Was ist eigentlich hochdeutscher: Brötchen oder Semmel? Und heißt es: Ich habe gesessen oder ich bin gesessen?
Ein Niedersachse hat da wahrscheinlich eine andere Antwort parat als ein Bayer - aber wer von ihnen liegt richtig? Am Ende vielleicht beide? Mit Fragen wie diesen beschäftigen sich die Mitarbeiter des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim, das am 19. April diesen Jahres sein 50-jähriges Bestehen feiert. Am Dienstag (11. März) wird auf der Jahrestagung schon einmal vorzelebriert.
Wenn es um Brötchen und Semmeln geht, mögen in Ludwig Eichingers Brust zwei Herzen schlagen: Der Institutsdirektor ist gebürtiger Niederbayer. Er warnt vor zu schnellen Antworten. „Wie sind denn die Mehrheitsverhältnisse?“, fragt der 63-Jährige und lächelt schelmisch. Vielleicht führt die Semmel knapp vor dem Brötchen? Ist sie deshalb hochdeutscher? Das letzte Wort scheint noch nicht gesprochen.
Übrigens: „Das beste Hochdeutsch sprechen südwestdeutsche Frauen, weil die sich so unglaubliche Mühe geben“, berichtet Eichinger. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) als gebürtige Sächsin könnte anderer Ansicht sein - sie ist trotzdem voll des Lobes. Zum IDS-Jubiläum schreibt sie: „Weltweit ist es bei den Sprachgermanisten als zentrale Institution für die Untersuchung und Dokumentation der deutschen Gegenwartssprache anerkannt.“
Ob Schwäbisch, Sächsisch oder Mannemerisch: Um Wertung geht es den Wissenschaftlern gar nicht. „Wir verstehen uns nicht als Tugendwächter, aber schon als Ort, an dem es darum geht, was angemessener Sprachgebrauch ist“, sagt Eichinger. Das Institut für Deutsche Sprache sei kein Vorschrifteninstitut.
Der Name klingt zwar zunächst recht trocken. Themen wie „Korpuslinguistik“, „Verbkomplementierung“ und „Intonationsphrase“ dürften den meisten nichts sagen. Hinter vielem, was für den Laien erst einmal wenig nach Sprachforschung und schon gar nicht nach Deutsch klingt, verbergen sich jedoch spannende Themen.
In einem Lexikonerklären die Forscher zum Beispiel die Bedeutung neuer Wörter. Wer sich fragt, was ein „Gefällt-mir-Button“ ist, erfährt hier: „Schaltfläche meist auf einer Seite eines sozialen Netzwerkes, die angeklickt wird, um Gefallen, Zustimmung zu einem Beitrag zu bekunden.“ Und eine „Strickguerilla“ ist eine „Gruppe von Personen, die in dem Wunsch, den öffentlichen Raum zu verschönern, meist nachts Gegenstände sowie Bäume mit Gestricktem versieht“.
Die Wissenschaftler haben auch herausgefunden, dass das Wort „Rollator“ vor 2006 kaum eine Rolle spielte - und seither Jahr für Jahr immer häufiger in der deutschen Sprache vorkommt. Anders das „Ärztehopping“: Es wurde 2004 und 2005 oft benutzt, flaute dann ab und erlebte 2013 ein neues Hoch. „Jammerossi“ und „Besserwessi“ waren 1991 kurz nach der Wiedervereinigung groß in Mode und tauchten später nur noch selten auf. Auch der „Informationshighway“, beliebt 1994 und 1995, spielt heute keine Rolle mehr.
Die „SMS“ trat im Jahr 2000 ihren fulminanten Siegeszug im deutschen Sprachgebrauch an. Wer wegen ihr, Twitter und WhatsApp den Verfall der deutschen Sprache befürchtet, den können die Forscher übrigens beruhigen. „Kurzformen in SMS würden wir gar nicht verstehen, wenn wir das nicht im Kopf vervollständigen könnten“, betont Eichingers Instituts-Kollegin Angelika Wöllstein. Und ihr Chef sagt: „Natürlich gibt es schlechten Sprachgebrauch, aber das Sprachsystem, das grundsätzliche Funktionieren der Sprache, scheint davon nicht betroffen zu sein, nach allem, was wir wissen.“
Kindern den Zugang zu Büchern öffnen – wie schafft man das? Der schwedische Autor Martin Widmark möchte dies Lehrern beibringen.
DIE ZEIT: Herr Widmark, wo ist die Lesefreude der Schweden hin? Ihr Land kam beim letzten internationalen Pisa-Vergleich im Lesen nur noch auf Platz 25!
Martin Widmark: Fragen Sie doch mal Ihre Freunde, wie oft sie ein Buch in der Hand haben. In meinem Freundeskreis haben alle geantwortet: Stimmt, ich lese deutlich seltener als noch vor fünf Jahren. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Kinder das von uns Erwachsenen übernehmen. Es hat sich gesellschaftlich etwas verändert: Wir lesen alle weniger.
ZEIT: Haben die letzten Pisa-Ergebnisse Sie also nicht überrascht?
Widmark: Nein, wir hatten unseren Pisa-Schock 2011. Es war klar, dass wir erst einmal noch schlechter werden würden.
ZEIT: Sie selbst haben nun ein Jahr lang nicht mehr an Ihren Kinderbüchern gearbeitet und in dieser Zeit ein Leseprojekt für schwedische Schüler vorbereitet. Was genau planen Sie?
Widmark: Mein Projekt heißt en läsande klass, auf Deutsch "eine lesende Klasse". Ich habe ein Team zusammengestellt, das eine Art Regelwerk zum besseren Leseverständnis erarbeitet hat. Damit gehen wir in alle 7.500 Schulen in Schweden, die Kinder von der ersten bis zur sechsten Klasse unterrichten.
ZEIT: Was genau bekommen die Schulen?
Widmark: Jede Schule erhält im April ein Buch mit ganz praktischen Hinweisen und Anleitungen, wie Lehrer ihren Leseunterricht gestalten können. Begleitend dazu haben wir eine Website eingerichtet, auf der sie kostenlos Hunderte von Texten herunterladen können. Dafür habe ich alle Verlage, viele Kinderbuchautoren und Illustratoren in Schweden zusammengetrommelt, die uns ihre Werke zur Verfügung stellen.
ZEIT: Sie erklären den Lehrern, wie sie unterrichten sollen? Fühlen die sich nicht auf die Füße getreten?
Widmark: Sie sind ein wenig überrascht – aber positiv. Ich kritisiere ja niemanden, und vor allem möchte ich kein Lese-Jesus werden. Ich habe dieses Projekt ins Leben gerufen, weil ich beobachtet habe, dass in den Schulen niemand weiß, wie man das Leseverständnis verbessern kann. Ich war früher selbst Lehrer und habe es auch erst jetzt gelernt.
ZEIT: Warum lernen die Lehrer das nicht in ihrer Ausbildung?
Widmark: Sie lernen zu wenig oder nur einen kleinen Teil. Es sind jedenfalls nicht nur neue Erkenntnisse, auf die wir uns beziehen. Da sind Studien aus den 1980er Jahren dabei. Aber das Wissen ist eingesperrt. Die Schulbuchverlage haben es, aber sie geben es nicht kostenlos heraus. Die wollen Lernanleitungen verkaufen. Und die Wissenschaft kennt sich natürlich auch aus, aber es gibt nicht genug Verbindungen von der Leseforschung zur Lehrerausbildung. Das holen wir nach. Ich will das Wissen in die Schulen bringen – es soll sich wie ein Virus unter den Lehrern verbreiten.
ZEIT: Nun sind wir gespannt: Was sind denn die Empfehlungen?
Widmark: Wichtig ist zunächst, dass nicht mehr und mehr gelesen wird, sondern dass die Kinder über die Texte sprechen und sie diskutieren. Nur dann setzt ein Verständnis ein. Man kann es herunterbrechen auf fünf aufeinander aufbauende Strategien. 1. Voraussagen: Worum wird es in dem Text gehen? 2. Zusammenfassen: In eigenen Worten die Handlung wiedergeben. 3. Bei neuen Wörtern eine Pause einlegen und versuchen, die Bedeutung aus dem Kontext zu erschließen. 4. Fragen stellen: Warum wirft sich der Junge weinend auf den Boden? 5. Die Geschichten lebendig werden lassen. Wie riecht wohl das Gras? Wie sieht das Haus aus?
ZEIT: Das klingt jetzt aber sehr simpel ...
Widmark: Ja, die fünf Strategien sind fast beschämend einfach. Erfahrene Leser tun all das automatisch, aber Kinder müssen es erst lernen.
ZEIT: Hören Sie gar keine Kritik?
Widmark: Natürlich sorgen sich manche, wer sich da in die staatlichen Schulen einmischt. Es macht einige Leute etwas nervös, weil ich außerhalb jeder staatlichen Kontrolle agiere. Aber ich sage allen, dass der Staat mich liebend gern einstellen und für diese Arbeit bezahlen darf. Doch wenn er es nicht tut, mache ich trotzdem weiter.
ZEIT: Sie haben bis vor fünf Jahren selbst unterrichtet. Haben die Kinder damals besser gelesen?
Widmark: Ich glaube, sie waren geduldiger. Sie haben sich hingesetzt und eine halbe Stunde am Stück gelesen. Es war viel ruhiger in den Klassen.
ZEIT: Wie haben Sie damals gearbeitet?
Widmark: Die Kinder haben ein Buch gelesen, eine Erörterung dazu geschrieben und sie ihren Mitschülern vorgestellt. Die fünf Strategien, die wir jetzt verbreiten wollen, kannte ich damals jedenfalls nicht.
ZEIT: Und die Schüler haben trotzdem ein besseres Leseverständnis entwickelt. Heute dagegen brauchen sie Förderung. Was ist falsch gelaufen?
Widmark: Das hat mehrere Gründe, glaube ich. Zum einen liegt es an der Individualisierung des Unterrichts. Acht Jahre alte Kinder sollen zu Forschern werden und sich eigenständig Themen erschließen – zum Beispiel den Ersten Weltkrieg. Ein Kind beschäftigt sich mit den Waffen, ein anderes mit Marschmusik, eins mit den Uniformen. Man setzt sie in die Ecke und lässt sie zwei Wochen lang so gut wie allein. So bekommen sie doch keinen Überblick, nur Details und Fragmente. Und so ähnlich lesen sie auch: Sie reihen Buchstaben aneinander, aber verstehen den Sinn nicht.
ZEIT: Moment, Sie denken, das ist der falsche Weg, Wissen zu vermitteln?
Widmark: Ja, individualisiert bloß nicht den Unterricht bei euch in Deutschland...
ZEIT: ... wir sind schon dabei…
Widmark: Oh, tja, das ist keine gute Idee. Es ist nicht gut, wenn die Kinder so viel allein arbeiten. Sie brauchen Anleitung und Führung. Natürlich niemanden, der sie in Angst und Schrecken versetzt. Aber lasst die Lehrer bloß im Zentrum der Klassen – oder bringt sie wieder dorthin zurück.
ZEIT: Was sind die weiteren Gründe?
Widmark: Kinder sind heute zu durchgetaktet. Es gibt kaum freie Zeit, keine Langeweile. Als ich Kind war, dachte ich oft: Puh, was mach ich denn jetzt? Ach, ich les ein Buch! Und wenn Eltern wollen, dass ihre Kinder lesen, sollten sie mal für eine Woche das Internet abschalten. Der Computer ist ein großer Konkurrent für das Buch. Da musst du nicht mühsam einen Text entziffern, sondern kannst einfach ein Video anklicken.
ZEIT: Aber Sie haben ja selbst Videos auf Ihrer Website...
Widmark: Ja, das war sehr interessant und lustig. Als wir anfingen, unsere Strategie und unsere Regeln zu erklären, kamen wir auf die Idee, ein Video zu machen. Niemand mag es, Anleitungen zu lesen. Jetzt zeigt ein Film in fünf Minuten, was man sich sonst in zwei Stunden anlesen und erarbeiten müsste. Ich schätze, das zeigt ganz gut, was mit unserer Lesekultur heute passiert ...
ZEIT: Glauben Sie, Bücher werden neben dem Computer bestehen können?
Widmark: Wenn wir das wollen, müssen wir unseren Kindern das Lesen beibringen. Wenn sie erleben, wie es ist, in Geschichten abzutauchen, dann haben Bücher eine Chance gegen das Internet und gegen Computerspiele. Wenn Kinder nur lernen, Buchstaben zu entziffern, ist es langweilig, und der Computer wird gewinnen. Wir würden ja auch nicht freiwillig Telefonbücher lesen.
ZEIT: Aber Internet und Computer werden nicht einfach wieder verschwinden ...
Widmark: Eben, Kinder heute müssen doppelt lesen lernen: in Büchern und online. Das ist eine große Herausforderung. Wir waren gerade hier in Schweden mit dem Internet sehr früh sehr weit, und jetzt bekommen wir die Rechnung in Form schlechterer Schulleistungen. Wir haben uns von der Technik faszinieren lassen, aber darüber das Lesen vergessen.
ZEIT: Als einer der erfolgreichsten Kinderbuchautoren Schwedens haben Sie natürlich ein großes Interesse daran, dass Bücher überleben. Ist das Ihre eigentliche Motivation zu diesem Projekt?
Widmark: Die Kinder lesen meine Bücher bereits, davon bin ich nicht abhängig. Für die Kinder selbst ist es wichtig zu lesen. Warum? Nun, stellen Sie sich einen achtjährigen Jungen vor. Er gleicht sich mit dem ab, was er in seinem Umfeld erlebt, und da gibt es nicht viele Rollen. Er kann der klügste, der sportlichste oder der witzigste sein. Lesend aber kann er seine Welt erweitern und erfahren, was noch möglich ist. In Klassen, in denen Kinder lesen, erlebe ich eine andere Atmosphäre. Sie sind toleranter, wetteifern weniger, haben mehr Selbstvertrauen. Das treibt mich an: Ich möchte, dass Kinder sich etwas zutrauen und erfahren, dass sie einen Platz in der Welt finden werden und dass sie gut sind, wie sie sind.