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Jetzt gnade euch Gott!

Wolzow hing unbeweglich an der Brunnenfigur. Die SS-Männer standen scharf und deutlich auf dem Visier. Holt zog ab. Ein Feuerstoß schmetterte heraus. Es war soweit. Die Rechnung wurde beglichen, für die Sägemühle, für die Gestreiften, für Gundels Eltern... Ihm war, als falle die Vergangenheit wie eine Last von ihm ab.

Die erste Garbe warf drei oder vier SS-Männer vor dem Brunnen nieder. Die zweite Garbe faßte Wehnert und einen bulligen Kerl und Meißner, und Wehnert schlug über den Brunnenrand, während Meißner aufs Pflaster stürzte. Die an­deren sprangen mit Panthersätzen in die Ruinen. Aber da stieb­ten vor dem Kellerloch Sand und Steinsplitter auf. Holt war schon entdeckt worden und erhielt von allen Seiten Feuer. Vor­sicht, die sind gefährlich, die haben Routine! Da krochen sie schon näher. Aber ich bin auch gefährlich, ich stell mich tot. Das MG schwieg. Fünf, sechs Mann sprangen aus den Trüm­mern und stürmten heran. Die Garbe faßte sie und warf sie zu Boden. Kommt doch, kommt!

Aber die SS war auf einmal unkonzentriert. Holt sah die versteckten Gestalten nach rechts feuern, als vermuteten sie auch dort einen Gegner. Holt schoß. Die SS erwiderte das Feuer. Dreck stiebte vor dem Fenster auf. Holt legte einen neuen Gurt ein.

Da hackte Vetters Maschinenpistole los, hinten, wo der Kel­lergang in den Garten mündete. Vetter schrie: „Die Amiiiis!“

Die Amis? Holt feuerte auf einen SS-Mann, der von rechts nach links über den Markt floh und im Laufen das Gewehr fallen ließ, ehe er auf das Pflaster stürzte. Schieß auf die SS! Schieß um dich, wo immer sich was rührt. Das Ende ist da. Nur Gundel hätt ich gern noch einmal wiedergesehn. Die Garbe jagte einen fliehenden SS-Mann um die Ecke. Holt sprang auf den Kellerboden. Im Garten peitschten Schüsse. Ausbruch. Nicht im Keller sterben. Er lief in den Garten. Da war kein Vetter mehr. Zwischen den Büschen huschten khakifarbene Gestalten. Holt prallte mit einem Ame­rikaner zusammen, beide fielen zu Boden, jemand trat ihm auf den ausgestreckten Arm und entwand ihm die Pistole, man überwältigte ihn.

 

 

AUSKLANG

Das erste Lager war irgendwo in Thüringen, auf einer Wiese, ein Quadrat, mit Pfählen abgesteckt, ein Draht­seil von Pfahl zu Pfahl, und zweitausend Gefangene, Offiziere und Mannschaften in buntem Durcheinander aller Waffen­gattungen; unter ihnen Holt, seit mehr als vierundzwanzig Stunden ohne Nahrung, ohne Wasser.

So lag er auf dem Erdboden, in die Zeltbahn gewickelt. Es gab Fälle von Ruhr. Die Krankheit griff um sich. Der Himmel wölkte sich zu. Nun fiel Regen. Ein feiner, eiskalter Land­regen.

Das zweite Lager faßte fünfundzwanzigtausend Gefangene, ein umgepflügter Acker, von Stacheldraht umgeben. Es reg­nete. Der Acker war aufgeweicht. Die Gefangenen versanken bis zu den Knien. Keine Verpflegung. Auch hier diente ein Bach, der durchs Lager flöß, als Wasserleitung und Latrine zugleich. Ruhr und schwere Brechdurchfälle verschonten nie­manden. Es gab die ersten Toten.



Holt saß im nassen Acker, die Knie unter das Kinn ge­zogen, die triefende Zeltbahn über dem Kopf. Der Abend sank. Der Regen versiegte. Der Schlamm gefror in hereinbrechen­dem Frost. Der Körper erstarrte. Es ging zu Ende mit dem, was einmal Werner Holt gewesen war, Luftwaffenhelfer, Ar­beitsmann, Panzerschütze.

Seit er sich entwaffnet in der Gewalt der Amerikaner wie­dergefunden hatte, war die Anspannung nicht gewichen. Vor seinen geschlossenen Augen waren die Bilder in Flammen zum Himmel aufspringender Panzer, Toter, Verstümmelter, mit grauenhafter Deutlichkeit, Visionen einer zusammenbrechen­den Welt. Erinnerungen: Feuernacht, Sagemühle, Gestalten im Drillich ... Die Bilder erloschen, Schleier zogen darüber hin.

Grauer Himmel, rieselnder Regen. Gefangene, Rücken an Rücken gelehnt, im Schlamm. Stille. Ein Posten jenseits des Stacheldrahtes wischte sich das triefende Gesicht. Der Gewehr­lauf klirrte gegen den Helmrand.

Holt horchte: Rauschen des Regens, sonst nichts. Er horchte in sich hinein: Leere, nichts als Leere. Er legte den Kopf in den Nacken. Der feine Sprühregen traf sein Gesicht. Vor den Augen trieben Wolken, eintönig grau. Der letzte Gedanke fror ein.

Gleichgültigkeit blieb. Dumpfe Triebhaftigkeit ersetzte bewußtes Handeln. Sinnlose Gerüchte weckten Erregung und Enttäuschung, aber Holt nahm keinen Anteil daran. Die ver­bürgte Kunde von bedingungsloser Kapitulation interessierte ihn kaum, die durchsickernden Nachrichten von den Umsiedlungsaktionen im Osten drangen nicht in ihn hinein. Ein Prozeß des langsamen Dahinsterbens umgab ihn. Hunger- und Typhustod weckten die Erinnerung an unvorstellbares Leid und Elend... Stumm erlebte er die Agonie der Verhungern­den.

Namen von Lagern: Heidesheim, Kreuznach, Büdesheim ... Ein Gelände von Weinbergen und brachliegenden Äckern, Stacheldraht, achtundzwanzig Camps, breite Lagerstraßen, dreihunderttausend Gefangene. Sie lagerten auf dem blanken Erdboden, wühlten mit bloßen Händen Mulden und Löcher, schliefen wie Tiere eng aneinandergepreßt. Regen fiel, immer mehr Regen, nasser Schnee, es fror und taute und fror. Im Mai zog endlich anhaltende Trockenheit über das Lager. Da waren die alten Männer in den Volkssturmuniformen schon zu Hunderten zugrunde gegangen.

Der Durchfall mergelte Holt aus, der ewige Hunger ver­wandelte ihn langsam in ein Skelett. Aber er widerstand dem Typhus, der die Camps lichtete. Der Hunger verwandelte die Gefangenen in Tiere.

Holt bot ein Bild menschlichen Verfalls. Das Haar verfilzte, der Bart wucherte. Die Uniform umschlotterte den ausge­zehrten Körper. Trotz Ruhr und Durchfall hatte er sich wo­chenlang nicht reinigen können. Er verstreute Händevoll Chlor­kalk in seiner Kleidung. Der ständige Chlorgestank stumpfte seine Sinne ab, die Haut reagierte mit Entzündung und Aus­schlag. Er hockte stundenlang auf dem Boden. Nur der Nah­rungsempfang trieb ihn hoch. Selten stand er am Zaun, denn er war zu schwach, die Schlägerei um einen Zigarettenrest durchzustehen.

Der Juni brachte Regenfälle, dann drückende Hitze. Die Hitzewelle zermürbte Holt vollends. Er verbrauchte seine Kraft beim Anstehen nach Wasser. Die Ereignisse drangen kaum in sein Bewußtsein. Das Nachbarcamp leerte sich. Neue Gerüchte von Entlassung, von Arbeit in belgischen Kohlengru­ben liefen um.

Holt lag auf dem heißen, vor Trockenheit rissigen Boden, über ihm der endlose Himmel. Ringsum Stacheldraht. Daß jenseits des Zaunes eine Welt mit Dörfern und Städten sei, mit Menschen in Freiheit, das wußte er nicht. Es war unvor­stellbar.

Die Kräfte verfielen mehr und mehr, aber Holt begann wie­der zu denken, nicht logisch, nicht folgerichtig, er trieb viel­mehr ein verworrenes Spiel mit Bruchstücken von Gedanken, Erinnerungen und alten Bewußtseinsinhalten, die aus der Ver­gessenheit emportauchten. Das fiebrige Grübeln verlor rasch den Gegenstand. Aber aus der Vergangenheit hoben sich un­aufhörlich Bilder, unscharf, verschwommen, ohne Konturen ... Immer neue Gerüchte: Entlassung, Übergabe an die Franzo­sen ... Holt blieb in der Nähe des Lagertors, schlief dort und entfernte sich nur zum Verpflegungsempfang. Er wartete, auf irgend etwas.

Nichts geschah.

Die Mittagssonne brannte.

Das Sonnenlicht, das auf seine geschlossenen Lider stach, zauberte feurige Ringe auf die Netzhaut. Er fror, in der Glut­hitze des frühen Nachmittags, und das Kältegefühl beseitigte die Benommenheit.


Date: 2015-12-24; view: 919


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