Die Amtsrätin zieht ein und auf der Post ist kein Brief
Seither sind eine Woche und ein Tag vergangen. Jeden Tag ist der Kurt auf der Polizei nachfragen gewesen. Aber die Polizei weiß nichts von der Ilse.
Der Papa war auch bei uns. Er hat der Mama einen Krach gemacht. Sie hat auf seine Tochter nicht gut genug aufgepasst, hat er gesagt. Ich habe der Mama gesagt, dass ich den Papa nicht mehr sehen will. Die Mama hat mir erklärt, ich muss ihn trotzdem jeden zweiten Samstag treffen. Weil das der Richter so bestimmt hat. Aber wenn ich zwei Jahre älter sein werde, hat die Mama gesagt, dann kann ich vor Gericht gehen und sagen, dass ich keinen Wert mehr auf die Vaterbesuche lege. Dann bin ich groß genug dazu.
In der Schule ist noch immer große Aufregung wegen der Ilse. Alle Lehrer und alle Mädchen aus ihrer Klasse fragen mich jeden Tag, ob es schon eine Spur gibt. Nur die Helli fragt mich nie. Das wundert mich. Sie war doch immer die Freundin von der Ilse. In jeder Pause sind sie zusammen auf dem Gang herummarschiert und haben miteinander geredet.
Jeden Tag nach der Schule gehe ich aufs Postamt und frage, ob ein Brief für Erika Janda da ist. Die Ilse hat mir versprochen, postlagernd zu schreiben, sobald sie in London bei der Familie mit den zwei Kindern ist. Aber bis jetzt ist noch kein Brief gekommen. Das Postfräulein schaut mich schon sehr komisch an, wenn ich nachfragen komme.
Zu Hause ist es trostlos ohne Ilse. Und zu allem Unglück ist auch noch die Amtsrätin zu uns gezogen. Die Amtsrätin ist die Mutter vom Kurt. Sie hat beschlossen, der Mama in der „schweren Zeit" beizustehen. Ob die Mama das will, hat sie nicht gefragt. Die Amtsrätin geht sogar ihrem Sohn auf die Nerven. Sie kommandiert uns alle herum. Jeden Nachmittag schickt sie mich mindestens viermal einkaufen. Einmal um Salz, einmal um Milch, einmal um Fleisch und einmal um Brot.
„Könntest du mir nicht alles auf einmal sagen, dann müsste ich nicht dauernd rennen", sagte ich gestern, sehr höflich, zu ihr. Doch das fand sie frech. Außerdem muss ich unentwegt Geschirr waschen und abtrocknen, denn die Amtsrätin braucht zum Tischdecken doppelt so viel Geschirr wie ein normaler Mensch. Zu allem braucht sie Untertassen und sieben verschiedene Löffel und Messer. Das Coca-Gola zum Essen will sie mir auch verbieten. Eben jetzt hat es wieder Krach mit ihr gegeben. „Erika, an der Wohnungstür sind schwarze Fingerabdrücke", sagte sie zu mir. Ich nickte. An der Tür sind immer schwarze Fingerabdrücke.
„Na, dann geh schon", rief sie.
„Wohin?", fragte ich.Ich wusste wirklich nicht, was sie meinte. „Unerhört!", schnaufte sie. Sie drückte mir einen Lappen in die Hand und eine Flasche mit Stinkzeug. „Tür putzen", sagte sie.
Ich wollte nicht. Die Mama schaute mich flehend an, aber ich wollte trotzdem nicht.
„Ich mach es schon", sagte die Mama und nahm mir den Lappen und das Stinkzeug ab.
„Lotte, ich habe es deiner Tochter gesagt und nicht dir", rief die Amtsrätin. Da drückte mir die Mama wieder den Lappen und das Stinkzeug in die Hände. Ich knirschte mit den Zähnen und ging zur Tür. Ich bin nicht faul, aber es hat keinen Sinn, die Tür zu putzen, weil sie eine Stunde später doch wieder verdreckt ist. Ich konnte einfach nicht einsehen, warum die Mama sich nicht traute, das der Amtsrätin zu sagen.
Aus der Küche hörte ich die Stimme der Amtsrätin: „Was mit der Ilse passiert ist, sollte dir eine Lehre sein. Da sieht man, wo man hinkommt, wenn Kinder nicht lernen, sich unterzuordnen!"
Ich putzte die Tür. Gerade als sie blitzblank war, kam die Tatjana. Ihre Finger waren voll Marmelade. Sie grinste mich an und grapschte mit allen fünf Marmeladefingern auf die Tür.
„Verschwinde, du Bestie", sagte ich und zog sie von der Tür weg. Sie begann zu kreischen und biss mich in die Hand. Ich haute ihr eine runter, sie brüllte ganz laut. Die Amtsrätin galoppierte aus der Küche, hob Tatjana hoch, schaukelte sie sanft hin und her und murmelte dazu; „Schatzilein, ist ja schon gut!"
Über den Kopf der Tatjana hinweg schaute sie mich an. So, als ob ich das fürchterlichste Wesen auf der ganzen Welt wäre. Mein einziger Trost war, dass die Tatjana mit allen fünf Marmeladefingern in die lila Locken der Amtsrätin hineingriff. Als die Amtsrätin merkte, dass da etwas an ihren Haaren klebte, ließ sie die Tatjana einfach fallen. Die Tatjana rutschte über den Bauch der Amtsrätin hinunter und hörte vor lauter Verwunderung zu brüllen auf. Dafür begann in diesem Moment der Oliver zu schreien. Er hatte sich mit der Schere in den kleinen Finger geschnitten. „Wer gibt so einem kleinen Kind auch eine Schere?", entsetzte sich die Amtsrätin und wusste nicht, ob sie den Oliver trösten oder die Marmelade aus den Haaren waschen sollte.
Und dann fing die Mama zu schreien an. Sie schrie, dass ihre Nerven total kaputt seien und dass sie all das Geschrei und Gebrüll und Gekeif nicht mehr aushalte. Da war die Amtsrätin beleidigt. Sie sagte, wir seien undankbar. Und sie werde sofort das Haus verlassen. Ich wartete den ganzen Nachmittag über, dass uns die Amtsrätin verlisst.Aber die alte, scheinheilige Ziege blieb so lange, bis der Kurt aus der Redaktion kam. Erst dann begann sie zu packen und ihm dabei ihr Leid zu klagen. Sie stopfte ihre Reisetasche voll und klagte dabei: „Man will mich hier nicht, ich gehe!"
„Die Lotte hat das sicher nicht so gemeint", sagte der Kurt. Es klang ziemlich lahm, doch der Amtsrätin genügte es. Sie packte ihren Kram wieder aus und verzieh der Mama. Zum Kurt sagte sie, dass sie im Interesse ihrer Enkel bei uns bleibt. Damit aus denen etwas wird. (Mich hat sie damit sicher nicht gemeint.)
Wenn wenigstens ein Brief für mich auf der Post wäre! Die Ilse muss doch wissen, dass ich auf einen Brief von ihr warte! Das Postfräulein hat gesagt, ein Brief aus London dauert zwei Tage, höchstens drei. Und Briefe gehen nur ganz selten verloren! Wenn ich nur die Adresse von der alten Tante von der Amrei wüsste! Die hat der Ilse den Kindermädchenjob verschafft. Dann könnte ich der alten Tante schreiben und die könnte meinen Brief der Ilse schicken. Hoffentlich ist morgen ein Brief für mich auf der Post!
Die Amrei geht in die Tanzschule und mir wird übel
Mir ist übel. Im Kopf, im Bauch, überall. Mir ist so übel, dass man es mir ansieht. Ganz grün bin ich im Gesicht, hat die Mama gesagt. Sie meint, ich kriege Scharlach. Weil bei uns im Haus ein Kind Scharlach hat.
Aber ich habe überhaupt keine Krankheit. Mir ist mitten auf der Straße so übel geworden. Ich gehe von der Schule heim, da sehe ich plötzlich ein sehr großes, dünnes Mädchen vor mir. Das Mädchen hat rotblonde Locken und eine blitzblaue Lederjacke. So eine Jacke und solche Haare sind selten. Mein Herz beginnt zu klopfen. Ich mache drei schnelle Schritte und hole das Mädchen ein. Mein Herz klopft wie ein Presslufthammer, denn das Mädchen ist tatsächlich die Amrei!
„Was ist denn passiert?", frage ich. „Bist du allein zurückgekommen? Oder ist die Ilse auch wieder da?" Die Amrei schaut mich ganz erstaunt an. „Was ist los?", fragt sie. Sie beugt sich zu mir. Unter dem Arm hat sie eine Schultasche. Ein Lineal und die Ecke von einem Geo-Dreieck schauen aus der Tasche.
„Wieso bist du denn hier?", frage ich und spüre, dass mir ein großer Knödel im Hals steckt.
„Na, weil ich zur Nachhilfestunde gehe", sagt die Amrei. Und dann sagt sie noch, ich soll meiner Schwester liebe Grüße ausrichten. Und sie wird bald einmal anrufen. Aber sie hat jetzt so wenig Zeit. Sie geht in die Tanzschule. Und in Mathe muss sie Nachhilfe nehmen. Und außerdem hat sie einen Freund. Und der beansprucht ihre ganze karge Freizeit.
Da wird mir übel.
DieAmrei sagt „Tschüs" und rennt zur Haltestelle, weil bei der Kreuzung die Straßenbahn um die Kurve bimmelt. Ich schaue der Amrei nach und mir wird noch viel übler. Ich wollte nicht nach Hause gehen. Ich ging in den Supermarkt, nahm mir einen Wagen und fuhr an den Regalen entlang.Ich dachte: Sie hat mich belogen. DieAmrei ist gar nicht von daheim weggelaufen. Sie hat mich angelogen. DieAmrei weiß nicht einmal, dass sie weg ist.
Dann schaute mich eine Verkäuferin so komisch an, weil ich mit dem leeren Wagen schon zum hundertsten Mal an ihr vorbeikam. Ich stellte den Wagen ab und ging heim. Die Mama hat gerade zu mir ins Zimmer geschaut. Ob ich etwas brauche, hat sie gefragt. Aber ich brauche nichts. Ich liege da und denke nach und komme nicht dahinter, warum mich die Ilse belogen hat. Und ich verstehe auch nicht, warum ich so blöd war, alles zu glauben. Die Ilse ist ohne Amrei weg. Also ist sie wahrscheinlich auch gar nicht in London. Und auch nicht Kindermädchen. Ich weiß genauso wenig wie die Mama und die anderen, wo die Ilse ist!
Man kann nicht tagelang im Bett liegen und krank sein, wenn man keinen Scharlach und auch sonst nichts hat, nicht einmal erhöhte Temperatur.
Der Kurt hat zu mir gesagt, wenn ich mich elend fühle, soll ich ruhig im Bett bleiben. Ganz egal, was die „Weiber" meinen. Er hat wirklich „Weiber" gesagt. Der Kurt kümmert sich in letzter Zeit sehr viel um mich. Ich glaube, er bemüht sich,die „Vaterstelle" an mir zu vertreten.