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Eine Karte aus Florenz und keine Münze zum Telefonieren

Als mich der Oliver am Morgen aufweckte, sagte er mir, dass die Mama noch schläft. Und dass wir leise sein müssen, damit sie nicht aufwacht. Er flüsterte sogar in meinem Zimmer, obwohl er da ruhig laut hätte reden können. „Und die Amtsrätin?", fragte ich. „Wer?", fragte der Oliver. Er hatte keine Ahnung, dass ich seine Oma im Geheimen als Amtsrätin bezeichne. „Die Oma", sagte ich. „Die ist zum Bäcker gegangen", flüsterte er. Ich stand auf und ging zum Badezimmer. Der Kurt war drinnen und rasierte sich. „Bin schon fertig", sagte er. „Kannst schon dableiben!" Er zog den Rasierstecker aus der Steckdose. Ich dachte: Vielleicht hat der Alibaba doch nicht Recht, vielleicht sollte man doch etwas unternehmen! Ich sagte: „Du, Kurt ..." Der Kurt schmierte sich etwas Creme ins Gesicht. „Ich habe es brandeilig", sagte er. „Ich muss ohne Frühstück weg! Bis Mittag muss ich einen Artikel fertig haben! Übrigens… " Er deutete mit dem Kopf in Richtung Schlafzimmer. „Die Mama schläft noch. Sie hat drei Schlafpulver genommen. Sie ist mit den den Nerven komplett fertig. Wäre schön, wenn ihr sie nicht aufweckt!" Ich nickte. Der Kurt wischte sich die cremigen Finger am Handtuch ab und ging aus dem Bad. Ich hörte das Schnaufen der Amtsrätin vor der Wohnungstür. Ich schloss die Badezimmertür und riegelte ab. Dreimal klopfte die Alte an die Tür und rief: „Das Frühstück ist fertig!" Aber sooft sie klopfte, drehte ich das Wasser weit auf, damit sie glauben sollte, ich höre das Klopfen nicht. Dann lief ich aus dem Bad in mein Zimmer, zog mich im Weltrekordtempo an, packte meine Schultasche und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer und die Wohnung. Ein Tag, ohne Amtsrätin begonnen, fand ich, war ein guter Tag. Dafür lohnte es sich sogar, einen leeren, knurrenden Magen zu haben! Ich ging zum Haustor hinaus, die Straße hinunter, der Schule zu. Es regnete ein bisschen. Ich hatte keinen Schal um, mich fror am Hals. Der Himmel war ganz grau. Er sah so aus, als ob er jeden Augenblick herunterfallen könnte. Ich drehte mich um und schaute zu unserem Haus zurück. Unser Haus kam mir fremd vor. So fremd wie damals, als ich es zum ersten Mal gesehen hatte, als ich mit der Mama und der Ilse hergekommen war, um den „Onkel Kurt" zu besuchen.

Langsam ging ich weiter und plötzlich kam mir alles sehr fremd vor. Die Bäckerei, das Milchgeschäft, sogar der Supermarkt, in dem ich jeden Tag einkaufte. Und der Gedanke, dass ich schleunigst in die Schule gehen muss, war mir auch fremd. Ich ging weiter, kam zur Schule, ging an der Schule vorbei, bog in eine Seitengasse ein, ging geradeaus, bog wieder in eine Seitengasse ein und ging weiter. Ich habe es wirklich nicht geplant gehabt, aber plötzlich war ich in der Rückertgasse. Drei Häuserblocks von der GOLDENEN GANS entfernt. Ich bekam Herzklopfen. Ich dachte: Vielleicht steht der rote BMW jetzt vor dem Haus? Vielleicht sitzt sogar die Ilse drin! Ich sagte mir, dass das sicher nicht so sein könne, dass das bloß meine dumme Fantasie sei, dass ich überhaupt dumm bin! Trotzdem ging ich langsam auf die GOLDENE GANS zu. Natürlich stand da kein roter BMW! Ein Bierwagen stand da. Zwei Männer in Overalls klappten hinten am Bierwagen die Holzwand herunter und rollten ein Fass aus dem Wagen. Ich stellte mich neben das Haustor von der GOLDENEN GANS und schaute ihnen zu. Tür vom Restaurant war offen. Der Wirt stand in der Tür. Diesmal hatte er eine rote Mütze auf. Neben ihm saß der große Hund. Der Wirt redete mit den Männern. Dass das Wetter scheußlich sei, sagte er. Und dass er auch ein Fass dunkles Bier bestellt habe. Dann schaute der Wirt mich an. Er nickte mir zu und ich sagte: „Grüss Gott!“



Der große Hund kam zu mir und ließ sich streicheln. „Sag, woher kenne ich dich denn?", fragte mich der Wirt. „Ich habe gestern bei Ihnen Würstel und Torte gegessen", sagte ich. „Ach ja". Der Wirt lachte. „Mit deinem Freund! Das war der mit dem rosa Damenhut, gelt?" Ich nickte.

Dann kam einer der Männer, die das Bier abgeladen hatten, zum Wirt. Er hatte einen Block in der Hand und einen Kugelschreiber. Der Block war ein Lieferschein-Block. Der Wirt nahm den Kugelschreiber und wollte den Lieferschein unterschreiben. Der Kugelschreiber schrieb nicht. „So ein Dreck", sagte der Bier-Mann und suchte nach einem anderen Kugelschreiber. „Hab selber einen", sagte der Wirt und griff in die Tasche seiner Bauchschürze. Er holte einen Kugelschreiber heraus und unterschrieb den Lieferschein. Und ich starrte den Kugelschreiber an. Das war mein Kugelschreiber! Ich konnte mich gar nicht irren. Den hatte ich vor einem Jahr zum Geburtstag bekommen! Er war nicht nur genauso flieder lila wie mein Kugelschreiber und in der Mitte - genauso wie mein Kugelschreiber - mit einem grünen Tesaband verklebt, er hatte auch mein Monogramm: E.J. Zwei goldene Buchstaben. Vor ein paar Wochen war mein Kugelschreiber plötzlich verschwunden gewesen. Ich hatte gedacht, jemand aus meiner Klasse hätte ihn eingesteckt. Ich ging näher an den Wirt heran und sagte: „Sie haben einen schönen Kugelschreiber!" Der Wirt blickte mich sehr erstaunt an. „Weiß gar nicht, wo der her ist", sagte er. Er entdeckte das Monogramm. „EJ, EJ", murmelte er. „Ich kenne keinen E J! Den muss einer bei mir liegen gelassen haben!" Er hielt mir den Kugelschreiber hin. „Wenn er dir so gefällt, nimm ihn!" Ich bedankte mich höflich für meinen Kugelschreiber. „Mein Monogramm ist auch E J", sagte ich. „Weil ich Erika Janda heiße!" Der Wirt freute sich über diesen „lustigen Zwischenfall". Aber mein Familienname besagte ihm anscheinend überhaupt nichts! Und ich hatte das Gefühl: Langsam wundert sich der Wirt über das komische Kind, das da neben ihm herumsteht, sich Kugelschreiber schenken lässt und nicht in der Schule sitzt! Weil am Haus gegenüber das Schild von einem Zahnarzt war, sagte ich. „Ich soll nämlich zum Zahnarzt gehen!" Der Wirt lachte. „Armer Wurm", sagte er. „Hast Angst! Schäm dich deswegen nicht! Ich hab auch immer Angst vor dem Zahnarzt! „Hab ich ja gar nicht", sagte ich. „Ich bin nur zu früh dran. Und ich mag Wartezimmer nicht!" Dann kam ein kleines gelbes Postauto gefahren und hielt vor uns. Der Briefträger stieg aus und überreichte dem Wirt einen ganzen Stoß Post. Zwischen weißen und blauen Kuverts steckte eine große Ansichtskarte. Der Wirt zog sie heraus. „Florenz", sagte er mir „Da müsst" man jetzt sein!", sagte der Briefträger. „Von meinem Bruder", sagte der Wirt. Ja, der hat es gut", sagte der Briefträger. Ich trat ganz nahe an den Wirt heran, um die Schrift auf der Karte sehen zu können. Es war eine winzig kleine, ziemlich unlesbare Schrift. Aber unter dem Geschriebenen stand deutlich zu lesen: ERWIN. Unter dem ERWIN war ein Pluszeichen und neben dem stand: ILSE.

Und das war garantiert die Schrift von meiner Schwester! „Schreibt nix Besonderes", sagte der Wirt. Der Briefträger ging zu seinem Auto zurück. „Wann kommt denn Ihr Bruder wieder?", fragte ich. Der Wirt zuckte mit den Schultern. „Das weiß man bei dem nie! Wenn ihm das Geld ausgeht, wahrscheinlich!" Er lachte. Es klang nicht sehr freundlich. Dann schaute er mich an, legte die Stirn in Falten und fragte: „Wieso willst du das denn wissen?"

Da lief ich einfach weg. Ich schämte mich schrecklich. Ich lief die Straße hinunter, immer weiter. Es fing wieder zu regnen an. Die Schultasche zog mir die linke Schulter schief, eine nasse Haarsträhne baumelte mir beim Laufen in die Augen. Mein Magen knurrte laut. Und meine Schuhe waren auch schon innen nass. Je länger ich durch den Regen rannte, umso sicherer wurde ich: Die Ilse muss schnell wieder zurück! Der Kerl hat sie sicher nicht richtig lieb! Und die Ilse soll bei keinem sein, der sie nicht richtig lieb hat! Und mir war auch klar: Ich brauche jemanden, der mir hilft, die Ilse zurückzuholen!

Zuerst fiel mir der Alibaba ein! Aber der, überlegte ich mir, konnte mir da auch nicht helfen! Der war zwar älter und mutiger als ich, aber er war auch ein Kind. Ich brauchte einen erwachsenen Menschen! Der Kurt, dachte ich, der Kurt muss mir helfen! Ich wollte den Kurt anrufen. 56 56 16, die Nummer der Redaktion kenne ich auswendig! Und vorne an der Ecke war eine Telefonzelle. Als ich bei der ankam, fiel mir ein, dass ich kein Geld bei mir hatte. Nicht einmal eine Münze fürs Telefon! Ich konnte doch nicht einfach jemanden um Geld anbetteln! Obwohl ich schon gesehen hatte, dass Kinder das machen. Eigentlich wäre ja auch gar nichts dabei! So geizig, dass sie nicht eine Münze fürs Telefon herausrücken, sind nur wenig Menschen. Aber ich schaffte das nicht! Ich dachte: Lieber laufe ich zu Fuß in die Redaktion vom Kurt! Doch das war keine gute Idee. Mindestens eine Stunde hätte ich da gebraucht. Und dann wäre der Kurt sicher schon in der Vormittags-Redaktionskonferenz gewesen. Und dort durfte man ihn nicht stören. Und am Nachmittag war der Kurt immer „unterwegs". Natürlich hätte ich warten können, bis der Kurt am Abend heimkommt. Schließlich war die Ilse schon so lange weg. Da kam es nun auf ein paar Stunden auch nicht mehr an. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich in so einer Panik war! So aufgeregt und so ungeduldig! Mir war so zumute, als ob es jetzt auf jede Minute ankäme! Und da fiel mir die Oma ein! Die wohnte gar nicht weit weg von der Rückertgasse! Und die hatte sicher Geld zum Telefonieren für mich! Durch einen richtigen Wolkenbruch hindurch lief ich zur Oma. Klatschnass kam ich beim Haus der Oma an. Und schrecklich kalt war mir. Meine Zähne klapperten. Und meine Finger waren ganz steif. Die Nachbarin der Oma sagte mir, dass die Oma im Keller, in der Waschküche sei. Ich stolperte in den Keller hinunter. Die Waschküche war voll Dampf. Die Oma hatte eine Gummischürze umgebunden und rührte im großen Wäschekessel herum. Erschrocken schaute sie mich an und fragte: „Was ist denn passiert? Wieso bist du denn am Vormittag da? Was ist geschehen?"

„Ich brauche Geld zum Telefonieren", sagte ich und setzte mich neben den Ofen. Da war es angenehm warm. Jetzt sag mir aber, was wirklich los ist", sagte die Oma. Ich nickte und erzählte ihr alles. Alles, was ich wusste. Vom Wirt und vom Bruder, vom roten BMW, von meinem Kugelschreiber und der Ansichtskarte.

Die Oma hörte mir zu, rieb sich die Nase mit dem Daumen und dem Zeigefinger und sagte bloß; „Na ja!"

Dann schob sie eine Haarsträhne aus der Stirn unter das Kopftuch und rührte wieder im Wäschekessel. „Hilfst du mir?", fragte ich. „Bei was?", fragte sie. „Sie zurückholen", sagte ich. „Die kommt schon von allein wieder", sagte die Oma. „Nein!", rief ich. „Doch", sagte die Oma. „Dieser Erwin, der wird schon von ihr genug kriegen. Und der muss ja auch wieder heim! Und dann muss sie mit ihm zurück!" „Ich will aber, dass sie gleich zurückkommt", rief ich. „Und was soll ich da tun?", fragte die Oma. „Rede mit dem Wirt!", sagte ich. „Blödsinn", sagte die Oma. „Was soll denn der tun? Zur Polizei müsste man gehen. Weil deine Schwester minderjährig ist. Und das ist Verführung Minderjähriger!" „Dann geh zur Polizei", rief ich. Die Oma wollte nicht zur Polizei gehen. „Und überhaupt!", sagte sie. „Ich habe gar kein Recht, mich da einzumischen. Zur Polizei kann nur dein Vater gehen. Oder deine Mutter!" „Dann rede doch mit dem Papa", rief ich. Die Oma schaute bitterböse. „Er war seit einem Jahr nicht mehr bei mir! Und ich gehe nicht zu ihm! Ich nicht!" „Dann rede mit der Mama", bat ich. Ich war nahe am Heulen. „Warum redest du nicht mit ihr? Du brauchst ihr doch nur zu erzählen, was du mir erzählt hast!", sagte die Oma. „Ich kann mit der Mama nicht reden", rief ich und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Es muss jemand mit ihr reden, der ihr alles erklären kann!" „Was erklären?", fragte die Oma. „Warum die Ilse weg ist und dass die Ilse deshalb nicht schlecht ist und in kein Internat gehört! Das muss man ihr erklären und das kann ich doch nicht!" „Ich auch nicht", sagte die Oma. „Doch, du kannst es", rief ich. „Wenigstens probieren kannst du es, der Ilse zuliebe!" Die Oma legte den Wäschelöffe! auf den Tisch und öffnete unten am Ofen die kleine Tür. „Damit es allein weiterbrennt", sagte sie. Und dann sagte sie: „Na, dann komm!" Wir gingen aus der Waschküche. Die Oma merkte erst jetzt, dass ich klatschnass war. Sie wollte mit mir in die Wohnung gehen und dort meine Kleider trocknen. „Holst dir ja den Tod!", sagte sie. Aber ich wollte nicht so lange warten. Ich wollte die Sache hinter mir haben! Und ich hatte auch Angst, die Oma könnte es „sich wieder anders überlegen. Dazu wollte ich ihr keine Zeit geben. „Nein, nein", beteuerte ich. „Ich friere überhaupt nicht! Und ich bin ja fast schon wieder trocken!"

 

P e n s u m 9

 


Date: 2015-12-24; view: 1581


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