und größte Beschränktheit offenbaren. Der Despotismus der alten Militair- Monarchien ist einem Riesen zu vergleichen, der die herrlichste Erscheinung der Menschheit: die geistige Blüthe, als Rosenknospe davor bewahrte, von Menschenbestien zertreten zu werden, und der Kastenstaat war der richtige Boden, aus dessen mit bewunderungswürdigem Scharfsinn zusammengesetzten Bestandtheilen nur die Knospe die nothwendige Nahrung ziehen konnte, um sich mit berauschendem Duft zu erschließen.
Diese Genialen, »deren Namen Gott allein kennt«, zogen nun zunächst, jedoch im Polytheismus verbleibend, das lose Band zwischen Individuum und Welt straffer an. Sie erstreckten die Thätigkeit der Götter auch auf das menschliche Herz. Im ursprünglichen, ganz rohen Polytheismus hatte kein Gott, kein Fetisch, kein Dämon Gewalt über das menschliche Herz. Ihre Macht reichte gleichsam nur bis zur Haut des Individuums. Die Habe und das Leben des Menschen hingen von übersinnlichen Mächten ab, seine Thaten im Leben dagegen flossen aus seinem selbstherrlichen Herzen allein.
Dieses Verhältniß veränderten die Reformatoren des rohen Polytheismus mit fester Hand und sie betraten auf diese Weise die Bahn, an deren Ende der absolute Realismus nothwendigerweise stehen mußte; denn, wie ich oben sagte, die große Wahrheit des rohen Polytheismus ist die: