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Frühneuhochdeutsch

Nach populärer Auffassung ist Martin Luther der Schöpfer der modernen deutschen Spra-che. Obwohl seine Verdienste für die deutsche Kultur unbestreitbar sind, stimmt die noch im 19. Jahrhundert von Sprachwissenschaftlern vertretene Meinung, Luthers Bibel-Übersetzung sei bahnbrechend für die Entwicklung des Deutschen gewesen, mit den Ergebnissen der modernen Forschung nicht überein. Die Entwicklung des heutigen Deutsch begann schon um 1350, als sich die frühneuhochdeutsche Sprache herauszubilden begann. Die frühneuhochdeutsche Periode in der Entwicklung der deutschen Sprache dauerte bis zirka 1650.

Im Spätmittelalter wurden in der Innenpolitik des Deutschen Reiches die Tendenzen, die zur Dezentralisierung des Staates und Abschwächung der Kaisergewalt führten, fortgesetzt. Im Jahre 1356 wurde das Reichsgesetz, die Gol-dene Bulle Karls IV., erlassen, in der das politische System in Deutschland endgültig geregelt wurde – das Deutsche Reich wurde zu einem Wahlkönigtum, in dem der Kaiser von Kurfürsten gewählt wurde. Trotz der großen Ze-rsplitterung des Reichs und der immer größeren Unabhän-gigkeit der Fürsten, weltlicher und geistlicher Herrscher ein-zelner Staaten im Reich, vertiefte sich das nationale Be-wusstsein der Deutschen weiter – 1442 tauchte zum ersten Mal die Bezeichnung Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation auf.

Handel und Manufakturen erlebten im Spätmittel-alter eine Blüte, besonders im Nordwesten des Reichs – in Flandern und Brabant, deren Städte Brügge, Gent und Antwerpen schon seit Mitte des 13. Jahr-hunderts führende wirtschaftliche Zentren waren. Im 15. Jahrhundert büßten flandrische Städte an Bedeutung ein, und der Schwerpunkt des Handels ging auf den Norden über, wo die Hanse der wichtigste Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung und Ausstrahlung des Deutschtums war. Handelskontakte, die weit über die Grenzen lokaler Territorien hinausgingen, förderten die Ent-wicklung einer einheitlichen, genormten Sprache, die nicht an Dialekte gebunden war.

Einer gemeinsamen Sprache bedurfte auch die Kaiserkanzlei zur Verfassung amtlicher Dokumente. Der Kaiserhof im spätmittelalterlichen Deutschland wechselte im Laufe der Zeit seinen Sitz, was auch auf die Entwicklung der deutschen Sprache Einfluss nahm. Karl IV. aus der Dynastie der Luxemburger residierte im 14. Jahrhundert in Prag, was zu einem starken An-teil bairischer und ostfränkischer Elemente in der an seinem Hofe gebrauchten Kanzleisprache führte. Als die Dynastie der Habsburger die Macht übernahm, wurde die kaiserliche Kanzlei im 15. Jahrhundert nach Wien verlegt, und in der Kanzleisprache gewannen ostoberdeutsche Ele-mente die Vorrangstellung. Im Osten Deutschlands (vor allem im heutigen Sachsen und Thürin-gen) gewannen dagegen seit dem 15. Jahrhundert die Wettiner an Bedeutung. Dies führte dazu, dass um 1500 in Deutschland zwei Varianten der Gemeinsprache miteinander konkurrierten: die ostmitteldeutsche Variante der meißnisch-sächsischen Kanzlei (Sächsische Kanzleisprache) und die oberdeutsche Variante der kaiserlichen Kanzlei (Maximilianische Kanzleisprache, die sich später zur Oberdeutschen Sprache entwickelte), die sich auf unterschiedliche Territorialdialekte stützten. Diese beiden Varianten, wie früher die Sprachen der flandrischen Handelszentren und der Hansestädte, wurden nicht nur im Herrschaftsbereich der Wettiner und Habsburger ange-wandt, sondern fanden auch in anderen Teilen des Reichs Anerkennung.



Im Nordwesten des Reichs kam es dagegen Ende des 16. Jahrhunderts es zu der weiteren Emanzipation der Provinzen der heutigen Niederlande. Im Jahre 1588 schlossen sich sieben Pro-vinzen dieses Raums zu der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen zusammen, die heute das Königreich der Niederlande bilden. Obwohl die Republik zuerst im Rahmen des Heiligen Römischen Reichs der Deutschen Nation blieb und sich erst auf Grund des Westfälischen Frie-dens im Jahre 1648 vom Reich trennte, vertiefte ihre Gründung die Emanzipationsprozesse der niederländischen Sprache. Im Mittelalter noch ein niederfränkischer Dialekt der deutschen Spra-che, entfaltete sie sich Ende der frühneuhochdeutschen Periode zu einer selbstständigen Sprache.

Das Spätmittelalter war durch die Entwicklung der Wissenschaft und Bildung charakte-risiert. Zu nennen ist hier vor allem die Gründung der ersten Universitäten auf deutschem Boden im 14. Jahrhundert. Die erste Hochschule in den Reichsgrenzen war die Universität Prag, ge-gründet von Kaiser Karl IV. im Jahre 1348; ihr folgten die Universität Wien (1365) und die Universität Heidelberg (1386). Obwohl der Unterricht an den Universitäten in lateinischer Spra-che geführt wurde, trugen die Hochschulen zur Vertiefung des Interesses für allgemeines Wissen und somit die deutsche Sprache bei.

Kultur und Bildung wurde auch durch das sich schnell bereichernde und emanzipierende Bürgertum gefördert. Aus dem 15. Jahrhundert datiert die Tradition der Meistersinger, und um 1400 entstand Der Ackermann aus Böhmen von Johannes von Tepl, ein Werk, in dem frühhuma-nistische Konzepte zu finden sind, einhundert Jahre bevor sie in die deutsche Kultur allgemein übernommen wurden.

Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Kultur und des Schrifttums war die Erfindung des Buchdrucks von Johannes Gutenberg um 1446. Diese Erfindung eröffnete ganz neue Perspektiven für die Sprachentwicklung – Bücher waren jetzt preiswerter und erreich-ten einen viel breiteren Bevölkerungskreis als früher. Die Mehrheit der in der frühneuhoch-deutschen Zeit gedruckten Bücher war immer noch in latein-ischer Sprache verfasst (die Zahl der deutschen Drucke über-traf die der lateinischen erstmals 1681), die Bedeutung der deutschen Sprache im Verlagswesen wuchs aber ständig, zumal die Auflagen deutscher Bücher gewöhnlich größer als die der lateinischen waren. Großer Beliebtheit erfreuten sich Volksbücher, wie Till Eulenspiegel (1515) und Historia von D. Johann Fausten (1587). Noch größere Auflagen hatte die Luthersche Bibelübersetzung, von der in den Jahren 1534 bis 1584 ungefähr 100.000 Exemplare gedruckt wurden. Auto-ren, die mit ihren Büchern landesweit auf Leser zielten, konnten nicht in lokalen Dialekten schreiben, sondern mus-sten eine Standardsprache gebrauchen, die überall verständ-lich war. Anfangs gab es noch mehrere Varianten dieser Standardsprache, in denen in verschiedenen Gebieten des deutschen Sprachraums Bücher gedruckt wurden; im 16. Jahrhundert begannen sie sich anzugleichen.

Das Spätmittelalter war die letzte Epoche, in der im phonologischen System der deutschen Sprache wichtige Änderungen erfolgten – gerade diese Änderungen ermöglichten die Herausbildung des Frühneuhochdeutschen aus der mittelhochdeutschen Sprache. Diese Änderun-gen sind in verschiedenen deutschen Dialekten in unterschiedlichem Maß durchgeführt worden. Insbesondere am südwestlichen Rand des deutschen Sprachraums gibt es alemannische Dialekte, wo keine dieser Änderungen Eingang gefunden haben.

Quantitative Änderungen in der Länge der Vokale, die um 1200 im Niederdeutschen einsetzten und sich allmählich nach Süden ausdehnten. Kurze offene Vokale, die in betonter Position standen, wurden gedehnt. So wurden zum Beispiel die mittelhochdeutschen Wörter lěben, gěben, trăgen, bŏte, lĭgen zu frühneuhochdeutschen lēben, gēben, trāgen, bōte, lī(e)gen, welche Aussprache bis heute erhalten blieb. Lange Vokale, denen mehrere Konsonanten folgten, wurden dagegen gekürzt. Aus den mittelhochdeutschen Wörtern dāhte, hērre, klāfter entstanden zum Beispiel die frühneuhochdeutschen Formen dăchte, hěrr, klăfter.

Qualitative Änderungen der Haupttonsilben, die die Diphthongierung und Monophthon-gierung betrafen. Stammsilbenvokale ī, ū, iu wurden zu Diphthongen ei, au, eu. So entwickelten sich zum Beispiel aus den mittelhochdeutschen Wörtern wīse, mūs und triuwe die frühneuhoch-deutschen Formen weise, maus und treue, und zum Beispiel Leute, die in ein neues Haus einzogen, sprachen jetzt nicht über mīn niuwez hūs sondern mein neues haus. Diese Änderung tauchte zuerst im 12. Jahrhundert im Ostalpengebiet auf und breitete sich nach Nordwesten aus. Der niederdeutsche und südwestliche alemannische Raum blieb allerdings davon unberührt; deshalb spricht man heute in der Schweiz nicht Schweizer Deutsch sondern Schwizer Dütsch. Gleichzeitig mit der Diphthongierung verlief die Monophthongierung, ein umgekehrter Prozess, in dem sich die Diphthonge ie, uo, üe, die in betonten Positionen standen, zu den langen Mono-phthongen ī, ū, ü entwickelten. Im Ergebnis des Prozesses wurden die mittelhochdeutschen Wör-ter miete (im Mittelhochdeutschen wurde das Wort [ˈmiə̯tə] ausgesprochen), bruoder und güete zu frühneuhochdeutschen mī(e)te, brūder und güte; und jemand, der Geschwister hatte, konnte sie jetzt nicht liebe guote brüeder sondern lī(e)be gūte brüder nennen. Diese Neuerung breitete sich im mitteldeutschen Raum aus. Im oberdeutschen Raum werden die Diphthonge bis heute verwendet, während der niederdeutsche Raum diese Diphthonge überhaupt nie entwickelt hatte. Einem Wandel unterlagen auch zwei mittelhochdeutsche Diphthonge: ei und ou, wobei zu bemerken ist, dass die erste Buchstabenverbindung im Mittelhochdeutschen nicht wie jetzt ([ai]) sondern [ei] (wie im englischen say) ausgesprochen wurde. Die Diphthonge ei [ei] und ou wur-den im Frühneuhochdeutschen zu ei [ai] und au; zum Beispiel aus stein [stein] entstand die heu-tige Form stein, aus roubraub.

Änderungen im morphologischen System des Frühneuhochdeutschen waren nicht so einschneidend wie in der Phonologie oder Morphologie der früheren Epochen. Änderungen kamen vor allem beim Numerus vor, bei dem verschiedene Mittel zur Kennzeichnung des Plu-rals in Gebrauch kamen. Eine größere Bedeutung gewann der Umlaut, der jetzt auch dort auf-tauchte, wo es, phonologisch gesehen, keine Berechtigung hatte. In der frühneuhochdeutschen Epoche entstanden solche Singular-Plural-Oppositionen wie hof/höfe, stab/stebe, nagel/negele, sohn/söhne. Häufiger wurde der Plural jetzt auch mit Hilfe des Lauts r gebildet, der früher nur ganz selten bei der Pluralbildung benutzt wurde. Während es im Mittelhochdeutschen noch die Formen diu buoch, diu wort (ohne jegliches Suffix) gab, begegnen wir in frühneuhochdeutschen Texten schon den Formen die bücher und die wörter.

Neue Suffixe waren auch für Ableitungen charakteristisch. In der frühneuhochdeutschen Periode erschienen zum ersten Mal die Suffixe -heit, -nis und -unge – die mit ihrer Hilfe gebildeten Wörter waren oft Verdeutschungen lateinischer abstrakter Begriffe, zum Beispiel hōhheit (lat. altitudo), wunderheit (lat. miraculum). Von den Präfixen wurden solche wie be-, ent-, er-, ver-, zer-, abe-, ane-, ūf-, umbe-, uz- und in- oft gebraucht. Neue Suffix- und Präfix-bildungen kamen besonders in der mystischen Literatur dieser Zeit vor, die immer nach neuen Mitteln suchte, abstrakte Begriffe und Gefühle auszudrücken. Der Gebrauch der Suffixe und Präfixe schwankte auch je nach Region des Schreibers oder Sprechers. Während zum Beispiel Luther in seinen Schriften die Präfixe ver-, zer- bevorzugte (die sich später durchsetzten), waren in der frühneuhochdeutschen Sprache, besonders in ihrer ostmitteldeutschen Variante, auch vor-, zu- (zubrochen) geläufig. Von den Suffixen wurde zum Beispiel, insbesondere in der ober-deutschen Variante der deutschen Sprache, das Abstraktsuffix -nus (erkenntnus) gebraucht, das erst später durch das ostmitteldeutsche nis verdrängt wurde.

Die syntaktische Struktur frühneuhochdeutscher Texte kennzeichnet sich durch größere Komplexität als in früheren Epochen; die Sätze wurden länger, mit einem größeren Anteil der Satzgefüge. Diese Tendenz wurde in den nächsten Jahrhunderten fortgesetzt und führte in der Schriftsprache, besonders im 17. Jahrhundert, schließlich dazu, dass literarische und offizielle Texte in ihrer Komplexität und barocken Ornamentik kaum überschaubar waren. Im Frühneu-hochdeutschen war auch schon die moderne Wortfolge der deutschen Sprache erkennbar – mit dem Verb in der Zweitstellung und der Reihenfolge anderer Satzglieder entsprechend ihrer Wichtigkeit im Satz – dem wichtigsten Satzglied am Ende.

Wie in den anderen Entwicklungsstufen des Deutschen kam es im Frühneuhochdeutschen oft zum Bedeutungswandel, der geänderte gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegelte. Hier sind nur drei Beispiele dieser Änderungen angegeben:

FrauJungfrauWeibMagd: In der mittelhochdeutschen höfischen Dichtung wurde das Wort vrouwe nur für adlige Herrinnen und Ehefrauen von Feudalherren benutzt (ent-sprechend bedeutete juncvrouwe junge Edeldamen). Normale Bezeichnungen für Frauen waren wīp und (in Bezug auf junge Mädchen) maget. Im Frühneuhochdeutschen war das Wort wīp schon, wie heute, als ein Schimpfwort empfunden, maget änderte seine Bedeutung und bedeutete nun „Dienstmagd“, vrouwe wurde zu der neutralen Bezeichnung, und im Wort juncvrouwe wur-de die Jungfräulichkeit und Ehelosigkeit zum wichtigsten Bedeutungsbestandteil.

Edel: Im Mittelhochdeutschen war das Wort neutral und bezeichnete lediglich adlige Her-kunft bzw. Dinge aus der Lebenssphäre des Adligen. Jetzt wurde das Wort bei der Beschreibung geistiger und moralischer Qualitäten benutzt.

Eine ähnliche Bedeutungserweiterung erfuhr auch das Wort leie. Seit der Periode des Frühneuhochdeutschen bedeutet es nicht nur „Nicht-Geistlicher“ sondern auch jemand, der auf einem Gebiet keine Fachkenntnisse hat („Laien“ waren zum Beispiel gebildete Bürger, die ihre Ausbildung nicht einem Studium an einer Universität verdankten).

Im Spätmittelalter (im 13. und 14. Jahrhundert) wurden schließlich in Deutschland feste Familiennamen eingeführt. Immer größere Bevölkerungszahlen in Städten bewirkten, dass Ruf-namen nicht mehr ausreichten, um die Einwohner zu identifizieren. Die Familiennamen stamm-ten sehr oft von Berufen (Hofmeister, Schmidt, Müller) aber auch von Eigenschaften der Men-schen (Klein, Lang, Fröhlich), ihrer Herkunft (Beier, Böhme, Schweizer) oder Wohnstätte (An-germann, Bachmann).

Rege Handelskontakte der deutschen Städte mit dem Ausland trugen in der frühneuhoch-deutschen Periode, wie in früheren und späteren Epochen, zur Aufnahme vieler fremdsprach-licher Wörter bei. Im Spätmittelalter kam dem Italienischen besondere Bedeutung zu – auf dem Gebiet des Geld- und Handelsverkehrs war Italien anderen europäischen Staaten weit überlegen. Aus dem Italienischen stammen zum Beispiel solche Wörter wie Bank, Risiko, Golf, Kompass, Kapitän. In der Zeit der Renaissance wurden italienische Einflüsse fortgesetzt, zum Beispiel im Bereich der Musik (Bratsche, Cembalo). Seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts tauchten aber auch im Deutschen immer mehr französische Wörter auf, was Ausdruck der Ausstrahlung der französischen Kultur und der absolutistischen Politik Frankreichs war, deren Vorbildern der deutsche Adel und die deutschen Fürsten zu folgen versuchten. Aus dem Französischen über-nahm man Wörter aus den Bereichen des Hoflebens (Ball, Ballett, Promenade), der Küche (Kompott, Kotelett, Marmelade), der Mode (Frisur, Garderobe, Kostüm) oder des Militärwesens (Armee, Leutnant, Offizier).

Seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts begannen nach Deutschland in starkem Maße die Ideen der Renaissance und des Humanismus durchzudringen. Obwohl diese Strömungen gewöhnlich mit der Rückkehr zum klassischen Latein und der griechischen Sprache der Antike assoziiert werden, trugen sie auch zur Entwicklung der deutschen Sprache bei. Immer mehr Gelehrte verfassten ihre Werke in deutscher Sprache, zum Beispiel Paracelsus, Autor der Schrift Die große Wundarznei (1536). In deutscher Sprache wurden auch historische Werke, wie Ger-mania oder Chronica des ganzen teutschen Landes (1538) von Sebastian Franck, und schließlich theologische Schriften, insbesondere nach Einbruch der Reformation im Jahre 1517, verfasst.

In das 16. Jahrhundert fallen auch Anfänge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der deutschen Sprache, obwohl die die sprachwissenschaftlichen Themen erörternden Werke oft noch in lateinischer Sprache verfasst waren. Die Frucht humanistischer Interessen deutscher Gelehrter waren deutsch-lateinische Wörterbücher, wie Dictionarium latino-germanicum (1535 von Petrus Dasypodius, das erste nach wissenschaftlichen Prinzipien erarbeitete Wörterbuch der deutschen Sprache), oder das gleichnamige Wörterbuch von Johannes Frisius aus dem Jahre 1541. Aus dem 16. Jahrhundert stammen auch erste theoretische Abhandlungen über die deutsche Sprache: Grammatiken (zum Beispiel Ein Teutsche Grammatica von Valentin Ickelsamer aus 1534) und Handbücher der Rechtschreibung (zum Beispiel Orthographia von Fabian Frangk aus dem Jahre 1531).

Nach dem Muster ausländischer Gesellschaften (zum Beispiel der italienischen Acca-demia della Crusca) entstanden in Deutschland auch Sprachgesellschaften, die sich die Pflege der nationalen Sprache und Literatur zum Ziel nahmen. Die erste und bekannteste von ihnen war die 1617 in Weimar gegründete Fruchtbringende Gesellschaft. Die Mitglieder dieser Gesell-schaften sowie Dichter (wie Martin Opitz, Andreas Gryphius, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen) kämpften gegen fremde Einflüsse in der deutschen Sprache und setzten sich für die Verdeutschung von Fremdwörtern ein. Oft waren die von ihnen vorgeschlagenen Foren erfolgreich: aus dem 17. Jahrhundert stammen solche Wörter wie Durchmesser und Erblasser, die die älteren Wörter Diameter und Testator ersetzten. Manchmal wurde das neue, deutsche Wort in das Allgemeingut übernommen, ohne dass das fremde Wort verdrängt wurde (zum Beispiel Bruchstück, Briefwechsel, die anstelle von Fragment und Bibliothek vorgeschlagen wurden); manchmal schlugen aber auch die Vorschläge fehl, wie die Wörter Tageleuchter und Zitterweh, die die Wörter Fenster und Fieber (beide lateinischer Herkunft) ersetzen sollten.

Den Bemühungen der Sprachgesellschaften verdanken wir auch deutsche Entspre-chungen grammatikalischer Begriffe, wie Fall (in der Bedeutung „Kasus“), Geschlechtswort („Artikel“), Hauptwort („Substantiv“) und Rechtschreibung („Orthographie“).

In die Zeit des Frühneuhochdeutschen fallen auch erste Versuche der Formulierung orthographischer Regeln. Zu nennen ist hier vor allem die Frage der Großschreibung der Sub-stantive. Die Annahme der Regel, dass alle Substantive groß geschrieben werden sollen, war ein langwieriger Prozess, der noch in der mittelhochdeutschen Periode eingesetzt hatte, über die ganze Periode des Frühneuhochdeutschen dauerte und erst in der nächsten Periode (im Neu-hochdeutschen – Mitte des 18. Jahrhunderts) weitgehend abgeschlossen war. Anfangs waren nur bestimmte Wörter, insbesondere aus der religiösen Sphäre, durch Setzung in Versalien (zum Beispiel GOtt) hervorgehoben. Der Prozess wurde im 16. und 17. Jahrhundert fortgesetzt; es gab aber hier keine klaren Regeln – Schreiber hoben durch Großschreibung diese Substantive hervor, die sie für wichtig hielten. Die folgende Tabelle zeigt Unterschiede in der Großschreibung in zwei Übersetzungen des Psalms 17:

Luthers Übersetzung (1523) Übersetzung von 1545
Er ist gleich wie eyn / lewe, der des raubs begerd wie eyn iünger lewe / der ym verborgen sitzt. Herr mach dich auff vnd / kom yhm zuor und krume yhn / errette meyne seele von den gottlosen / deyns schwerd Gleich wie ein Lewe / der des Raubs begert Wie ein junger Lewe / der in der hüle sitzt. Herr mache dich auff / vberweldige jn, vnd demütige jn / Errette meine Seele von dem Gottlosen / mit deinem schwert  

Der frühneuhochdeutschen Periode verdanken wir auch die Anwendung der ersten Satz-zeichen, die im Mittelhochdeutschen grundsätzlich noch fehlten. Zuerst bediente man sich nur des Punktes am Ende der Sätze. Um die Atempausen beim Lesen zu betonen, begann man im 16. Jahrhundert auch die so genannten Virgeln (Schrägstriche) anzuwenden, wie in dem folgenden Zitat vom Sendbrief vom Dolmetschen Martin Luthers aus 1530 ersichtlich ist:

… den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischē sprachen fragē / wie man sol Deutsch redē / wie diese esel thun / sondern / man mus die mutter jhm hause / die kinder auff der gassen / den gemeinen mā auff dem marckt drumb fragen / vn den selbigē auff das maul sehen / wie sie reden / vnd darnach dolmetzschen / so verstehen sie es den / vn mercken / das man Deutsch mit jn redet.

Die Schrägstriche wurden durch die heutigen Kommas erst Ende des 17. Jahrhunderts, also schon in der nächsten (neuhochdeutschen) Periode, verdrängt. In die Zeit des 17. Jahrhun-derts fallen auch erste Beispiele der Anwendung des Ausrufezeichens (!), des Fragezeichens (?) und des Semikolons (;).

Nach populärer Auffassung gilt Martin Luther als der Schöpfer der neuzeitlichen deutschen Sprache. Diese Betrachtungsweise geht zum Teil auf die Ansichten und Einschätzung der Rolle Luthers von den Sprachwissenschaftlern im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. So behauptete zum Beispiel Wolfgang Jungandreas im Jahre 1947, dass: Luther überall die entscheidenden Schritte zum Neuhochdeutschen hin gemacht hat, dass wir ihn also mit vollem Recht als den Schöpfer der neuhochdeutschen Schriftsprache ansehen können. Die moderne Forschung schätzt die Rolle Luthers anders ein. Aus der obigen Dar-stellung ist sichtbar, dass die Entwicklung der frühneuhochdeutschen Sprache viel früher, also vor Luther (Mitte des 14. Jahrhunderts) begann; das moderne Neuhochdeutsch datiert dagegen erst seit um 1650, die heutige Entwicklungsstufe des Deutschen begann also ein Jahrhundert nach Luthers Tode.

Andererseits muss der enorme Beitrag Luthers für die deutsche Kultur anerkannt werden, in der seine Bibelüber-setzung auch eine sehr große Rolle spielte. Luther popu-larisierte viele Sprichwörter und bildhafte feste Wendungen (obwohl sie von ihm selbst nicht erfunden waren). Dank Luthers Schriften verwenden wir jetzt zum Beispiel solche Redewendungen wie Stein des Anstoßes, ein Dorn im Auge, sein Licht unter den Scheffel stellen. Durch Luthers Schriften und seine Übersetzung setzten sich auch viele Wörter aus dem ostmitteldeutschen Raum durch, die ihre Entsprechun-gen aus anderen Territorialdialekten verdrängten. Dank ihm sagen wir jetzt zum Beispiel Heuchler, Hügel, Scheune, Kahn – diese von Luther verwandten ostmitteldeutschen For-men ersetzten ihre oberdeutschen Entsprechungen Gleißner, Bühel, Scheuer und Nachen, die heute nur landschaftlich und in der Dichtersprache zur Anwendung kommen. Bei Luther finden wir auch Beispiele der ersten Verwendung von Wör-tern in neuen Bedeutungen, die späte in die Standardsprache übergingen. Dazu gehören zum Beispiel anfahren (in der Be-deutung „in heftigem Ton zurechtweisen“), verfassen („schriftlich nieder-legen“) oder fromm (das früher „tüchtig, rechtschaffen“ bedeutete und erst bei Luther in der Bedeutung „gläubig, religiös“ benutzt wurde).

Luthers Beitrag für die Entwicklung der deutschen Sprache ist also unbestreitbar, obwohl die Betrachtungsweise seiner Bibelübersetzung – als eine neue Epoche eröffnend – dem Stand der modernen Forschung nicht mehr standhalten kann.

Ende der frühneuhochdeutschen Periode begannen, nicht zuletzt dank der Arbeit und Bemühungen der Wissenschaftler, Dichter und Humanisten, die Unterschiede zwischen verschie-denen Literatursprachen, die in verschiedenen Regionen Deutschlands im Gebrauch waren, zu verschwinden. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts existierten in Deutschland zwei Varianten der Standardsprache – die im Einflussbereich der Wettiner im mittleren Osten und die im Ein-flussbereich der Habsburger im Südosten – die auch in anderen Teilen des Landes Anerkennung fanden. Ende des Jahrhunderts war schon die Vorrangstellung der ostmitteldeutschen Sprache sichtbar, unter anderem dank der Reformation, die in dieser Region ihren Anfang nahm und sich dort besonders gut entfaltete. Die Literatursprache des Wettiner Raums gewann immer mehr an Bedeutung; sie eroberte allmählich sowohl den katholischen Süden, als auch den Norden Deutschlands, wo sie zur Sprache der Bildung und der Literatur wurde, im Gegensatz zu den niederdeutschen Mundarten, die von den dort lebenden Einwohnern vor allem im Alltagsleben benutzt wurden (und werden). Schließlich wurde die ostmitteldeutsche Sprache auch in der Lite-ratursprache der Schweiz akzeptiert, obwohl das erst in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts erfolg-te. Die obigen Entwicklungstendenzen waren natürlich viel komplizierter, als hier dargestellt. Trotz der Vorrangstellung der ostmitteldeutschen Variante kann man nicht feststellen, dass sie Ende der frühneuhochdeutschen Periode schon völlig die Funktion der Gemeinsprache der Deutschen in dem heutigen Sinne des Wortes übernahm.

Die Zahl erhaltener frühneuhochdeutscher Texte ist sehr groß und übersteigt die aus früheren Perioden weit. Dies war unter anderem dank der Druckerfindung möglich, wodurch Bücher und Flugschriften in großen Auflagen verlegt wurden. Weiter folgen nur zwei Beispiele frühneuhochdeutscher Literatur.

Der Ackermann aus Böhmen von Johannes von Tepl (um 1400)

Grimmiger tilger aller lande, schedlicher echter aller werlte, freissamer morder aller guten leute, ir Tot, euch sei verfluchet! got, ewer tirmer, hasse euch, vnselden merung wone euch bei, vngeluck hause gewaltiglich zu euch: zumale geschant seit immer! Angst, not vnd jamer verlassen euch nicht, wo ir wandert; leit, betrubnuß vnd kummer beleiten euch allenthalben; leidige anfechtung, schentliche zuversicht vnd schemliche verserung die betwingen euch groblich an aller stat; himel, erde, sunne, mone, gestirne, mer, wag, berg, gefilde, tal, awe, der helle abgrunt, auch alles, das leben vnd wesen hat, sei euch vnholt, vngunstig vnd fluchend ewiglichen! In bosheit versinket, in jamerigem ellende verswindet vnd in der vnwiderbringenden swersten achte gotes, aller leute vnd ieglicher schepfung alle zukunftige zeit beleibet! Vnuerschampter bosewicht, ewer bose gedechtnuß lebe vnd tauere hin on ende; grawe vnd forchte scheiden von euch nicht, wo ir wandert vnd wonet: Von mir vnd aller menniglich sei stetiglichen vber euch ernstlich zeter geschriren mit gewundenen henden!

Vorrede Martin Luthers zu seiner Übersetzung des Neuen Testaments (1522)

Es were wol recht vnd billich, das dis buch on alle vorrhede vnnd frembden namen außgieng, vnnd nur seyn selbs eygen namen vnd rede furete, Aber die weyl durch manche wilde deuttung vnd vorrhede, der Christen synn da hyn vertrieben ist, das man schier nit mehr weys, was Euangeli oder gesetz, new oder alt testament, heysse, fodert die noddurfft eyn antzeygen vnd vorrhede zu stellen, da mit der eynfelltige man, aus seynem allten wahn, auff die rechte ban gefuret vnd vnterrichtet werde, wes er ynn disem buch gewartten solle, auff das er nicht gepott vnnd gesetze suche, da er Euangeli vnd verheyssung Gottis suchen sollt.

Darumb ist auffs erste zu wissen, das abtzuthun ist der wahn, das vier Euangelia vnd nur vier Euangelisten sind, vnd gantz zuverwerffen, das etlich des newen testaments bucher teyllen, ynn legales, historiales, Prophetales, vnnd sapientiales, vermeynen damit (weyß nicht wie) das newe, dem alten testament zuuergleychen, Sondern festiglich zu halten, das gleych wie das allte testament ist eyn buch, darynnen Gottis gesetz vnd gepot, da neben die geschichte beyde dere die selben gehallten vnd nicht gehallten haben, geschrieben sind, Also ist das newe testament, eyn buch, darynnen das Euangelion vnd Gottis verheyssung, danebe auch geschichte beyde, dere die dran glewben vnd nit glewben, geschrieben sind, Also das man gewisß sey, das nur eyn Euangelion sey, gleych wie nur eyn buch des newen testaments, vnd nur eyn glawb, vnd nur eyn Gott, der do verheysset.

Denn Euangelion ist eyn kriechisch wortt, vnd heyst auff deutsch, gute botschafft, gute meher, gutte newzeytung, gutt geschrey, dauon man singet, saget vnd frolich ist, gleych als do Dauid den grossen Goliath vberwand, kam eyn gutt geschrey, vnd trostlich newtzeyttung vnter das Judisch volck, das yhrer grewlicher feynd erschlagen, vnd sie erloset, zu freud vnd frid gestellet weren, dauon sie sungen vnd sprungen vnnd frolich waren, Also ist dis Euangelion Gottis vnnd new testament, eyn gutte meher vnd geschrey ynn alle wellt erschollen durch die Apostell, von eynem rechten Dauid, der mit der sund, tod vnnd teuffel gestritten, vnd vberwunden hab, vnnd damit alle die, ßo ynn sunden gefangen, mit dem todt geplagt, vom teuffel vberweldiget gewesen, on yhr verdienst erloset, rechtfertig, lebendig vnd selig gemacht hat, vnd da mit zu frid gestellet, vnd Gott wider heym bracht, dauon sie singen, dancken Gott, loben vnd frolich sind ewiglich, ßo sie des anders fest glawben, vnd ym glawben bestendig bleyben.

Lutherbibel Luther-Bibel, Ausgabe aus 1567

Neuhochdeutsch

Die Entwicklung der modernen deutschen Sprache datiert seit um 1650, also seit Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Im phonologischen und morphologischen System erfolgten in dieser Zeit nur geringfügige Änderungen – die Sprache der 2. Hälfte des 17. und des 18. Jahrhunderts ist grundsätzlich dieselbe, die wir heute sprechen. Größeren Wandel erfuhr in dieser Periode von etwa 350 Jahren der Wortschatz der deutschen Sprache, und zwar durch kontinuierliche Ände-rungen im politischen und gesellschaftlichen Leben und durch den enormen Fortschritt der Wiss-enschaft und Technik. Neue Wörter wurden geprägt oder sie änderten ihre Bedeutung, Fremd-sprachen übten auch Einfluss auf die deutsche Sprache aus.


Date: 2015-12-24; view: 3336


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Merseburger Zaubersprüche | Die deutsche Sprache von 1650 bis Ende des 18. Jahrhunderts
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