Dies ist die große Wahrheit, welche die Geologie lehrt. Ein Gas ist, seinem innersten Wesen, seinem Triebe nach, stärker als eine Flüssigkeit und diese stärker als ein fester Körper. Vergessen wir nicht, daß die Welt eine endliche Kraftsphäre hat, und daß deshalb irgend eine Idee, deren Intensität nachläßt, nicht wieder gestärkt werden kann, ohne daß eine andere Idee an Kraft verlöre. Eine Stärkung ist allerdings möglich, aber stets auf Kosten einer anderen Kraft, oder mit anderen Worten, wenn, im Kampfe der unorganischen Ideen, eine derselben geschwächt wird, so ist die im Weltall objektivirte Kraftsumme geschwächt, und für diesen Ausfall giebt es keinen Ersatz, weil eben die Welt endlich ist und mit einer bestimmten Kraft in das Dasein trat.
Wenn wir also annehmen, daß unsere Erde einmal berste, wie der Planet zwischen Mars und Jupiter auseinandergebrochen ist, so kann allerdings die ganze feste Erdkruste wieder schmelzen und alle Flüssigkeit zu Dampf werden, aber auf Kosten der Ideen, welche die Reize hierzu abgeben. Trotzdem also die Erde in den intensiveren Zustand, dem Scheine nach, durch eine solche Revolution zurückgeworfen wird, so ist sie doch im Ganzen, als eine bestimmte Kraftsumme, schwächer geworden.
Und wenn heute die gewaltigen Prozesse auf der Sonne aufhören und alle Körper unseres Sonnensystems sich dadurch wieder mit der Sonne vereinigen, und Sonne und Planeten in einem ungeheuren Weltbrande auflodern, so sind, dem Scheine nach, allerdings die das Sonnensystem constituirenden Kräfte in einen erregteren Zustand übergegangen, aber auf Kosten der Gesammtkraft, die in unserem Sonnensystem enthalten ist.
i96 Nicht anders ist es noch jetzt im unorganischen Reich. Die Ideen kämpfen unaufhörlich mit einander. Es entstehen ohne Unterbrechung neue Verbindungen, und diese werden wieder gewaltsam getrennt, aber die getrennten Kräfte vereinigen sich alsbald mit anderen, theils zwingend, theils gezwungen. Und das Resultat ist auch hier Schwächung der Kraft, obgleich dasselbe, der langsamen Entwicklung wegen, nicht offen zu Tage liegt, und der Wahrnehmung entschlüpft.
33.
Im organischen Reich herrschte, vom Augenblick seiner Entstehung an und herrscht immerfort, als Fortsetzung der ersten Bewegung, der Zerfall in die Vielheit. Das Streben jedes Organismus ist lediglich darauf gerichtet, sich im Dasein zu erhalten, und, diesem Triebe folgend, kämpft er um seine individuelle Existenz einerseits, anderseits sorgt er, vermittelst der Zeugung, für seine Erhaltung nach dem Tode.
Daß diese wachsende Zersplitterung einerseits und der dadurch immer intensiver und entsetzlicher werdende Kampf um das Dasein andererseits dasselbe Resultat haben müssen, wie der Kampf im unorganischen Reich, nämlich Schwächung der Individuen, ist klar. Hiergegen spricht nur scheinbar die Thatsache, daß das im weitesten Sinne stärkste Individuum im Kampfe um’s Dasein Sieger bleibt und das schwächere unterliegt; denn wohl siegt gewöhnlich immer das stärkere, aber in jeder neuen Generation sind die stärkeren Individuen weniger stark, die schwächeren schwächer als in der vorhergehenden.
Wie die Geologie für das unorganische Reich, so ist die Paläontologie für das organische die wichtige Urkunde, aus der, über jeden Zweifel erhaben, die Wahrheit geschöpft wird, daß im Kampfe um’s Dasein die Individuen sich zwar vervollkommnen und immer höhere Stufen der Organisation erklimmen, aber dabei schwächer werden. Diese Wahrheit drängt sich Jedem auf, der die Urkunde durchblättert und dabei Vergleiche anstellt mit unseren gegenwärtigen Pflanzen und Thieren. Die Urkunde kann dies nur lehren, weil sie über außerordentlich lange Entwicklungsreihen oder, in’s Subjektive übersetzt, über die Veränderungen in unerfaßbar langen Zeiträumen berichtet, weil sie Endglieder an Anfangsglieder von sehr großen Reihen halten und dadurch den Unterschied augenfällig machen kann. |
i97 Die Schwächung direkt zu beobachten, ist nicht möglich. Und dennoch läßt sich der Beweis für die Schwächung der Organismen, auch ohne in die Urwelt einzudringen und die Paläontologie zu Hülfe zu rufen, erbringen, – aber nur in der Politik, wie wir sehen werden. In der Physik können wir den direkten Beweis nicht liefern und müssen uns damit begnügen, auf indirektem Wege, in der steinernen Urkunde der Erdrinde, das große Gesetz der Schwächung der Organismen gefunden zu haben.
So sehen wir im organischen Reich, wie im unorganischen, eine Grundbewegung: Zerfall in die Vielheit, und hier wie dort, als erste Folge, den Streit, den Kampf, den Krieg und, als zweite Folge, die Schwächung der Kraft. Aber sowohl der Zerfall in die Vielheit, als die beiden Folgen desselben, sind im organischen Reich in jeder Beziehung größer als im unorganischen.
34.
Hier drängen sich uns die Fragen auf: In welchem Verhältnisse stehen die beiden Reiche zu einander? und liegt wirklich zwischen beiden eine unausfüllbare Kluft?
Beide Fragen haben wir eigentlich schon am Anfange der Physik beantwortet; wir müssen sie jedoch nochmals ausführlicher behandeln.
Wir haben gesehen, daß es in der Welt nur ein Princip giebt: individuellen sich bewegenden Willen zum Leben. Ob ich ein Stück Gold oder eine Pflanze, ein Thier, einen Menschen vor mir habe, ist, mit Absicht auf ihr Wesen im Allgemeinen, ganz gleich. Jedes von ihnen ist individueller Wille, Jedes lebt, strebt, will. Was sie von einander trennt, ist ihr Charakter, d.h. die Art und Weise, wie sie das Leben wollen oder ihre Bewegung.
Dies muß Vielen falsch erscheinen; denn stellen sie einen Menschen neben einen Block von Eisen, so sehen sie hier todte Ruhe, dort Beweglichkeit; hier eine gleichartige Masse, dort den wundervollsten complicirten Organismus, und betrachten sie schärfer, hier einen dumpfen, simpelen Trieb zum Mittelpunkte der Erde, dort viele Fähigkeiten, viele Willensqualitäten, steten Wechsel von Zuständen, ein reiches Gemüths-, ein herrliches Geistesleben, kurz ein entzückendes Spiel von Kräften in einer geschlossenen Einheit. Da zucken sie die Achseln und meinen: das unorganische Reich könne |
i98 doch schließlich nichts Anderes sein, als der feste, solide Boden für das organische Reich, dasselbe, was die wohlgezimmerte Bühne für die Schauspieler ist. Und sagen sie für das »organische Reich«, so sind sie schon sehr vorurtheilslose Leute, denn die Meisten scheiden die Menschen aus und lassen die ganze Natur für diese glorreichen Herren der Welt allein dasein.
Es geht ihnen aber wie demjenigen, welcher, wie ich oben zeigte, in den Einzelheiten einer Locomotive sich verliert und die Hauptsache, ihre resultirende Bewegung, darüber vergißt. Der Stein, wie der Mensch, will dasein, will leben. Ob das Leben dort ein einfacher dunkler Trieb, hier das Resultat vieler Thätigkeiten eines in Organe auseinander getretenen einheitlichen Willens ist, das ist, in Absicht auf das Leben allein, ganz gleich.
Ist das aber der Fall, so scheint es sicher zu sein, daß jeder Organismus im Grunde nur eine chemische Verbindung ist. Dies muß geprüft werden.
Wie ich oben darlegte, können zwei einfache chemische Ideen, welche in Wahlverwandtschaft stehen, eine dritte erzeugen, welche von jeder einzelnen verschieden ist. Sie sind total gebunden und in ihrer Verbindung etwas ganz Neues. Hätte das Ammoniak (NH3) Selbstbewußtsein, so würde es sich weder als Stickstoff, noch als Wasserstoff, sondern als einheitliches Ammoniak in einem bestimmten Zustande fühlen.
Einfache Verbindungen können wieder zeugen, und das Produkt ist wieder ein Drittes, ein von allen einzelnen Elementen total Verschiedenes. Hätte der Salmiak (NH3. HCl.) Selbstbewußtsein, so würde auch er sich nicht als Chlor, Stickstoff und Wasserstoff fühlen, sondern einfach als chlorwasserstoffsaueres Ammoniak.
Von hier aus gesehen ist gar kein Unterschied zwischen einer chemischen Verbindung und einem Organismus. Dieser und jene sind eine Einheit, in welcher eine gewisse Anzahl einfacher chemischer Ideen verschmolzen sind.
Aber die chemische Verbindung, an sich betrachtet, ist, so lange sie besteht, constant: sie scheidet keinen Bestandtheil aus und nimmt kein neues Element auf, oder kurz: es findet kein sogenannter Stoffwechsel statt.
Ferner ist die Zeugung im unorganischen Reich wesentlich limitirt; und nicht nur dies, sondern auch das Individuum, das zeugt, geht |
i99 im Erzeugten unter; der Typus einer Verbindung beruht auf den gebundenen Individuen, er steht und fällt mit ihnen, er schwebt nicht über ihnen.
Ein Organismus dagegen scheidet aus der Verbindung bald diesen, bald jenen Stoff aus und assimilirt sich den Ersatz, unter beständiger Aufrechterhaltung des Typus; dann zeugt er, d.h. die von ihm auf irgend eine Art abgesonderten Theile haben seinen Typus und entfalten sich gleichfalls unter beständiger Aufrechterhaltung desselben.
Diese, den Organismus von der chemischen Verbindung scheidende Bewegung ist Wachsthum im weitesten Sinne. Wir müssen also sagen, daß zwar jeder Organismus im Grunde eine chemische Verbindung ist, aber mit einer ganz anderen Bewegung. Liegt der Unterschied aber lediglich in der Bewegung und haben wir es hier, wie dort, mit individuellem Willen zum Leben zu thun, so giebt es auch gar keine Kluft zwischen organischen und unorganischen Ideen, vielmehr grenzen beide Reiche hart aneinander.
Die Organe sind es, welche gewöhnlich das Auge des Forschers trüben. Hier sieht er Organe, dort keine; da meint er denn im besten Glauben, es sei eine unermeßliche Kluft zwischen einem Stein und einer Pflanze. Er nimmt einfach einen zu niederen Standpunkt ein, von wo aus die Hauptsache, die Bewegung, nicht sichtbar ist. Jedes Organ ist nur für eine bestimmte Bewegung da. Der Stein braucht keine Organe, weil er eine einheitliche ungetheilte Bewegung hat, die Pflanze dagegen braucht Organe, weil die von ihr gewollte bestimmte Bewegung (resultirende Bewegung) nur durch Organe zu bewerkstelligen ist. Auf die Bewegung, nicht auf die Art ihrer Entstehung, kommt es an.
In der That giebt es keine Kluft zwischen dem Organischen und Unorganischen.
Indessen möchte es doch scheinen, daß der Unterschied selbst dann noch ein fundamentaler sei, wenn man die Organe als nebensächlich ansieht und sich auf den höheren Standpunkt der reinen Bewegung stellt.
Dies ist aber in der Physik nicht der Fall. Vom Standpunkte der reinen Bewegung aus ist zunächst kein größerer Unterschied zwischen einer Pflanze und Schwefelwasserstoff, als einerseits (ganz innerhalb des unorganischen Reichs) zwischen Wasserdampf und |
i100 Wasser, zwischen Wasser und Eis, oder andererseits (ganz innerhalb des organischen Reichs) zwischen einer Pflanze und einem Thier; einem Thier und einem Menschen. Die Bewegung nach allen Richtungen, die Bewegung nach dem Mittelpunkte der Erde, Wachsthum, Bewegung auf anschauliche Motive, Bewegung auf abstrakte Motive – alle diese Bewegungen begründen Unterschiede zwischen den individuellen Willen. Für mich wenigstens kann der Unterschied zwischen der Bewegung des Wasserdampfs und des Eises nicht wunderbarer sein als der zwischen der Bewegung des Eises und dem Wachsthum der Pflanze.
So stellt sich die Sache von außen. Von innen vereinfacht sie sich noch mehr. Dürfte ich dem Nachfolgenden vorgreifen, so könnte ich das Problem mit einem Worte lösen. Aber wir nehmen noch immer den niederen Standpunkt der Physik ein, und so sehr wir uns auch bei jedem Schritte in ihr nach einer Metaphysik sehnen müssen, so dürfen wir doch beide Disciplinen nicht in einander fließen lassen, was heillose Verwirrung anrichten würde.
In der Physik nun stellt sich, wie wir wissen, die erste Bewegung als Zerfall der transscendenten Einheit in die Vielheit dar. Alle Bewegungen, die ihr folgten, tragen denselben Charakter. – Zerfall in die Vielheit, Leben, Bewegung – alle diese Ausdrücke bezeichnen Eines und Dasselbe. Der Zerfall der Einheit in die Vielheit ist das Grundgesetz im unorganischen sowohl, als im organischen Reich. Im letzteren findet es aber eine viel ausgedehntere Anwendung: es schneidet viel tiefer ein, und seine Folgen, der Kampf um’s Dasein und die Schwächung der Kraft, sind größer.
So kommen wir wieder dahin zurück, von wo wir ausgegangen sind, aber mit dem Resultat, daß keine Kluft die unorganischen Körper von den Organismen trennt. Das organische Reich ist nur eine höhere Stufe des unorganischen, es ist eine vollkommenere Form für den Kampf um’s Dasein, d.h. für die Schwächung der Kraft.
35.
So abschreckend, ja so lächerlich es auch klingen mag, daß der Mensch im Grunde eine chemische Verbindung ist und sich nur dadurch von ihr unterscheidet, daß er eine andere Bewegung hat, – so wahr ist doch dieses Resultat der Physik. Es verliert seinen abstoßenden |
i101 Charakter, wenn man fest im Auge behält, daß, wo immer man auch die Natur durchforschen mag, man stets nur Ein Prinzip, den individuellen Willen, findet, der nur Eines will: leben, leben. Das Wesen eines Steines ist einfacher als das eines Löwen, aber nur an der Oberfläche, im Grunde ist es dasselbe: individueller Wille zum Leben.
Indem die immanente Philosophie das organische Reich auf das unorganische zurückführt, lehrt sie zwar dasselbe wie der Materialismus, aber sie ist deswegen nicht identisch mit ihm. Der zwischen beiden bestehende Fundamental- Unterschied ist folgender.
Der Materialismus in kein immanentes philosophisches System. Das Erste, was er lehrt, ist die ewige Materie, eine einfache Einheit, die noch Niemand gesehen hat, und auch Niemand je sehen wird. Wollte der Materialismus immanent, d.h. in der Betrachtung der Natur bloß redlich sein, so müßte er vor Allem die Materie für eine vom Subjekt unabhängige Collectiv-Einheit erklären und sagen, daß sie die Summe von so und so vielen einfachen Stoffen sei. Dies thut er aber nicht, und obgleich es noch Niemandem gelungen ist, aus Sauerstoff Wasserstoff, aus Kupfer Gold zu machen, setzt der Materialismus doch hinter jeden einfachen Stoff die mystische einfache Wesenheit, die unterschiedslose Materie. Weder Zeus, noch Jupiter, weder der Gott der Juden, Christen und Muhammedaner, noch das Brahm der Inder, kurz keine unerkennbare, transscendente Wesenheit ist je so inbrünstig, so aus dem Herzen heraus geglaubt worden, wie die mystische Gottheit Materie von den Materialisten; denn weil es unleugbar ist, daß alles Organische auf das unorganische Reich zurückgeführt werden kann, steht beim Materialisten der Kopf im Bunde mit dem Herzen und entflammt es.
Indessen, trotz der ungeheuerlichen, aller Erfahrung in’s Gesicht schlagenden Annahme einer einfachen Materie, reicht sie doch nicht aus, die Welt zu erklären. So muß denn der Materialismus zum zweiten Male die Wahrheit verleugnen, zum zweiten Male transscendent werden und verschiedene mystischen Wesenheiten, die Naturkräfte, postuliren, welche mit der Materie nicht identisch, aber für alle Zeiten mit ihr verbunden seien. Auf diese Weise beruht der Materialismus auf zwei Urprinzipien oder mit anderen Worten: es ist transscendenter dogmatischer Dualismus.
i102 In der immanenten Philosophie dagegen ist die Materie ideal, in unserem Kopfe, eine subjektive Fähigkeit für die Erkenntniß der Außenwelt, und die Substanz allerdings eine unterschiedslose Einheit, aber gleichfalls ideal, in unserem Kopfe, eine Verbindung a posteriori, auf Grund der Materie von der synthetischen Vernunft gewonnen, ohne die allergeringste Realität und nur vorhanden, um alle Objekte zu erkennen.
Unabhängig vom Subjekt giebt es nur Kraft, nur individuellen Willen in der Welt: ein einziges Prinzip.
Während also der Materialismus transscendenter dogmatischer Dualismus ist, ist die immanente Philosophie reiner immanenter Dynamismus: ein Unterschied, wie er größer nicht gedacht werden kann.
Den Materialismus das rationellste System zu nennen, ist durchaus verkehrt. Jedes transscendente System ist eo ipso nicht rationell. Der Materialismus, nur als theoretisches philosophisches System aufgefaßt, ist schlimmer als sein Ruf. Die Wahrheit, daß die einfachen chemischen Ideen das Meer sind, aus dem alles Organische sich erhoben hat, wodurch es besteht und wohin es zurücksinkt, wirft ein reines immanentes Licht auf den Materialismus und giebt ihm dadurch einen bestechenden Zauber. Aber die kritische Vernunft läßt sich nicht täuschen. Sie untersucht genau, und so findet sie hinter dem blendenden Scheine das alte Hirngespinnst: die transscendente Einheit in oder über oder unter der Welt und coexistirend mit ihr, welche bald in diesen, bald in jenen, immer in phantastischen Hüllen auftritt.
36.
Wir haben jetzt das Verhältniß des Einzelwesens zur Gesammtheit, zur Welt, zu prüfen.
Hier ergiebt sich eine große Schwierigkeit. Ist nämlich der individuelle Wille zum Leben das einzige Princip der Welt, so muß er durchaus selbstständig sein. Ist er aber selbstständig und durchaus unabhängig, so ist ein dynamischer Zusammenhang nicht möglich. Die Erfahrung lehrt nun gerade das Gegentheil: sie drängt jedem treuen Naturbeobachter den dynamischen Zusammenhang auf und zeigt ihm zugleich die Abhängigkeit des Individuums von dem|selben.
i103 Folglich (so ist man versucht zu schließen) kann der individuelle Wille nicht das Princip der Welt sein.
In der philosophischen Kunstsprache stellt sich das Problem so dar: Entweder sind die Einzelwesen selbstständige Substanzen, und dann ist der influxus physicus eine Unmöglichkeit; denn wie soll auf ein durchaus selbstständiges Wesen ein anderes einwirken, Veränderungen in ihm mit Zwang hervorrufen können? oder die Einzelwesen sind keine selbstständigen Substanzen, und dann muß es Eine einfache Substanz geben, welche die Einzelwesen actuirt, von welcher gleichsam die Einzelwesen das Leben nur zu Lehen haben.
Das Problem ist außerordentlich wichtig, ja, man kann es für das wichtigste der ganzen Philosophie erklären. Die Selbstherrlichkeit des Individuums ist in der größten Gefahr, und es scheint, nach der obigen Darstellung, als ob sie unrettbar verloren sei. Gelingt es der immanenten Philosophie nicht, das Individuum, das sie seither so treu beschützte, hier zu retten, so ist der logische Zwang da, es für eine Marionette zu erklären und es bedingungslos in die allmächtige Hand irgend eines transscendenten Wesens zurückzugeben. Dann heißt es nur noch: entweder Monotheismus, oder Pantheismus. Dann lügt die Natur und drückt uns Katzengold, anstatt echtes, in die Hand, wenn sie uns überall nur Individuen zeigt und nirgends eine einfache Einheit; dann belügen wir uns selbst, wenn wir uns im innersten Selbstbewußtsein erfassen als banges oder trotziges, seliges oder leidendes Ich; dann giebt es kein rein immanentes Gebiet, und es kann deshalb auch eine immanente Philosophie nur ein Lug- und Trugwerk sein.
Gelingt es uns dagegen, den individuellen Willen, die Thatsache der inneren und äußeren Erfahrung, zu retten, – dann ist aber auch der logische Zwang da, definitiv und für immer mit allen transscendenten Hirngespinnsten zu brechen, sie mögen nun auftreten in der Hülle des Monotheismus, oder Pantheismus, oder Materialismus; dann ist – und zwar zum ersten Male – der Atheismus wissenschaftlich begründet.
Man sieht, wir stehen vor einer sehr wichtigen Frage.
Man vergesse indessen nicht, daß die Physik nicht der Ort ist, wo die Wahrheit alle ihre Schleier fallen lassen kann. Ihr edeles Antlitz wird sie uns erst später in seiner ganzen holdseligen Klar|heit
i104 und Schönheit zeigen. In der Physik können Fragen, wie die Vorliegende, nur zur Hälfte, im günstigsten Falle, gelöst werden. Dies ist aber auch gerade genug.
Ich werde mich sehr kurz fassen können. Wir haben uns in der Analytik das transscendente Gebiet nicht erschlichen. Wir haben gesehen, daß kein causales Verhältniß, weder das Causalitätsgesetz, noch die allgemeine Causalität, in die Vergangenheit der Dinge zurückführen kann, sondern nur die Zeit. An ihrer Hand verfolgten wir die Entwicklungsreihen a parte ante, fanden aber, daß wir auf immanentem Gebiete niemals über die Vielheit hinaus können. Wie Luftschiffer nie die Grenze der Atmosphäre erreichen, sondern, sie mögen noch so hoch steigen, immer von der Luft umschlossen sein werden, so verließ uns nie die Thatsache der inneren und äußeren Erfahrung: der individuelle Wille. Dagegen forderte unsere Vernunft mit Recht unerbittlich die einfache Einheit. In dieser Bedrängniß war nur ein Ausweg: die Individuen jenseit des immanenten Gebietes in eine unbegreifliche Einheit zusammenfließen zu lassen. Wir befanden uns nicht in der Gegenwart, in welcher man niemals, nie über das Sein schlechthin des Objekts hinaus kann, sondern in der Vergangenheit, und als wir deshalb das gefundene transscendente Gebiet für nicht mehr existirend, sondern für vorweltlich und untergegangen erklärten, führten wir keinen logischen Gewaltstreich aus, sondern dienten in Treue der Wahrheit.
Alles, was ist, war mithin in einer einfachen vorweltlichen Einheit, vor welcher, wie wir uns erinnern werden, alle unsere Erkenntnißvermögen zusammenbrachen. Wir konnten uns »weder ein Bildniß, noch irgend ein Gleichniß« von ihr machen, mithin auch keine Vorstellung der Art und Weise gewinnen, wie die immanente Welt der Vielheit einst in der einfachen Einheit existirt hat. Aber eine unumstößliche Gewißheit gewannen wir, nämlich daß diese Welt der Vielheit einst eine einfache Einheit gewesen war, neben welcher nichts Anderes existiren konnte.
Hier liegt nun der Schlüssel für die Lösung des Problems, womit wir beschäftigt sind.
Warum und wie die Einheit in die Vielheit zerfiel, das sind Fragen, die in keiner Physik gestellt werden dürfen. Nur das können wir hier sagen, daß, auf was immer auch der Zerfall zurückgeführt |
i105 werden mag, er die That einer einfachen Einheit war. Wenn wir mithin auf immanentem Gebiete nur individuellen Willen finden und die Welt nichts Anderes ist, als eine Collectiv-Einheit dieser Individuen, so sind dieselben dennoch nicht durchaus selbstständig, da sie vorweltlich eine einfache Einheit waren und die Welt die That dieser Einheit gewesen ist. So liegt, gleichsam wie ein Reflex, über der Welt der Vielheit die vorweltliche Einheit, so umschlingt gleichsam alle Einzelwesen Ein unsichtbares, unzerreißbares Band, und dieser Reflex, dieses Band, ist der dynamische Zusammenhang der Welt. Jeder Wille wirkt auf alle anderen direkt oder indirekt, und alle anderen Willen wirken auf ihn direkt und indirekt, oder alle Ideen sind in »durchgängiger Wechselwirkung«.
So haben wir denn das zur Hälfte selbstständige Individuum, halb activ aus eigener Kraft, halb leidend durch die anderen Ideen. Es greift in die Entwicklung der Welt selbstherrlich ein, und die Entwicklung der Welt greift in seine Individualität.
Alle Fetische, alle Götter, Dämonen und Geister verdanken der einseitigen Betrachtung des dynamischen Zusammenhanges der Welt ihre Entstehung. Ging es dem Menschen, im grauen Alterthum, gut, so dachte er nicht an Fetische, Götter, Dämonen und Geister. Da fühlte das Individuum seine Kraft und hielt sich, den nie rastenden Einfluß der anderen Ideen, seiner momentanen linden Einwirkung wegen, nicht spürend, nur für activ und geberdete sich selbst wie ein Gott. Griffen dagegen die anderen Ideen in furchtbarer, entsetzlicher Wirksamkeit den Menschen an, da verschwand seine Kraft ganz aus seinem Bewußtsein, da sah er in der Wirksamkeit der anderen Ideen die Alles zermalmende Allmacht einer zürnenden transscendenten Wesenheit und zerschlug sich den Kopf vor Bildnissen von Holz und Stein, zitternd am ganzen Leibe und in namenloser Seelenangst. Heutzutage wird es wohl anders sein.
Seither, ehe das transscendente Gebiet vom immanenten geschieden war, und zwar derartig, daß ersteres für vorweltlich allein existirend, dieses für jetzt allein existirend erklärt wurde, fällte man mit Recht das disjunktive Urtheil: entweder ist das Individuum selbstständig, dann ist der influxus physicus (der dynamische Zusammenhang) unmöglich, oder es ist nicht selbstständig, dann ist der influxus physicus die Wirksamkeit irgend einer einfachen Sub|stanz.
i106 Jetzt aber hat dieses Entweder – Oder keine Berechtigung mehr. Der individuelle Wille zum Leben ist, trotz seiner halben Selbstständigkeit, als einziges Princip der Welt gerettet.
Das Ergebniß der halben Selbstherrlichkeit ist jedoch unbefriedigend. Jeder klare, vorurtheilslose Kopf fordert die Ergänzung. Wir werden sie uns in der Metaphysik erringen.
37.
In der Analytik haben wir den Charakter der vorweltlichen einfachen Einheit nach den Erkenntnißvermögen negativ bestimmt. Wir haben gefunden, daß die Einheit unthätig, ausdehnungslos, unterschiedslos, unzersplittert (einfach), bewegungslos, zeitlos (ewig) gewesen sei. Jetzt haben wir sie vom Standpunkte der Physik aus zu bestimmen.
Was für ein Objekt wir auch in der Natur in’s Auge fassen mögen, es sei ein Gas, eine Flüssigkeit, ein Stein, eine Pflanze, ein Thier, ein Mensch, immer finden wir es in einem unablässigen Streben, in einer unaufhörlichen inneren Bewegung. Der transscendenten Einheit aber war die Bewegung fremd. Der Gegensatz der Bewegung ist Ruhe, von der wir uns in keiner Weise eine Vorstellung machen können; denn nicht von der scheinbaren äußeren Ruhe ist hier die Rede, die wir allerdings, im Gegensatze zur Ortsveränderung eines ganzen Objekts oder von Theilen desselben, sehr wohl vorzustellen im Stande sind, sondern von der inneren absoluten Bewegungslosigkeit. Wir müssen also der vorweltlichen Einheit die absolute Ruhe zusprechen.
Vertiefen wir uns dann in den dynamischen Zusammenhang des Weltalls einerseits und in den bestimmten Charakter der Individuen andererseits, so erkennen wir, daß Alles in der Welt mit Nothwendigkeit sich bewegt. Was wir auch betrachten mögen: den Stein, den unsere Hand losläßt, die wachsende Pflanze, das auf anschauliche Motive und inneren Drang sich bewegende Thier, den Menschen, der einem zureichenden Motiv widerstandslos sich ergeben muß, – Alle stehen unter dem eisernen Gesetze der Nothwendigkeit. In der Welt ist kein Platz für die Freiheit. Und, wie wir in der Ethik deutlich sehen werden, muß es so sein, wenn die Welt überhaupt einen Sinn haben soll.
i107 Was Freiheit in philosophischer Bedeutung (liberum arbitrium indifferentiae) sei, können wir zwar mit Worten bestimmen und etwa sagen, daß sie die Fähigkeit eines Menschen von einem bestimmten Charakter sei, einem zureichenden Motiv gegenüber zu wollen oder nicht zu wollen; aber denken wir auch nur einen Augenblick über diese so leicht bewerkstelligte Verbindung von Worten nach, so erkennen wir sofort, daß wir niemals einen realen Beleg für diese Freiheit erlangen werden, wäre es uns auch möglich, Jahrtausende lang die Handlungen sämmtlicher Menschen bis auf den Grund zu prüfen. So geht es uns mit der Freiheit wie mit der Ruhe. Der einfachen Einheit aber müssen wir die Freiheit beilegen, eben weil sie eine einfache Einheit war. Bei ihr fällt der Zwang des Motivs, der eine Faktor jeder uns bekannten Bewegung, fort, denn sie war unzersplittert, ganz allein und einsam.
Dem immanenten Schema:
Welt der Vielheit – Bewegung – Nothwendigkeit
steht mithin das transscendente Schema:
Einfache Einheit – Ruhe – Freiheit
gegenüber.
Und nun haben wir den letzten Schritt zu machen.
Schon in der Analytik haben wir gefunden, daß die Kraft, sobald sie über das dünne Fädchen der Existenz vom immanenten Gebiet auf das transscendente gegangen ist, aufhört Kraft zu sein. Sie wird uns völlig unbekannt und unerkennbar wie die Einheit, in der sie untergeht. Im weiteren Fortgang des Abschnitts fanden wir, daß das, was wir Kraft nennen, individueller Wille sei, und in der Physik haben wir schließlich gesehen, daß der Geist nur die Function eines vom Willen ausgeschiedenen Organs und auf dem tiefsten Grunde nichts Anderes, als ein Theil einer gespaltenen Bewegung sei.