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Wie fassen die Sache mit Meißner Holt und Wolzow? – Ziel, Wörter, Vorbereitung, Gefühle (In welchen Termini) Warum verspottet Uta Barnim Holt? 5 page

 

 

7.

Wie fassen die Sache mit Meißner Holt und Wolzow? – Ziel, Wörter, Vorbereitung, Gefühle (In welchen Termini) Warum verspottet Uta Barnim Holt?

Holt packte bei den Schwestern Dengelmann seine Sachen zusammen, erzählte etwas von Ernteeinsatz, anschließender Ferienreise und daß er sich irgendwann wieder einfinden werde ... Dann lief er mit prallem Rucksack zu Wolzow.

Den Abend verbrachten sie in der Halle vor dem Kamin. Holt verschwieg seine Vereinbarung mit Wiese, aber er erzählte, daß er Uta Barnim kennengelernt habe. Wolzow fragte grinsend: „Na, und die Krüger?“ – „Das ist doch etwas an­deres!“ sagte Holt unwillig.

„Mein Aufmarschplan für die Sache mit Meißner ist fer­tig“, erklärte Wolzow. „Wir machen das am Freitag.“ Sie mußten also spätestens Donnerstag abend den Ernteeinsatz abbrechen. Holt war einverstanden. Als Ort fand Wolzow den einsamen Rabenfelsen am besten geeignet. Ein fingierter Brief sollte Meißner hinlocken. Wie Wolzow herausgebracht hatte, machte Meißner zur Zeit einem rothaarigen Mädchen namens Suse den Hof. Sie war bei einem Photographen beschäftigt und, wie jeder wußte, verlobt.

Holt entwarf ein paar Zeilen, die er Wolzow vorlas: „Lie­ber Herr Meißner, ich muß Sie unbedingt sprechen, ehe Sie einrücken, und Sie dürfen mir diese Bitte nicht abschlagen. Man darf mich nicht mit Ihnen sehen, wie Sie verstehen wer­den; kommen Sie also Freitag abend einundzwanzig Uhr zum Rabenfelsen, aber kommen Sie bitte bestimmt! Ihre Suse.“ – „Na, liebe Suse, da hör ich's aber im Stroh rascheln“, sagte Wolzow. – „Unsinn. Daß man sie nicht mit ihm sehen darf, bezieht er auf ihren Verlobten.“ – „Gut. Ihre Handschrift wird er nicht kennen, er hat bei ihr bisher auf Granit gebis­sen.“ – „Woher weißt du das alles?“ Wolzow antwortete: „Ich hab meine Quellen. Jeder Feldherr hat seine Geheimagenten.“

Holt schrieb den Text auf rosa Briefpapier, Wolzow begoß den Umschlag mit Parfüm. Holt malte deutsche Sütterlinschrift, eckig, geziert, leicht nach hinten geneigt. Holt entwarf auch den Revers, den Meißner unterschreiben sollte. „Ich erkläre, daß ich mit Ruth Wagner ein heimliches Liebesver­hältnis gehabt und sie in schwangerem Zustand durch Dro­hungen eingeschüchtert und fortgejagt habe...“ – „Schwan­gerer Zustand ist gut!“ unterbrach Wolzow. Holt las weiter: „Sie hat daraufhin durch meine Schuld Selbstmord verübt. Unterschrift.“ Er ließ das Papier sinken. „Ich glaube, das unter­schreibt er nie!“ – „Er unterschreibt. Laß mich nur machen.“

Ein Gefühl von Angst beschlich Holt. Worauf laß ich mich ein? Aber Wolzow steckte den Schein so gleichmütig in die Brieftasche, daß Holts Sorge schwand.

Am Morgen brachte Gomulka die beiden Gewehre. Zu dem schweren, altertümlichen Stutzen gehörte eine große Ta­sche mit Zubehör: Kugelform, Gießkelle, leere Patronenhül­sen, Zündhütchen, zwei Lederbeutel voll Schwarzpulver, ein kleiner, mit der Hand zu betreibender Blasebalg. „Ich brauch noch Salpeter und Schwefel, habt ihr Geld?“ Wolzow trug in der Jacke die Scheine, die er im Gepäck seines Vaters gefunden hatte. „Blei fehlt?“ fragte er. „Da reiß ich hier ir­gendwo ein Wasserrohr raus, kommt in der Bruchbude gar nicht drauf an!“ Er riß das Wasserrohr im Bad neben seinem Zimmer ab und verkeilte den Zufluß mit einem Holzpfropfen.



Am Nachmittag brachten auch Vetter und Zemtzki ihr Gepäck. In der Halle häuften sich Rucksäcke, Ballen und Pakete. In der Küche am Gasherd goß Gomulka Kugeln, dicke, fast dreißig Gramm schwere Rundgeschosse, und Holt lernte, die Zündhütchen in die Patronenböden einzusetzen, die Hül­sen mit Schwarzpulver zu füllen und dann die Geschosse mit einem Holzscheit in die Hülsen zu treiben. Es sei mit zwan­zig Prozent Versagern zu rechnen, erklärte Gomulka, ein er­trägliches Maß.

Gegen Abend waren sie reisefertig. Sie biwakierten auf dem Teppich in der Halle. Morgens fünf Uhr packten sie die Ruck­säcke. Auf dem Weg zum Bahnhof warf Holt den fingierten Brief in den Kasten.

Vor dem Bahnhof versammelten sich die Schüler, in den Uniformen der HJ und des Jungvolks.

Der Pfiff einer Trillerpfeife schrillte. „Achtung! In Linie ... angetreten, marsch, marsch!“ Das war Otto Barth. Sie stellten sich am linken Flügel in Reih und Glied.

Otto Barth, an der Schulter die grün-weiße Führerschnur, stand vor der Front, groß und stark, mit einem verpickelten, vom Schreien geröteten Gesicht. Er war siebzehn Jahre alt und, wie Herbert Wurm, der Stammführer, seiner Funktion wegen vom Flakeinsatz befreit. Wolzow verzieh ihnen das nicht und spielte, wenn der Bannführer nicht in der Nähe war, den Aufsässigen.

„Der Bannführer!“ piepste Zemtzki. Tatsächlich trat Bann­führer Knopf langsam vor die Front.

Barth meldete Wurm, Wurm meldete dem Bannführer. Der Bannführer redete etwas von Einsatz, Pflicht und Verpflich­tung.

Als Holt sich in den reservierten Wagen zwängte, waren alle Abteile besetzt, aber Wolzow scheuchte ein paar Quar­taner von ihren Plätzen. Vetter teilte Skatkarten aus. Wolzow holte eine Kiste Zigarren aus dem Rucksack. Sie bissen die Spitzen ab und spuckten sie auf den Boden, dann füllte sich das Abteil mit Dunst. Die Quartaner standen ehrfurchtsvoll dabei. Wolzow sagte: „Wenn alles klappt, sind wir in vier Wochen bei der Flak. Jetzt lassen wir uns von Wurm und Barth nichts mehr sagen.“ – „Stammführer könnten wir nämlich schon lange sein“, entgegnete Holt.

Nach einer halben Stunde inspizierten Wurm und Barth den Wagen. Wurm war ein großer, magerer Bursche mit einem eiförmigen Gesicht und schwarzem, mit Pomade am Kopf festgeklebtem Haar. Er ließ stets den Unterkiefer herabhän­gen, und der offene Mund gab seinem Gesicht einen Ausdruck unbeschreiblicher Dummheit. Jetzt sagte er verdattert: „Ja, ist denn das die Möglichkeit! Die Herren rauchen Zigarren!“ Wolzow hielt ihm die Kiste hin. „Willst du auch eine?“ Wurm schlug mit der Hand nach der Kiste, die Zigarren kullerten auf dem Boden umher. Wolzow stand auf und legte die Spiel­karten weg. „Dafür bekommst du jetzt ein paar in die Fresse, Stammführer!“ Wurm wich zurück, Barth rief: „Gib Ruhe, Wolzow, sonst mach ich Meldung an den Bann!“ – „Aber die Zigarren hebt er auf“, beharrte Wolzow. „Schluß!“ rief Barth. Er befahl den Quartanern: „Los, hebt die Dinger auf!“ Wol­zow setzte sich wieder. Vetter knallte die erste Karte auf den Klapptisch. Nebenan erzählte jemand: „Der Führer hat sich mit dem Duce getroffen, in einer Stadt in Oberitalien, ich denke, das hat was zu bedeuten, vielleicht wird jetzt auf Sizi­lien die Falle zugemacht.“

Nach fünfstündiger Bahnfahrt, auf einer kleinen ländlichen Station, trieb Barths Trillerpfeife die Jungen aus dem Zug.

 

Die Chaussee war staubig, die Sonne brannte, die Marsch­kolonne sang: „Die blauen Dragoner, sie ra-hei-ten ...“ Links und rechts säumten Getreidefelder die Straße, auf denen der Roggen in Puppen stand.

Nach zweistündigem Marsch erreichten sie ein großes Dorf. Auf dem Anger vor dem Wirtshaus teilte Barth die Ko­lonne in einzelne Gruppen.Wurm stand mit offenem Mund dabei. Sie kampierten in der Dorfschule.

„Verpflegung gibt es erst ab morgen“, berichtete Vetter. „Halb fünf treten wir auf 'm Dorfplatz an. Ordnungsübun­gen! Abends will Barth Kameradschaftsabend machen.“ Das Programm wurde verworfen. Zemtzkis und Vetters Bedenken wurden von Wolzow getilgt. Als unten die Trillerpfeife schrill­te, als alles aufbrach, warf Holt die Tür zu, riß von der Wand­tafel das Bord ab, brach es über dem Knie in zwei Hälften und keilte eines der Bretter unter die Türklinke. Dann legten sie sich schlafen.

Abends gegen acht wurden sie wach. „Und jetzt gehen wir ins Wirtshaus“, befahl Wolzow.

In der dunklen, muffigen Schankstube saßen ein paar Bau­ern beim Bier. Hinter der Theke stand ein dunkeläugiges Mäd­chen von vielleicht zwanzig Jahren.

Wolzow rief mit seiner rauhen Stimme: „Sagen Sie mal, Fräulein, wird das 'n bißchen voller?“ – „Nach dem Füt­tern“, antwortete sie. Holt dachte: Sie ist hübsch... Vetter teilte schon wieder Karten aus. In der Ecke erhob sich ein Bauer, Holt schob ihm einen Stuhl hin. „Zigarre?“ fragte Wol­zow. „Fräulein, ein Bier!“ Bald saßen mehrere Männer bei ihnen, rauchten Zigarren und tranken das Bier, das Wolzow spendierte. Der Schankraum füllte sich mit Menschen. Jemand klimperte auf dem verstimmten Klavier. Die Decken­lampe brannte trüb, die Luft war grau von Zigarrenrauch.

Holt ließ keinen Blick von dem Mädchen, das die Biergläser durch den Raum trug. Manchmal, wenn sie einen seiner Blicke auffing, lächelte sie oder zog unmerklich die dunklen Augen­brauen hoch. Zemtzki, Gomulka und Vetter spielten unterdessen Skat. Die Bauern, die um sie herumsaßen, schauten in die Karten und stritten nach jedem Spiel.

Wolzow führte das Wort. Er hatte rasch nacheinander fünf Glas Bier getrunken. Er zeigte seinen Bizeps und ließ sich schließlich auf einen Zweikampf im Fingerhäkeln mit dem Schmiedegesellen ein, der nur ein Auge hatte und wie ein Freibeuter dreinschaute. Die Bauern erklärten den Kampf für unentschieden. Wolzow gab keine Ruhe. Ein fingerstarker Feuerhaken wurde gebracht, Wolzow bog ihn mit einem Ruck zusammen, der Schmiedegeselle bog ihn grinsend wieder ge­rade. Schließlich standen sie einander mitten in der Schankstube gegenüber. Die erhobenen Hände gegenseitig ineinandergefaltet, versuchte einer den anderen in die Knie zu zwin­gen. Beide keuchten, aber keiner erzielte einen Vorteil. Die Bauern spendeten Beifall.

Zemtzki, Vetter und Gomulka warfen ihre Karten auf den Tisch, als ginge sie das Durcheinander ringsum nichts an.

Wolzow legte den Arm um die Schulter des Schmiedegesel­len. „Ein Faß Freibier!“ schrie er. Daraufhin erhob sich Lärm.

Holt sah, wie ihm das Schankmädchen mit den Augen wink­te. Er erhob sich. Ein Gang führte hinaus auf den Hof. Er stand ihr im Halbdunkel des Korridors gegenüber. „Hat Ihr Freund genug Geld bei sich?“ fragte sie. „Es kostet sechzig Mark!“ – „Ich glaub schon“, sagte Holt. Ein Geruch von Schweiß, Haar und Erde ging von dem Mädchen aus. „Was schaust denn so?“ sagte sie und lächelte. Er faßte nach ihren Armen und fühlte einen Augenblick lang ihre warme Haut. Aber sie wich zur Seite. „Ich hab zu tun!“ Er sah, als sie ver­schwand, wie sie ihm mit blitzenden Zähnen zulachte.

Er tastete sich den dunklen Korridor entlang. Zur Linken führte eine Holztreppe steil nach oben. Dann stand er draußen auf dem Hof. Er lehnte sich gegen eine Stalltür. Am Himmel standen Sterne. Er atmete tief, er schämte sich plötzlich, aber an seinen Fingerspitzen, wie ein Kitzel, hing noch die Empfin­dung ihrer Haut.

Die Schankstube, mit ihrem Trubel, dem Geplärre des Ra­dios, dem beißenden Tabakdunst und den lärmenden Stim­men, widerte ihn auf einmal an. Wolzow stand, von Bauern umringt, an der Theke. Als Wurm und Barth durch die Tür traten, knallte Zemtzki gerade das Herz-As auf den Tisch. Er saß mit dem Blick zur Tür, sah die beiden Führer und piep­ste erschrocken: „Verdammt, jetzt holen sie uns zum Dienst.“

Wurm und Barth blieben an der Tür stehen und redeten lange aufeinander ein. Dann traten sie zögernd an den Tisch heran. Wurm bückte sich ein wenig und sagte gedämpft: „Ihr verlaßt sofort das Lokal und kommt zum Dienst, oder es gibt eine Meldung an den Bann!“

Holt sah das Mädchen mit hochgezogenen Brauen zu ihnen herüberblicken... Das Stimmengewirr ließ nach. Wolzow stand beim Tisch. Die Bauern blickten gespannt. „Laßt uns in Ruhe“, sagte Wolzow mit schwerer Zunge.

„Mensch, Wolzow“, schnarrte Barth, „diese Drückeberge­rei ...“ Wolzow fiel ihm ins Wort: „Wer ist hier ’n Drücke­berger? Wer gehört längst zur Flak?“ Barths Gesicht lief rot an. Wolzow wandte sich ab und ging wieder zur Theke. Das Stimmengeräusch setzte in unverminderter Stärke ein. Irgend­wer klimperte auf dem Klavier. Zemtzki hatte sich von seinem Schrecken erholt und teilte Karten aus. Wurm beugte sich abermals über den Tisch und sagte im Befehlston: „Los! Macht, daß ihr rauskommt!“

„Achtzehn!“ sagte Vetter schwitzend und sah sich hilfe­suchend nach Wolzow um. Gomulka sagte: „Ich halte.“

Wurm versuchte es anders. „Laßt euch doch von dem Wol­zow nicht aufwiegeln! Wenn ihr so weitermacht, gibt’s Ju­gendarrest!“

„Zwanzig“, sagte Vetter. Gomulka sagte: „Hab ich!“ – „Wir geben eine Meldung an den Bann. Wenn ihr gehorcht, laß ich euch aus!“ – „Vierundzwanzig“, sagte Vetter. Gomulka sagte: „Na ja doch, schon lange!“

Holt fühlte die Augen des Mädchens auf sich gerichtet, schob den Stuhl zurück und sagte: „Wir bleiben!“ Wurm wechselte einen Blick mit Barth. Holt zog den Kopf zwischen die Schultern... Da wurde er sanft, doch unwiderstehlich zur Seite gezogen.

„Fang du nicht an!“ sagte das Schankmädchen hastig. Er sah ihre Augen, die dunkelgrau waren, und auf ihren Lippen standen ein paar winzige Speicheltröpfchen. Sie warf einen Blick zur Theke, denn dort rief man nach ihr. Sie flüsterte, nahe an seinem Gesicht: „Nach zwölf... über den Korridor die Treppe hoch, links die letzte Tür... warte dort... wenn du jetzt Ruhe gibst!“ Er sah sie bei der Theke, verwundert, verwirrt, er dachte: Das muß alles ein Irrtum sein ...

„Passe!“ krähte Vetter, durch Holts und Wolzows Wider­stand ermutigt. Gomulka sagte: „Grand! Schneider. Ich hab Vorderhand.“ Wurm rückte sein Koppel zurecht. „Gut. Ihr habt’s euch selbst zuzuschreiben. Komm, Otto!“ – „Raus mit dem Onkel“, sagte Gomulka und warf einen Buben auf den Tisch. Hinter Wurm und Barth schloß sich die Tür.

Es schlug Mitternacht. Holt sagte zu Gomulka: „Ich geh voraus.“ Er trat durch die Tür auf die Dorfstraße.

Die Silhouetten der Gehöfte verschwammen in der Nacht. Weit entfernt kläffte ein Hund. Der Lärm aus dem Wirtshaus klang gedämpft und unwirklich ins Freie. Holt zog fröstelnd die Schultern zusammen.

Die Treppe hoch, links das letzte Zimmer... Er war ganz ruhig. Die Träume lügen. Das Leben ist ganz anders. Worauf soll ich warten? Er ging ein paar Schritte in die Nacht hin­aus, der Lärm versank schon hinter ihm, nun war es still ringsum. Aus der Schenke traten Bauern. Er lief um das Haus und durchs Tor auf den Hof. Er fand den dunklen Korridor seltsam vertraut, als habe er sich von Kindheit an hier bewegt, auch die Treppe war er schon hundertmal emporgestiegen... Nun einige Türen aus rohen Brettern, das ist wie daheim auf dem Dachboden, wo man heimlich in Kisten herumstöberte, voller Angst vor Entdeckung ... Er zog die Tür hinter sich ins Schloß und sah sich in der kleinen Kammer um. Er tappte am Bett vorbei und verharrte bewegungslos am geöffneten Fenster, bis sich die Stimmen seiner Freunde in der Ferne verloren.

Eigentlich war ich immer allein, auch daheim, bei Mutter. Eigentlich habe ich immer Sehnsucht gehabt, nach irgendwem, nach irgendwas. Angst und Sehnsucht. Komm! Auf einmal bist du da, aufgelöst in Dunkelheit.

Sie zog ihn vom Fenster fort, dann schlug sie das Federbett zurück. Ihre Kleider raschelten. Er handelte willenlos, als sei er nicht voll bei Bewußtsein, und erst, als ein verknoteter Schnürsenkel seine Ungeduld hemmte, setzte dröhnend der Herzschlag ein und dauerte fort, bis er neben ihr lag und ihren Körper an seinem fühlte.

Der Morgen stieg über die Dächer der Bauernhäuser. In der Schule blieb Holt eine Stunde Schlaf, ehe die Trillerpfeife Barths ihn weckte.

Er hielt den Kopf unter die Wasserleitung. Dann arbeiteten sie auf dem Feld.

Sie beluden Erntewagen, zwei Tage lang. Die Arme und Schultern schmerzten. Am dritten hatte Wolzow genug. Er erklärte: „Das ist eine viel zu unkriegerische Arbeit für mich! Kommt ihr mit baden?“ Sie gingen nicht mehr aufs Feld zu­rück. Sie packten am Nachmittag unbemerkt ihre Rucksäcke und marschierten zur Bahnstation. Holt warf einen Blick zu­rück, auf das Dorf, auf das Wirtshaus. Während der Fahrt saß er schweigend am Fenster. Er hörte nicht, daß Wolzow Fragen an ihn richtete.

Er grübelte, ob die Wirklichkeit gehalten habe, was einst­mals Traum und Phantasie versprachen ... Er wußte nicht ein­mal ihren Namen. Er dachte an die Marie Krüger. Er dachte an Uta.

Als sie anderentags in der Wolzowschen Villa das Gepäck zu großen Ballen zusammenschnürten, als Holt an den Abend, an Meißner dachte, und an die Nacht, die Flucht in die Berge, wurde die Unruhe in ihm so stark, daß er nach kurzem Nach­denken sagte: „Ich muß noch mal fort.“ – „Wo willst du denn hin?“ fragte Wolzow verwundert. – „Zu Barnims.“ Wolzow blickte unzufrieden drein. „Egal Weibergeschichten“, sagte er. „Na los, hau ab, aber laß dich nicht sehen!“ Holt wusch sich in der Küche die Hände, reinigte die Fingernägel mit dem Fahrtenmesser und kämmte sich.

Als er bei Barnims klingelte, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Man ließ ihn in der Diele warten. Als er Uta sah, vergaß er alles. „Sie kam wie eine Göttin“, dachte er. Das hatte der Cavaradossi gesungen, in der einzigen Oper, die Holt gesehen hatte. „Sieh mal einer an“, sagte sie, und ihr Lächeln zog ihn vollends in ihren Bann. „Ich denke, man ist zum Ernteeinsatz?“

„Ich bin abgehaun. Jetzt geh ich ... lange fort. Vorher wollte ich Sie gern sprechen.“

„Wie ich Sie kenne, ist es etwas Todernstes. Also kommen Sie.“ Er folgte ihr über die Treppe ins Obergeschoß. Dort öffnete sie eine Tür und ließ ihn eintreten. Das Zimmer war voll Sonnenlicht. Den Fußboden bedeckte ein grobgewirkter Teppich. Vor einer Bettcouch stand ein Teetisch, von Polster­hockern umstellt. Und Blumen gab es, überall, am Fenster, an der Balkontür, auf dem Teetisch, Rosen, Nelken, üppige Ge­hänge von Brunnenkresse, wilde Wicken, die sich an den Gar­dinen hinab bis auf den Teppich rankten, und eine wuchernde Tradescantia. Auf dem Balkon stand ein Liegestuhl, daneben ein kleiner Tisch mit Rauchutensilien. „Holen Sie sich einen Sessel“, sagte sie und ließ sich schon im Liegestuhl nieder, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Holt trug einen der Hocker hinaus und setzte sich neben sie. Sie hielt ihm wortlos ein Messingkästchen mit Zigaretten hin. Er rauchte.

„Hat Ihr Besuch noch einen anderen Grund, oder sind Sie nur gekommen, um mich anzustarren?“ fragte sie. Ihr Spott machte ihn mutlos. Er brummte etwas von „... ganz allein in der Stadt. . .“ und „. .. sonst keinen Menschen . . .“. Sie sagte: „Also erzählen Sie! Warum leben Sie nicht bei Ihren Eltern?“

„Ich wollte nicht länger bei meiner Mutter bleiben. Und mein Vater.. .“

„Wollen Sie nicht davon sprechen?“

„Doch“, sagte er. „Aber nur zu Ihnen. Er arbeitet als Le­bensmittelprüfer in einem städtischen Amt. Eigentlich ist er Arzt.“

Sie blickte interessiert zu ihm hin. „Und welchen Umstän­den verdankt er diese offensichtliche Degradierung?“

„Ich weiß das nicht so genau“, sagte Holt langsam, und wie stets bei der Frage nach seinem Vater befiel ihn Unsicherheit und Scham. „Er war lange in den Tropen, dann in Hamburg an der Universität Professor und zugleich am Institut für Tro­penkrankheiten. Meine Mutter stammt aus der Industrie, und als er sie geheiratet hatte, ging er nach Leverkusen. Er forschte nach Krankheitserregern oder so. Aber dann sollte er eine an­dere Arbeit übernehmen, etwas ... Kriegswichtiges. Da hat er sich geweigert und mußte gehen. Er fand dann auch nichts anderes. Meine Mutter ließ sich von ihm scheiden, ich glaube, deswegen... Es heißt, er ist politisch unzuverlässig. Er ist wohl furchtbar starrsinnig. Lieber hungert er.“

„Jedenfalls“, sagte Uta, „scheint Ihr Vater ein Mann von Charakter zu sein.“ Diese Worte überraschten Holt so sehr, daß er verwirrt „Ja .. . aber...“ sagte, doch sie unterbrach ihn. „Warum leben Sie nicht bei ihm?“

„Das Vormundschaftsgericht hat es verboten. Ich will auch nicht. Ich will frei sein! Deswegen bin ich auch von meiner Mutter fort. Es war sowieso kein Zuhause, auch früher nicht. Mein Vater hatte immer nur seine Arbeit im Sinn. Und meine Mutter war viel jünger als er, hatte dauernd Gäste, ging dau­ernd fort. Ich bin schon mal durchgebrannt, aber die Polizei hat mich zurückgebracht. Im Frühjahr hat Mutter mich end­lich fortgelassen. Erst sollte ich zu meinem Onkel nach Ham­burg, er ist dort im Aufsichtsrat einer großen Tabakfabrik. Doch dann hat mich Mutter hierher in Pension gegeben. Sie schickt jeden Monat Geld, sie hat ja genug, sie hat Vermögen.“ Er schwieg, er fragte sich: Wozu erzähl ich ihr das alles?

„Und nun suchen Sie bei mir gewissermaßen Nestwärme, mütterliche Geborgenheit?“

„Warum verspotten Sie mich?“ sagte er. „Wenn ich Ihnen lästig bin, geh ich. Vielleicht haben Sie einen Menschen, dem Sie sich anvertrauen können, aber...“ – „Nicht doch, warum gleich so gekränkt? Sie sind ein merkwürdiger Mensch!“ meinte sie. „Nach Peter Wieses Bericht hielt ich Sie für einen Stromer. Ein Gefühlsleben, wie Sie’s da offenbaren, paßt schlecht zu diesem Bilde.“

„Der Wiese kennt mich ja gar nicht“, sagte Holt verächt­lich. Dann erst begriff er, was sie gesagt hatte: Nach Wieses Bericht... So hat sie ihn also ausgefragt! „Daß man die Leh­rer ärgert und immer angibt“ fuhr er fort, „das ist ja nur das eine...“ – „Und die andere Seele in Ihrer Brust, die sitzt dann und wann bei Peter und läßt sich vorspielen, die ‚Uberreichung der silbernen Rose‘, obwohl’ s im Klavierauszug ganz scheußlich klingt!“ Sie lachte. „Es freut mich, daß Sie vor mir nicht angeben wollen. Also bitte. Vertrauen Sie sich mir ruhig an. Aber an den Spott werden Sie sich gewöhnen müssen. Ich glaube, er kann Ihnen nicht schaden.“ Sie erhob sich aus dem Liegestuhl und trat zur Balkonbrüstung. Mit dem Rücken an das Holz des Geländers gelehnt, sprach sie weiter: „Wenn Sie aber meinen, daß es mir anders geht als Ihnen...“ Sie schwieg. Dann setzte sie, wie belustigt, hinzu: „So irrt sich der.“ Der Wind blies ihr das Haar ins Gesicht. „Wenn das Taschengeld nicht ausreicht, dann kann ich mich natürlich Mama ,anvertrauen‘, wie Sie so schön sagten . ..“ Sie konnte das Spotten nicht lassen. „Aber was ist das? Belanglosigkeiten. Warten Sie.“ Sie holte ein Buch aus dem Zimmer und setzte sich wieder in den Liegestuhl. „ ‚...denn im Grunde und ge­rade in den tiefsten und wichtigsten Dingen‛“, las sie, „,sind wir namenlos allein‛...“ Er konnte auf dem Buchrücken den Titel erkennen: Rilke, „Briefe“.

In den tiefsten und wichtigsten Dingen, wiederholte er in Gedanken, und: namenlos allein... Warum? „Man braucht aber doch jemanden, zu dem man Vertrauen haben kann! Wir haben was vor. Vielleicht brauch ich bald einen Menschen. Würden Sie mir helfen, wenn ich mal Hilfe nötig hab?“

„Ihr Vertrauen hat etwas Überwältigendes“, meinte sie, schon wieder spottlustig. „Also gut. Versuchen Sie’s. Ich will sehn, was ich tun kann.“

Am späten Nachmittag saß Holt dann schweigend vor dem Kamin. Wolzows Fragen tat er mit einer Handbewegung ab. Vetter spielte mit Zemtzki und Gomulka Skat. Nun, da das Abenteuer unmittelbar bevorstand, kämpfte Holt mit einer unbeherrschbaren Aufregung. Wolzow winkte ihm mit den Augen. Auf seinem Zimmer fragte Holt: „Gilbert, wird alles gut gehen?“

„Paß jetzt auf.“ Wolzow nahm die Walther-Pistole aus dem Schubfach und reichte sie Holt. „Du hältst ihn in Schach. Sollte er abhauen, dann schießt du rücksichtslos hinterher. Ich nehm die Parabellum. Wirst du die Nerven haben?“

Holt krampfte die Faust um die Pistole.

„Er darf nicht türmen“, fuhr Wolzow fort. „Du hältst ihn also in Schach, bis er unterschrieben hat. Dann kannst du die Kanone wegstecken. Daß er unterschreibt, dafür sorge ich. Der Rest ist dann auch meine Sache. So, jetzt komm. Sei nicht aufgeregt, da kann gar nichts schiefgehn.“ Holt legte sich seine Worte zurecht: Einen schönen Gruß von Ruth Wag­ner . . . Er sagte sich unaufhörlich: Es ist für die Gerechtig­keit . .. für Gerechtigkeit!

Wolzows Stimme, unten in der Halle, hatte einen scharfen Kommandoton. Er ließ die Uhren vergleichen, es war neun­zehn Uhr und achtundzwanzig Minuten. „Sepp! Acht Uhr bringst du den Angelkahn an die Parkinsel, oben, beim Schwarzbrunn, und vergiß nicht die Treidelleine. Wenn’s dunkelt, schleppt ihr das Gepäck zum Kahn, hinten durch die Gärten. Inzwischen sind wir wieder hier. Frag nicht. Alles klar? Komm, Werner.“

Sie umgingen den Rabenfelsen und näherten sich ihm von Norden. Der Wald reichte bis an den Fuß der aufeinander­getürmten Basaltbrocken. Ein schmaler, von hüfthohen Farn­wedeln bewachsener Platz schloß sich unmittelbar an die steil abfallende Felswand. Hierher schien niemals die Sonne. Der Boden war feucht und modrig. Wolzow verbarg sich am Waldrand.

Unter dem Felsen war Dämmerung. „Er kommt!“ rief Wol­zow nach langem Warten. Holt drückte sich in eine der schat­tengefüllten Felsspalten. „Er kommt am Waldrand entlang“, hörte er, „versteck dich, wir nehmen ihn zwischen uns!“ Dann verschwand Wolzow im Wald. Holt stand unbeweglich, an den Fels geschmiegt, die Rechte in der Hosentasche um den Griff der Pistole geschlossen. Wenn er flieht... sofort schie­ßen ! Es ist für die Gerechtigkeit.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis am Waldrand Schritte laut wurden. Holt sah die hochgewachsene Gestalt Meißners im Ge­büsch, und dahinter schlich Wolzow durchs Unterholz.

Meißner war nur noch wenige Schritte von Holt entfernt. Er blieb stehen und wandte den Kopf erst nach rechts, dann nach links. „Hallo!“ Dann sah er auf die Armbanduhr. Holt trat aus der Felsspalte. Meißner blickte auf, erkannte Holt und sagte überrascht: „Nanu!“ Holt ging langsam um Meißner herum, bis er ihn zwischen sich und der Felswand hatte. Die Erregung schnürte ihm die Kehle zo. Auf einmal war auch Wolzow da. Meißner, um Holt im Auge zu behalten, hatte sich um seine eigene Achse gedreht. Als er Wolzow sah, sagte er noch einmal: „Nanu ... Da sind die Herren ja beide!“

„Hast wohl die Suse erwartet?“ fragte Wolzow und grinste. Schritt für Schritt ging Holt auf Meißner zu, die Pistole noch immer in der Tasche. Wolzow hielt sich, scheinbar unbeteiligt, ein paar Schritte abseits. Holt stand nun unmittelbar vor Meiß­ner. Er sagte: „Die Suse kommt nicht. Bist uns auf den Leim gegangen. Den Brief hab ich geschrieben.“ Meißner sagte, mit einer Stimme, die vor Wut zitterte: „Ach ... So ist das! An­ders habt ihr euch wohl nicht getraut?“ Holt zog die Pistole aus der Tasche, richtete sie auf Meißner und sagte: „Einen schönen Gruß von der Ruth Wagner!“

Meißner wich langsam zurück. Holt folgte ihm. Meißner blickte starr auf die Waffe. Seine Stimme war auf einmal brüchig. „Was wollt ihr?“

„Nur eine Kleinigkeit“, sagte Holt.

„Achtung!“ schrie Wolzow gellend. Holt trat instinktiv einen Schritt zur Seite, wie ein Schatten flog Meißner an ihm vorbei, der Schuß knallte durch die Dämmerung, und über das Bein, das Wolzow ihm stellte, schlug Meißner in die Farn­wedel. Wolzow kniete schon auf seinem Rücken. Meißner bäumte sich auf, aber Wolzow hielt ihn nieder und schlug ihm zwei-, dreimal die Faust ins Gesicht, das zur Seite gewen­det auf dem feuchten Boden lag.

„Ich werde dir helfen!“ sagte Wolzow. „Werner, bind ihm die Füße!“ Holt zog den Gürtel aus der Lederhose und band Meißners Beine. Sie drehten ihm beide Arme auf den Rücken und schnürten ihm auch die Ellenbogen zusammen. Dann schleiften sie ihn durch den Farn zur Felswand, wo sie ihn aufrecht, ans Gestein gelehnt, hinsetzten.

Es war dunkel. Wolzow leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht. Die Unterlippe war aufgeplatzt und dick ge­schwollen.

„Was wollt ihr?“ fragte Meißner mühsam. Wolzow zog den Schein aus der Tasche und las: „... ,heimliches Liebesverhält­nis gehabt und sie in schwangerem Zustand durch Drohun­gen eingeschüchtert und fortgejagt’...“ Während Wolzow las, hob Meißner den Kopf. Sein Gesicht zeigte Schrecken, Furcht und Wut.


Date: 2015-12-24; view: 1091


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