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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 1 page

„Los, Antwort!“

„Ich war in einem Dorf im Kreis Wesel... es heißt Dingden. Dort hab ich in einem Gasthof gewohnt. Gasthof ,Zur Quelle’.“

„Haben Sie sich dort gemeldet?“

„Ins Gästebuch eingetragen und ausgewiesen, Obersturm­führer.“

Eine Handbewegung nach links, und der Zivilist hinter dem Schreibtisch nickte und notierte. Sie werden das nach­prüfen, dachte Holt, verdammt, da steht ja auch Gerties Name im Gästebuch! Aber was will er nur von mir, das sind doch alles nur Randfragen ...

„Kennen Sie einen Oberst Barnim?“

„Jawohl, Obersturmführer, das heißt, nein ...“

„Was denn nun: ja oder nein?“

Das war die entscheidende Frage, Holt fühlte es genau. Schon lief unter dem Stahlhelm Schweiß hervor und rann übers Gesicht. „Ich kenne ihn nicht persönlich, Obersturmführer, ich habe ihn nie gesehen oder gesprochen.“

„Wen kennen Sie aus seiner Familie?“

„Die beiden Töchter, Obersturmführer. Die älteste Toch­ter kenne ich persönlich, die jüngere nur so vom Sehen.“

„Die älteste Tochter heißt Uta?“

„Jawohl, Obersturmführer.“

„Wann waren Sie mit ihr das letztemal zusammen?“

„Im September, Anfang September vorigen Jahres, Ober­sturmführer.“

„Wo bewahren Sie die Briefe auf, die sie Ihnen seither geschrieben hat?“

Holt schluckte. „Im Spind, Obersturmführer.“

Eine verbindliche Handbewegung zu Kutschera. „Gottes­knecht!“ brüllte Kutschera. In Holts Rücken ging die Tür. „Herr Hauptmann?“ Der Obersturmführer sagte zu Holt: „Erklären Sie, wo die Briefe liegen!“

Holt blickte auf Gottesknecht. „Mein Spind ist offen... Oben links... eine Mappe, die Briefe sind zusammengebun­den ...“

„Bringen Sie die ganze Mappe!“ sagte der Obersturmfüh­rer. Die Tür fiel ins Schloß. Ehe Holt einen Gedanken fassen konnte, ging die Fragerei weiter.

„Kennen Sie einen Leutnant Kiefer?“

Holt überlegte. Kiefer, Kiefer, warte doch mal...

„Antworten Sie!“

„Ich habe einmal in einer Gesellschaft einen Leutnant ge­troffen, der mit Uta Barnim verlobt war. Ich komm nicht mehr drauf, ob er Kiefer hieß. Kann sein. Er war von der Panzer­truppe.“

„Wann war das?“

„Voriges Jahr im Juli, Obersturmführer.“

„Was war das für eine Gesellschaft?“

„Die Schwester eines Klassenkameraden hatte Geburtstag. Ich kam zufällig dazu.“

„Wie heißt dieser Klassenkamerad?“

„Wiese, Obersturmführer.“

Blick auf Kutschera. Kutschera bewegte verneinend den Kopf. Handbewegung nach links, der Zivilist notierte. „Kann­ten Sie damals die Barnim schon?“

„Nein, Obersturmführer. An diesem Nachmittag hab ich sie kennengelernt.“

An diesem Nachmittag... unvergeßlicher Augenblick! Holt fühlte sich elender als je zuvor, fast kam ihm ein Weinen an.

Die Tür knarrte, Gottesknecht sagte: „Befehl ausgeführt!“ und legte Holts Schreibmappe auf den Rauchtisch. Der Ober­sturmführer nahm die Briefe heraus und blätterte sie durch, es war ein ansehnlicher Packen.



„Sind das alle Briefe, die sie Ihnen geschrieben hat?“

„Jawohl, Sturm ... Verzeihung, Obersturmführer.“

„Fehlt keiner?“

„Nein, Ober ... stürm ... führer.“

„Was ist los?“

„Nichts, Obersturmführer.“

„Die Briefe sind beschlagnahmt.“ Nun wurde die Mappe durchgesehen, aber sie enthielt nur unbeschriebenes Papier. Handbewegung nach links, der Zivilist erhob sich und verließ grußlos die Baracke.

Der Obersturmführer richtete den Blick prüfend auf Holt, einen scharfen, durchdringenden Blick aus hellgrauen Augen. Holt hielt diesem Blick stand. Aber in seinem Inneren breitete sich ein Schwächegefühl aus, das seine Knie beben ließ. Die Stimme des Obersturmführers klang sehr nahe: „Wissen Sie, wo die Barnim sich aufhält? Können Sie uns einen Hinweis geben, wo sie sich vielleicht aufhalten könnte?“

„Ich habe wirklich keine Ahnung, Obersturmführer“, sagte Holt, und seine Stimme zitterte.

„Sollte die Barnim Ihnen in Zukunft irgendwelche Nach­richt geben, gleichgültig ob brieflich oder telefonisch oder sonstwie, sollten Sie auf irgendeine Weise von ihr hören oder etwas über ihren Aufenthalt erfahren, so haben Sie sofort der Geheimen Staatspolizei, der Polizei oder Feldgendarmerie, not­falls Ihrem Vorgesetzten davon Mitteilung zu machen unter Hinweis darauf, daß nach der Barnim gefahndet wird. Haben Sie verstanden?“

„Jawohl, Obersturmführer.“

„Nehmen Sie Haltung an!“ Holt zog die Hacken zusammen.

„Hiermit belehre ich Sie darüber, daß Sie sich selbst der schwersten Bestrafung aussetzen, falls Sie im angenommenen Fall eine Meldung unterlassen.“

„Jawohl, Obersturmführer.“

Der Obersturmführer wandte sich an Kutschera. „Ich bin fertig, Hauptmann Kutschera.“ Kutschera bellte: „Haun Sie ab, Mensch, und halten Sie gefälligst den Mund.“

Holt bewegte sich nicht. Er preßte verzweifelt die Hände an die Hosennaht. „Herr Hauptmann... Ich bitte, eine Frage an den Obersturmführer...“ – „Da müssen Sie doch nicht mich fragen“, schimpfte Kutschera. Der Obersturmführer sah Holt befremdet an.

„Was wollen Sie?“

„Ich bitte fragen zu dürfen“, sagte Holt mühsam, denn Gewißheit wollte, nein mußte er haben, „ob ... ob Uta Barnim ... Ob der Oberst Barnim ...“

„Der Oberst Barnim“, sagte der Obersturmführer drohend und schnell, „ist erschossen worden.“

Ist erschossen worden. Erschossen.

„Und Sie als Deutscher sollen sich Ihr Lebtag schämen, mit diesem Abschaum bekannt gewesen zu sein!“ Kutschera: „Und jetzt raus, Sie, aber schnell!“

Gruß. Kehrtwendung. Tür auf. Tür zu. Die Sonne scheint. Sie steigt aus den Dunstbänken empor. Alles geht weiter. Um acht wird geweckt. Auch ich werde geweckt, und alles war nur ein böser Traum. Zemtzki ist noch am Leben, es gibt keine Short Stirling mehr, keine Kanone und keinen Stubendienst. Es ist alles wieder wie in fernen Kindertagen, als der Vater tröstend sagte: Nein, böse Hexen gibt’s nur im Märchen ... Und was dazwischen liegt, zwischen dem fernen Gestern und dem Jetzt, das ist nur ein Traum gewesen. Alles ist nur ein Traum. Hab nur Vertrauen: Wenn der Traum auch drückend ist, einmal wird das Wecksignal geblasen, dann fällt ins Dunkel zurück, was dich bedrückte, und du lachst darüber und schüttelst es ab.

Holt ging zum Geschütz Berta. Als gegen sieben Gefechts­schaltung befohlen wurde, hatte er sich wieder in der Gewalt. Wolzow nahm ihn beiseite. Holt sagte: „Ich mußte ein paar Auskünfte geben. Es ist uninteressant und hat nichts mit uns hier zu tun.“

Wolzow sagte: „Na schön, dann eben nicht.“

Der übliche Morgenaufklärer steuerte den süddeutschen Raum an. Dann folgten Kampfverbände und warfen im Raum Bremen Bomben. Gegen elf hieß es: „Starke Jagdverbände im Anflug auf den Raum Köln – Essen.“ Die Untergruppe warnte vor Tieffliegern. Holt gab alle Durchsagen unbewegt weiter. Wolzow und Gomulka redeten auf die Schlesier ein, die jede Warnung vor Tieffliegern in Panik stürzte. Dorsten, Haltern und Lünen meldeten Tiefangriffe auf verschiedene Ziele, auch auf Flakbatterien. Vetter wechselte mit einem der Schlesier den Platz und setzte sich an die Seitenrichtmaschine. Wolzow wickelte den leuchtend weißen Verband vom Kopf und drückte den Stahlhelm in die wunde Stirn. Reckling­hausen und Dinslaken meldeten Tiefangriffe, dann Moers, Krefeld und Düsseldorf. „Gleich sind sie da!“ sagte Holt. Gottes­knecht gab einen Rundspruch: „Nehmt volle Deckung!“ Wol­zow sagte: „Ich schieß Nahfeuer, und wenn ich krepier!“

Sie waren da. Sie stießen vom Himmel, rasten am Horizont entlang, sehr tief. Fern sprang eine riesige Feuersäule hoch, „Öl!“ schrie Wolzow. „Die Raffinerien von Gelsenkirchen!“ Irgendwo schoß eine schwere Batterie und verstummte wieder. Fern hämmerte Zweizentimeterflak. Eine Kette einmotoriger Maschinen flog von Norden heran und stieß auf die Bat­terie herab. Sie drosselten die Motoren und flogen so niedrig, daß sie beim Abflug über das Wäldchen hinwegspringen mußten. Sie wendeten und flogen von neuem an, drei Mustangs. Erst warfen sie ihre Bomben, dann feuerten sie mit Raketen und Bordwaffen auf die B 2 und die Geschützstände. Wild und hemmungslos kurvten sie über der Batterie.

Zwei Geschütze schössen Nahfeuer. Cäsar verstummte nach zwei oder drei Schuß. Berta feuerte sinnlos weiter. Die Jagdbomber flogen immer wieder den Geschützstand an. Einer der Schlesier fiel über einen Holm, Wolzow schleifte ihn zur Seite. Er lud und feuerte. Dann fiel Vetter vom Sitz der Seiten­richtmaschine, und auch Berta verstummte. Die Jagdbomber zogen steil in die Höhe und verschwanden.

Holt und Gomulka bemühten sich um Vetter. Ein Splitter hatte den Stahlhelm getroffen, ohne ihn zu durchschlagen. Vetter erlangte bald wieder das Bewußtsein. „Mensch, du überlebst uns alle!“ sagte Wolzow. Er drehte den Schlesier auf den Rücken, dann warf er die Persenning über ihn. Gomulka nahm den Stahlhelm ab und sagte „Jetzt wird es gottver­dammt Zeit, daß wir Urlaub bekommen!“ Holt rief: „Starke Kräfte der in den Raum Bremen eingeflogenen Kampfverbände sind nach Südwesten abgedreht. Mit Bombenabwürfen im westfälischen Gebiet ist zu rechnen.“ Gomulka setzte den Stahl­helm wieder auf. Wolzow trieb die demoralisierten Schlesier ans Geschütz. Im Norden setzte schweres Flakfeuer ein. Vet­ter lehnte in einer Ecke und hielt sich den Kopf. „Du mußt mit­machen“, schrie Wolzow, „wir sind nur drei Munitionskano­niere!“ Die Bomber flogen nordwestlich vorbei und warfen Bomben auf Duisburg. Die Batterie feuerte. Gegen fünfzehn Uhr wurde die Gefechtsschaltung aufgehoben, eine Stunde später flogen abermals Aufklärer ein, Bomberströme folgten, Jagdverbände und wieder Bomber. Die Jungen blieben sechs­unddreißig Stunden lang am Geschütz. Anschließend hatten sie ein paar Stunden Ruhe.

„Das geht so weiter“, sagte Gomulka zu Holt. „Das wird nicht besser, das nimmt kein Ende.“ Holt antwortete nicht.

 

14.

Sie hausten zu viert in der kleinen Stube, bis Gottes­knecht alles durcheinanderbrachte. Baracke Berta wurde ge­räumt für den Ersatz, der nun jeden Tag eintreffen sollte. „Sie dürfen sich aussuchen, wen Sie zu sich in die Stube nehmen wollen“, sagte Gottesknecht, „wie bin ich wieder mal zu Ihnen?“ Sie entschieden sich für Kirsch und Branzner. Beide hatten anfangs zur Stammbedienung Anton gehört, waren zu Dora übergewechselt und taten nun seit dem Ausfall zweier Geschütze des Nachts bei Berta Dienst. „Die beiden sind in Ordnung“, sagte Wolzow. Gomulka sagte zu Holt: „Aber der Branzner steckt in der letzten Zeit dauernd mit Kieback zusammen, und mit denen...“ – „Seit dem letzten Tiefan­griff“, meinte Holt, „ist die ganze Batterie so... fanatisch. Der Angriff hat eine wahre Erbitterung ausgelöst.“ – „Ich möchte mal wissen, wieso?“ sagte Wolzow. „Wir sind doch ein militärisches Ziel. Das ist doch in Ordnung, wenn sie uns angreifen!“ – „Seit dem Attentat haben alle die Übersicht verloren“, sagte Gomulka. Wolzow erzählte: „Gestern abend hat Kutschera die Obergefreiten schleifen lassen, weil der deutsche Gruß immer noch nicht klappt!“

Branzner erwies sich als eine „äußerst zweifelhafte Errun­genschaft“, wie Gomulka am Morgen nach dem Einzug zu Holt sagte. Unter dem Eindruck der Zeitereignisse, als Reak­tion auf die blutigen Gefechte, hatte Branzner sich sehr ver­ändert. Er sah, wie er schon am ersten Abend beiläufig erklärte, den einzigen Garanten des Endsieges darin, allen Anstrengungen des Feindes den unerschütterlichen und fanatischen Glauben an die Sendung des Führers und die Ewigkeit des Reiches entgegenzusetzen. Natürlich gab es gleich Streit.

Wolzow hörte sich Branzners Erklärung an, mit schräg­gelegtem Kopf. Holt dachte: Da haben wir ja Ziesche wieder! Aber Branzner übertraf Ziesche noch, denn er war redseliger und wortgewandter, wenn er auch seines schwarzen Haares wegen weniger von Rasse sprach und der völkisch-rassische Gedanke nur gelegentlich in seinen Argumenten Platz hatte.

„Hör mal zu“, sagte Wolzow auf Branzners program­matische Erklärung. „Unerschütterlichkeit, Fanatismus ...“. Er brach ab und dachte nach. „Wenn einer ein bißchen bekloppt ist, verstehst du, beschränkt, eben dämlich, wie so die meisten sind, dann ist der fanatische Glaube ein ganz brauchbares Mittel, ihn bei der Sache zu halten. Ohne diesen Glauben würden die meisten immerfort aus den Pantoffeln kippen, weil sie keine kriegerische Tugend haben und weil ihnen die höhere Einsicht fehlt. Aber unsereins? Angenommen, der Krieg wäre verloren, so eindeutig verloren, daß es ein Blinder sieht: ich würde trotzdem weiterkämpfen, ohne fanatischen Glauben, ganz einfach weil sich das für einen Soldaten gehört. Was anderes gibt es gar nicht. Hör zu, Branzner! Was meinst du wohl, warum wir neulich als einzige Kanone Nahfeuer ge­schossen haben, während ihr samt eurem Glauben schön flach­gelegen habt? Etwa weil ich fanatisch glaube, daß das was nützt? Quatsch. Nahfeuer nützt gar nichts. Aber es gehört sich so!“ Wolzow redete sich in Eifer. „Ein Soldat muß kämpfen, ohne Frage, ob es einen Sinn hat oder keinen! Ein Soldat ist zum Kämpfen da, zu nichts anderem! Dein Glaube, mein Lie­ber, ist eine verdammt unsichere Sache, er kann in die Binsen gehn, und dann sitzt du da und schnappst nach Luft! Bei mir kann nichts in die Binsen gehn. Bei mir heißt es: Der Soldat hat zu kämpfen. Also wird gekämpft.“

Was Wolzow sagte, gefiel Holt besser als die Forderung nach blindem, fanatischem Glauben. Jetzt wußte er auch, wo Wolzow seine Ruhe hernahm. Er dachte: Leicht ist das nicht, so zu denken wie Wolzow, ohne irre zu werden. Da muß man wohl seit 1750 aktive Offiziere zu Vorfahren haben.

„Kämpfen als Selbstzweck“, sagte Gomulka, „halten wir das mal fest. Kampf ist für dich Selbstzweck, Gilbert, und das läßt sich hören. Mit dieser Einstellung brauchst du keinen Glauben an den Endsieg oder an den Führer. Aber einen Ein­wand forderst du geradezu heraus. Es ist ein Widerspruch in deiner Auffassung.“ Er furchte die Stirn, so angestrengt dachte er nach. „Du hast uns oft genug die Fehler erklärt, die in der Vergangenheit von Feldherren begangen wurden. Terentius Varro, Daun und Karl von Lothringen bei Leuthen, du kannst also nicht abstreiten, daß du einen Zweck des Kampfes an­erkennst: den Sieg. Wird deine Überzeugung nicht in dem Augenblick in die Brüche gehn, wo der Kampf aussichtslos ist?“

„Ach wo, ganz und gar nicht! Natürlich, der Kampf soll zum Sieg führen, der Sieg ist das Salz aufs Brot des Krieges. Solange eine Möglichkeit besteht zu siegen, so lange wird um den Sieg gekämpft. Aber man kann auch um eine Remis-Lö­sung kämpfen. Und wenn die Lage aussichtslos ist, dann wird gekämpft, weil sich das so gehört.“

Holt brütete vor sich hin. Wolzows Worte riefen die Er­innerung an ein Buch in ihm wach, an Ernst Jüngers „Das Wäldchen 125“. Eine Stelle in diesem Buch hatte ihn damals beeindruckt, und jetzt war sie gegenwärtig. Er sagte: „Ich glaube, Gilbert hat die... die echte soldatische Haltung.“ Er zitierte, was aus der Vergessenheit aufgetaucht war: „,Aber ein höchstes Gesetz erfüllt, wer in einsamer Nacht und auf verlorenem Posten fällt. Ihrer wird man gedenken, wo immer man die Bitterkeit des Unterganges liebt und den hohen Sinn, den keine Flamme versehrt.’“

Gomulka sog, mit vorgestrecktem Kopf, dieses Zitat in sich hinein. Nach einem langen Schweigen wiederholte er: „Die Bitterkeit des Unterganges ...“ Branzner hockte mit mißmutigem Gesicht auf seinem Strohsack, ihm mochte das alles nicht passen. Holt trat ans Fenster. Die Bitterkeit des Unterganges, wiederholte er noch einmal in Gedanken.

Gottesknecht riß die Tür auf. „Meine Herren, wollen Sie sich nicht ein bißchen zur Ruhe begeben, ehe das Theater wieder losgeht?“ Sein Blick fiel auf Holt. „Was ist mit Ihnen los? Mitkommen! Ich habe mit Ihnen zu reden.“ Es dämmerte. Gottesknecht hatte seit dem nächtlichen Verhör kein außerdienstliches Wort mit Holt gewechselt. Jetzt sah er müder und sorgenvoller aus denn je. „Ihr Urlaub ist bewilligt“, sagte er. „Aber ehe ich Sie abfahren lasse, muß ich Ihnen ins Gewissen reden... wegen dieser... Barnims.“

Holt sagte: „Ich weiß von nichts. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ob es mit dem Attentat zu tun hat?“ – „Sobald der Ersatz eintrifft, können Sie reisen. Sie fahren zu Wolzow, nicht? Jetzt hören Sie zu! Lassen Sie dort die Finger von den Barnims. Erkundigen Sie sich nach niemandem. Reden Sie mit keinem Menschen. Halten Sie den Mund. Haben Sie das verstanden?“ – „Jawohl, Herr Wachtmeister.“ – „Und jetzt ehrlich: Macht Ihnen die Sache sehr zu schaf­fen?“

„Ich ... denk nicht drüber nach“, sagte Holt.

Gottesknecht lächelte. Es war ein bitteres Lächeln. „Sie denken nicht nach ...“, wiederholte er. Er murmelte: „Keiner denkt nach ... keiner!... Los, legen Sie sich ins Bett!“ – „Jawohl, Herr Wachtmeister.“

In der Stube wurde wieder gestritten. Wolzow saß auf dem Tisch, rauchte und fragte, als Holt ins Zimmer trat: „Na... und?“

„Ein bolschewistischer Schriftsteller“, rief Branzner erregt, „hat erklärt... Ich glaube, er heißt Ehrenburg oder so ähn­lich ... Er hat erklärt, daß es für die Bolschewisten nur ein Ziel gibt, und das heißt Berlin!“ Er lag im Bett, richtete sich auf und stützte sich auf die Ellenbogen.

„Das braucht dich doch nicht zu wundern“, sagte Wolzow. „Denkst du, die Russen wollen den Krieg nicht gewinnen? Die Eroberung der feindlichen Hauptstadt ist für die Russen das strategische Ziel, das mit dem Siege gleichzusetzen ist. Das kannst du schon bei Clausewitz unter den ,Allgemeinen Grund­sätzen der Strategie’nachlesen.“

„Du hast mir zuviel Verständnis für die Russen“, sagte Branzner böse. Wolzow lachte nur. Aber auf einmal schimpfte Gomulka: „Das ist ja zum Verzweifeln! Kaum sind wir den Ziesche los, und schon liegt einer im selben Bett und pöbelt uns genauso an! Werden denn diese Stänker niemals alle?“

„Nein!“ schrie Branzner, und ein böses Funkeln war in seinen Augen, als er sich nun gegen Gomulka wandte. „Nein! Sie werden nicht alle! Was du beschimpfst, das sind die be­sten Deutschen, die echten Nationalsozialisten, jawohl! Alle denken so wie ich, ihr seid die schimpfliche Ausnahme, die ganze Batterie denkt wie ich, das ganze deutsche Volk denkt so und glaubt an den Führer, weil er der größte Deutsche ist und der größte Feldherr und ... und ...“

„Und, und!“ spottete Holt. „Nach dem Führer kommst gleich du, was?, der zweitgrößte Deutsche, der zweitgrößte Feldherr, der zweitgrößte Trottel...“ – „Ruhe!“ brüllte Wol­zow. „Seid ihr denn wahnsinnig?“

Aber Branzner saß schon auf seinem Bett, wachsbleich, und er sagte, während er nach den Schuhen angelte: „So ... so! Ihr habt es alle gehört! Ihr seid Zeugen! Er hat den Führer einen Trottel genannt! Ich mach Meldung!“

Gomulka rief: „Quatsch doch nicht, Mensch, dich hat er Trottel genannt!“ – „Den zweitgrößten“, sagte Branzner. Gomulka meinte: „Sei doch froh, daß es offensichtlich noch einen größeren gibt als dich!“ Aber Branzner, während er einen Schuh anzog, schüttelte den Kopf: „Nein, also nein, nein! Keine Ausreden! Nein! Ich stelle eindeutig fest, daß es gar keine andere Auslegung gibt: der Führer ist der größte Trot­tel!“

Die Tür flog auf. Gottesknecht trat ein. „Branzner!“ sagte er streng. „Was höre ich? Was sagen Sie da?“

Schweigen.

„Ich drücke ja beide Augen zu“, fuhr Gottesknecht fort, „wenn sich einer mal eine kernige Bemerkung über die Füh­rung erlaubt. Aber was Sie da eben gesagt haben, das geht zu weit!“

Branzner stand halb angekleidet, einen Schuh in den Hän­den, vor seinem Bett. Er stammelte: „Ich? Aber ich... Der Holt! Ich meine doch... Das ist doch ...“ Plötzlich schrie er verzweifelt: „Aber ich hab das doch gar nicht... ich wollte doch bloß ... die anderen hatten doch ... ich würde doch nie ... ich ... ich ...“ – „Nehmen Sie sich zusammen!“ rief Gottesknecht. „Was erlauben Sie sich!“

Holt war überzeugt, daß Gottesknecht lange an der Tür gelauscht hatte und im passenden Augenblick eingetreten war. Die Art, wie sein Erscheinen die Szene ins Groteske kehrte und auf den Kopf stellte, erfüllte ihn mit einem Lachreiz und mit Furcht.

Branzner war in sich zusammengesunken und warf hilfe­suchende Blicke auf Wolzow, auf Holt, auf Gomulka. Wolzow sagte endlich: „Der Branzner ist ja sonst ein anständiger Kerl, vielleicht hat er es wirklich nicht so gemeint.“

„Wenn niemand etwas gehört hätte, wäre es zweifellos das beste“, sagte Gottesknecht nach einigem Nachdenken.

„Ich hab nichts gehört“, sagte Gomulka. – „Ich auch nicht.“ – „Ich hab schon geschlafen.“ – „Ich als National­sozialist“, sagte Wolzow großartig, „müßte eigentlich darauf bestehen. Aber da will ich halt auch nichts gehört haben.“

„Schön“, sagte Gottesknecht. „Ich bitte mir aus, daß solche sinnlosen Streitereien in Zukunft unterbleiben. Gute Nacht.“

Sie schwiegen, bis die Barackentür ins Schloß gefallen war. Branzner sagte: „Was seid ihr... für Schufte!“

Theater, alles Theater, dachte Holt.

Gottesknecht sagte: „Ich seh’s ja, wenn ich Sie nicht gehen lasse, dann leidet Ihre Kampfmoral! Haun Sie ab!“ Eine Stunde später langte Holt bei Frau Ziesche an.

Sie packte. Auf dem Korridor standen Koffer, Kisten und Körbe. Frau Ziesche trug eine knallbunte Schürze. Im Schlaf­zimmer schichtete sie Wäsche in einen Korb. Holt sah ihr zu. „Ja, lebst du denn auf dem Mond?“ rief sie. „Goebbels ist Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz gewor­den. Sämtliche Theater, Varietes und Kunstschulen sind ge­schlossen, und fast das ganze Schrifttum ist stillgelegt worden! Jeden Tag können neue Richtlinien für den Arbeitseinsatz bekanntgegeben werden, ganz strenge Maßnahmen! Meinst du, ich hab Lust, Granaten zu drehen? Da ruiniere ich mir fürs ganze Leben die Hände! Sechzig Stunden Arbeitszeit wö­chentlich, dazu hab ich keine Lust!“ Sie setzte sich aufs Bett und brannte sich eine Zigarette an. „Ich schließe hier zu“, sagte sie, „die Sachen werden ausgelagert... Wie steht es denn mit deinem Urlaub?“

„Bewilligt“, sagte Holt. „Es kann jeden Tag losgehen.“

„Wollen wir in den Bayrischen Wald fahren?“ fragte sie.

Er antwortete nicht. Er rauchte und schaute sie aufmerk­sam an. Sie lächelte, sehr verführerisch, sehr verlockend. Wie seltsam: es wirkte nicht! Holt dachte: Sie hat nicht mal ge­fragt, wie das mit Ziesche passiert ist... Es wäre wirklich schade, wenn ihre Hände Schwielen bekämen! Auf einmal, es war wie eine Zwangsvorstellung, sah er Schmiedlings große, behaarte Hände, in den Schlackeboden des Geschützstandes gekrallt, sah auch Zemtzkis Hände, Rutschers Hände ... „Ich weiß nicht“, sagte er trübsinnig, „in den Bayrischen Wald? Es wäre schön. Aber ob sich das bei mir noch ändern läßt...“ Sie sagte leise: „Es wird bestimmt sehr schön!“ Aber auch das verfing seltsamerweise nicht. Er dachte: Sie ist wirklich bild­hübsch. Warum regte sich bei diesem Gedanken nichts in ihm, wie sonst? Sie sagte: „Laß deine Papiere umändern, Urlaubsort, Fahrschein. Ruf mich morgen an.“ Er nickte. Sie erhob sich: „Jetzt laß ich alles stehn und liegen. Ich will unbedingt ins Kino, kommst du mit? In Wattenscheid wird zu­fällig noch einmal ,Nora’ gespielt, nach Ibsen, ich hab den Film voriges Jahr verpaßt.“

Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie in Wattenscheid an­langten. Die Verkehrsmittel hatten durch die ständigen An­griffe stark gelitten. In dem engen, muffigen Kinosaal wurde Holt ein beklemmendes Gefühl nicht mehr los. Unfug, zur Abendvorstellung zu gehen! Es gibt bestimmt Alarm, bei die­sem idealen Wetter: ein bißchen diesig, da sind die Jäger behindert, die Flak auch ... Und wir sitzen hier in einer wild­fremden Gegend, weit weg von Gerties Wohnung, weit weg von der Batterie... Apathisch saß er in dem harten Klapp­stuhl, den Stahlhelm auf den Knien. Der Film interessierte ihn nicht. Er atmete erleichtert auf, als der Streifen endlich abgelaufen war. „Komm!“ Aber sie wollte noch die Wochen­schau sehen. „Es soll Bilder vom Attentat geben!“ Er setzte sich wieder. Die Fanfare des Vorspanns war noch nicht ver­hallt, da brach die Wochenschau auch schon ab; auf der Lein­wand erschienen die Worte: „Voralarm! Verlassen Sie sofort das Theater!“ – „Da hast du’s, verdammt!“ rief er wütend. Sie sagte beschwichtigend: „Vielleicht sind es nur Aufklärer!“ Alles drängte zum Ausgang.

Es war zweiundzwanzig Uhr. Draußen umfing sie die Nacht. Der verschleierte Himmel leuchtete schwach. Holt orientierte sich rasch: die Straße, von Trümmergrundstücken und ausgebrannten Fassaden gesäumt, lief nach Norden, vermutlich nach Gelsenkirchen; mochte sich der Teufel in die­sem Städtegewirr zurechtfinden! Die Straßenbahn fuhr nicht mehr. Der Menschenhaufen verlief sich rasch. Bald war die Straße menschenleer. Sie gingen sehr schnell und erreichten ein unzerstörtes Stadtviertel mit engen Straßen. Nun schlug das Auf und Ab der Sirenen wie eine Woge zum Himmel hoch. Sie liefen im Laufschritt weiter. Flakfeuer donnerte, fern erst, dann ganz nahe. Am Himmel summten Motoren. Holt tröstete sich: Sie überfliegen uns nur! Sein Blut erstarrte: Oder sind es Pfadfinder? Die Nacht wurde taghell. Irgendwo fielen Leuchtkaskaden, es mußte sehr nahe sein, die hohen Häuser versperrten die Aussicht, aber der Himmel gleißte.

Ein Mann verstellte ihnen den Weg, abenteuerlich uni­formiert, die Volksgasmaske um den Hals: „Halt... halt! Von der Straße weg! In den Schutzraum!“ Frau Ziesche redete schnell, angstvoll, aber Holt sagte: „Sei vernünftig, Herrgott!“ Er zog sie in den Hausflur. „Sie bleiben hier oben“, sagte der Luftschutzwart zu Holt. Frau Ziesche rief: „Nein! Ich ... ich bin leidend... ganz hilflos, ich brauche Schutz!“ Sie zog ihn die steile und tiefe Treppe hinab.

Der Kellergang war mit Menschen vollgestopft. Holt überschaute den matt erleuchteten Raum, überschaute die hundert Gesichter, die wie kreidige Flecke in der Dämmerung schweb­ten, überschaute Koffer und Rucksäcke und die Wannen mit Wasser. An sein Ohr drang Kindergeschrei.

„Nicht den Ausgang verstellen!“ Irgendwer schob Holt in den Keller. Holt strebte dem Ende des sehr langen Ganges zu, vielleicht nur, weil dort hinten Platz war. Sie stiegen über Packtaschen und ausgestreckte Beine hinweg. Der Platz war eigentlich gar nicht so schlecht, vielleicht nur etwas weit vom Ausgang entfernt. Sie saßen, als letzte in der langen Reihe, unmittelbar am Mauerdurchbruch. Das flache Tonnengewölbe des Kellerganges war hier noch einmal mit zwei starken Pfäh­len abgestützt, die wie Säulen den vermauerten Durchbruch zu Holts linker Hand flankierten. Er legte schützend den Arm um Frau Ziesche. Sie zitterte unter dem leichten Sommerman­tel. „Setz meinen Helm auf!“ Der Helm war zu groß, aber so schützte er auch Nacken und Schultern. Holt sah sich einem kleinen Mädchen von vielleicht vier Jahren gegenüber. Das Kind war zusammengesunken, in tiefem Schlaf. Daneben lag viel Gepäck. Dann saß eine große, derbe Frau auf der Bank, sie trug eine Tarnjacke aus Zeltleinen und blaue Schi­hosen. Holt suchte in seinen Taschen die kleine Stabtaschen­lampe, fand sie und steckte sie wieder weg. Eine dumpfe Stimme sagte: „Trocken Brot will ich essen mein Lebtag, wenn bloß die Bomben aufhören!“


Date: 2015-12-24; view: 1010


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