Je allbekannter die Data sind, desto schwerer ist es, sie auf
eine neue und doch richtige Weise zu combiniren, da schon
eine überaus große Anzahl von Köpfen sich an ihnen
versucht und die möglichen Combinationen derselben
erschöpft hat.
Schopenhauer.
i3
1.
Die wahre Philosophie muß rein immanent sein, d.h. ihr Stoff sowohl, als ihre Grenze muß die Welt sein. Sie muß die Welt aus Principien, welche in derselben von jedem Menschen erkannt werden können, erklären und darf weder außerweltliche Mächte, von denen man absolut Nichts wissen kann, noch Mächte in der Welt, welche jedoch ihrem Wesen nach nicht zu erkennen wären, zu Hülfe rufen.
Die wahre Philosophie muß ferner idealistisch sein, d.h. sie darf das erkennende Subjekt nicht überspringen und von den Dingen reden, als ob dieselben, unabhängig von einem Auge, das sie sieht, einer Hand, die sie fühlt, genau ebenso seien, wie das Auge sie sieht, die Hand sie fühlt. Ehe sie wagt einen Schritt zu thun, um das Räthsel der Welt zu lösen, muß sie sorgfältig und genau das Erkenntnißvermögen untersucht haben. Es kann sich ergeben:
1. daß das erkennende Subjekt ganz aus eigenen Mitteln die Welt producirt;
2. daß das Subjekt die Welt genau so wahrnimmt wie sie ist;
3. daß die Welt ein Produkt ist theils des Subjekts, theils eines vom Subjekt unabhängigen Grundes der Erscheinung.
Der Ausgang vom Subjekt ist also der Anfang des einzig sicheren Weges zur Wahrheit. Es ist möglich, wie ich hier noch sagen darf, ja muß, daß den Philosophen ein Sprung über das Subjekt auch darauf führt; aber ein solches Verfahren, das Alles dem Zufall anheimgiebt, wäre eines besonnenen Denkers unwürdig.
2.
Die Quellen, aus denen alle Erfahrung, alle Erkenntniß, all unser Wissen fließt, sind:
i4 1) die Sinne,
2) das Selbstbewußtsein.
Eine dritte Quelle giebt es nicht.
3.
Wir betrachten zuerst die sinnliche Erkenntniß. Ein vor mir stehender Baum wirft die ihn treffenden Lichtstrahlen geradlinig zurück. Einige derselben fallen in mein Auge und machen auf der Netzhaut einen Eindruck, den der erregte Sehnerv zum Gehirne weiterleitet.
Ich betaste einen Stein, und die Gefühlsnerven leiten die erhaltenen Empfindungen zum Gehirne weiter.
Ein Vogel singt und bringt dadurch eine Wellenbewegung in der Luft hervor. Einige Wellen treffen mein Ohr, das Trommelfell erzittert, und der Gehörnerv leitet den Eindruck zum Gehirne.
Ich ziehe den Duft einer Blume ein. Er berührt die Schleimhäute der Nase und erregt den Riechnerv, der den Eindruck zum Gehirne bringt.
Eine Frucht erregt meine Geschmacksnerven, und sie pflanzen den Eindruck zum Gehirne fort.
Die Function der Sinne ist mithin: Weiterleitung der Eindrücke zum Gehirne.
Da indessen diese Eindrücke von einer ganz bestimmten Natur und das Produkt einer Reaction sind, welche gleichfalls eine Function ist, so empfiehlt sich, den Sinn in Sinnesorgan und Leitungsapparat zu scheiden. Es wäre demnach die Function des Sinnesorgans einfach in die Hervorbringung des specifischen Eindrucks und die Function des Leitungsapparats wie oben in die Weiterleitung des bestimmten Eindrucks zu setzen.
4.
Die vom Gehirne nach außen verlegten Sinneseindrücke heißen Vorstellungen; die Gesammtheit dieser ist die Welt als Vorstellung. Sie zerfällt in:
1) die anschauliche Vorstellung oder kurz die Anschauung;
2) die nicht-anschauliche Vorstellung.
Erstere beruht auf dem Gesichtssinn und theilweise auf dem |
i5 Tastsinn (Fühlsinn); letztere auf dem Gehör-, Geruchs- und Geschmackssinn, sowie theilweise auf dem Fühlsinn.
5.
Wir haben jetzt zu sehen, wie die anschauliche Vorstellung, die Anschauung, für uns entsteht, und beginnen mit dem Eindruck, den der Baum im Auge gemacht hat. Mehr ist bis jetzt noch nicht geschehen. Es hat eine gewisse Veränderung auf der Retina stattgefunden und diese Veränderung hat mein Gehirn afficirt. Geschähe nichts weiter, wäre der Vorgang hier beendet, so würde mein Auge nie den Baum sehen; denn wie sollte die schwache Veränderung in meinen Nerven zu einem Baume in mir verarbeitet werden können, und auf welche wunderbare Weise sollte ich ihn sehen?
Aber das Gehirn reagirt auf den Eindruck, und das Erkenntnißvermögen, welches wir Verstand nennen, tritt in Thätigkeit. Der Verstand sucht die Ursache der Veränderung im Sinnesorgan, und dieser Uebergang von der Wirkung im Sinnesorgan zur Ursache ist seine alleinige Function, ist das Causalitätsgesetz. Diese Function ist dem Verstande angeboren und liegt in seinem Wesen vor aller Erfahrung, wie der Magen die Fähigkeit zum Verdauen haben muß, ehe die erste Nahrung in ihn kommt. Wäre das Causalitätsgesetz nicht die apriorische Function des Verstandes, so würden wir nie zu einer Anschauung gelangen. Das Causalitätsgesetz ist, nach den Sinnen, die erste Bedingung der Möglichkeit der Vorstellung und liegt deshalb a priori in uns.
Auf der anderen Seite jedoch würde der Verstand nie in Function treten können und wäre ein todtes, unnützes Erkenntnißvermögen, wenn er nicht von Ursachen erregt würde. Sollen die Ursachen, welche zur Anschauung führen, in den Sinnen liegen, wie die Wirkungen, so müßten sie von einer unerkennbaren, allmächtigen fremden Hand in uns hervorgebracht werden, was die immanente Philosophie verwerfen muß. Es bleibt also nur die Annahme, daß vom Subjekt vollkommen unabhängige Ursachen in den Sinnesorganen Veränderungen hervorbringen, d.h. daß selbstständige Dinge an sich den Verstand in Function setzen.
So gewiß demnach das Causalitätsgesetz in uns, und zwar vor aller Erfahrung, liegt, so gewiß ist auf der anderen Seite die vom Subjekt unabhängige Existenz von Dingen an sich, deren Wirksamkeit den Verstand allererst in Function setzt.
i6
6.
Der Verstand sucht zur Sinnesempfindung die Ursache, und, indem er die Richtung der eingefallenen Lichtstrahlen verfolgt, gelangt er zu ihr. Er würde jedoch Nichts wahrnehmen, wenn nicht in ihm, vor aller Erfahrung, Formen lägen, in welche er die Ursache gleichsam gießt. Die eine derselben ist der Raum.
Wenn man vom Raume spricht, so hebt man gewöhnlich hervor, daß er drei Dimensionen: Höhe, Breite und Tiefe habe und unendlich sei, d.h. es sei zu denken unmöglich, daß der Raum eine Grenze habe, und die Gewißheit, nie in seiner Durchmessung zu einem Ende zu kommen, sei eben seine Unendlichkeit.
Daß der unendliche Raum unabhängig vom Subjekt existire und seine Einschränkung, die Räumlichkeit, zum Wesen der Dinge an sich gehöre, ist eine von der kritischen Philosophie überwundene, aus der naiven Kindheit der Menschheit stammende Ansicht, welche zu widerlegen eine unnütze Arbeit wäre. Es giebt außerhalb des anschauenden Subjekts weder einen unendlichen Raum, noch endliche Räumlichkeiten.
Aber der Raum ist auch keine reine Anschauung a priori des Subjekts, noch hat dieses die reine Anschauung a priori von endlichen Räumlichkeiten, durch deren Aneinanderfügung es zur Anschauung eines Alles umfassenden, einigen Raumes gelangen könnte, wie ich im Anhange beweisen werde.
Der Raum als Verstandesform (vom mathematischen Raume ist jetzt nicht die Rede) ist ein Punkt, d.h. der Raum als Verstandesform ist nur unter dem Bilde eines Punktes zu denken. Dieser Punkt hat die Fähigkeit (oder ist geradezu die Fähigkeit des Subjekts), die Dinge an sich, welche auf die betreffenden Sinnesorgane wirken, nach drei Richtungen hin zu begrenzen. Das Wesen des Raumes ist demnach die Fähigkeit, nach drei Dimensionen in unbestimmte Weite (in indefinitum) auseinander zu treten. Wo ein Ding an sich aufhört zu wirken, da setzt ihm der Raum die Grenze, und der Raum hat nicht die Kraft, ihm allererst Ausdehnung zu verleihen. Er verhält sich vollkommen indifferent in Betreff der Ausdehnung. Er ist gleich gefällig, einem Palast wie einem Quarzkörnchen, einem Pferd wie einer Biene die Grenze zu geben. Das Ding an sich bestimmt ihn, sich so weit zu entfalten, als es wirkt.
i7 Wenn demnach auf der einen Seite der (Punkt-) Raum eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, eine apriorische Form unseres Erkenntnißvermögens ist, so ist andrerseits gewiß, daß jedes Ding an sich eine vom Subjekt total unabhängige Wirksamkeitssphäre hat. Diese wird nicht vom Raume bestimmt, sondern sie sollicitirt den Raum, sie genau da zu begrenzen, wo sie aufhört.
7.
Die zweite Form, welche der Verstand zur Hülfe nimmt, um die aufgefundene Ursache wahrzunehmen, ist die Materie.
Sie ist gleichfalls unter dem Bilde eines Punktes zu denken (von der Substanz ist hier nicht die Rede). Sie ist die Fähigkeit, jede Eigenschaft der Dinge an sich, jede specielle Wirksamkeit derselben innerhalb der vom Raume gezeichneten Gestalt genau und getreu zu objektiviren; denn das Objekt ist nichts Anderes, als das durch die Formen des Subjekts gegangene Ding an sich. Ohne die Materie kein Objekt, ohne Objekte keine Außenwelt.
Mit Absicht auf die oben ausgeführte Spaltung des Sinnes in Sinnesorgan und Leitungsapparat ist die Materie zu definiren als Punkt, wo sich die weitergeleiteten Sinneseindrücke, welche die Verarbeiteten speciellen Wirksamkeiten anschaulicher Dinge an sich sind, vereinigen. Die Materie ist mithin die gemeinsame Form für alle Sinneseindrücke oder auch die Summe sämmtlicher Sinneseindrücke von Dingen an sich der anschaulichen Welt.
Die Materie ist also eine weitere Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, oder eine apriorische Form unseres Erkenntnißvermögens. Ihr steht, vollkommen unabhängig, die Summe der Wirksamkeiten eines Dinges an sich, oder, mit einem Wort, die Kraft gegenüber. Insofern eine Kraft Gegenstand der Wahrnehmung eines Subjekts wird, ist sie Stoff (objektivirte Kraft); hingegen ist jede Kraft, unabhängig von einem wahrnehmenden Subjekt, frei von Stoff und nur Kraft.
Es ist deshalb wohl zu bemerken, daß, so genau und photographisch getreu auch die subjektive Form Materie die besonderen Wirkungsarten eines Dinges an sich wiedergiebt, die Wiedergebung doch toto genere von der Kraft verschieden ist. Die Gestalt eines Objekts ist identisch mit der Wirksamkeitssphäre des ihm zu Grunde liegenden Dinges an sich, aber die von der Materie objektivirten |
i8 Kraftäußerungen des Dinges an sich sind nicht mit diesen, ihrem Wesen nach, identisch. Auch findet keine Aehnlichkeit statt, weshalb man nur mit dem größten Vorbehalt ein Bild zur Verdeutlichung heranziehen und etwa sagen kann: die Materie stelle die Eigenschaften der Dinge dar, wie ein farbiger Spiegel Gegenstände zeige, oder das Objekt verhalte sich zum Ding an sich wie eine Marmorbüste zu einem Thonmodell. Das Wesen der Kraft ist eben vom Wesen der Materie toto genere verschieden.
Gewiß deutet die Röthe eines Objekts auf eine besondere Eigenschaft des Dinges an sich, aber die Röthe hat mit dieser Eigenschaft nicht Wesensgleichheit. Es ist ganz unzweifelhaft, daß zwei Objekte, von denen das eine glatt und biegsam, das andere rauh und spröde ist, Unterschiede erscheinen lassen, welche im Wesen der beiden Dinge an sich begründet sind; aber die Glätte, die Rauhigkeit, die Biegsamkeit und Sprödigkeit von Objekten haben mit den betreffenden Eigenschaften der Dinge an sich keine Wesensgleichheit.
Wir haben deshalb hier zu erklären, daß das Subjekt ein Hauptfaktor bei der Herstellung der Außenwelt ist, obgleich es die Wirksamkeit eines Dinges an sich nicht fälscht, sondern nur genau wiedergiebt, was auf dasselbe wirkt. Es ist hiernach das Objekt vom Dinge an sich, die Erscheinung von dem in ihr Erscheinenden verschieden. Ding an sich und Subjekt machen das Objekt. Aber nicht der Raum ist es, welcher das Objekt vom Dinge an sich unterscheidet, und ebenso wenig ist es die Zeit, wie ich gleich zeigen werde, sondern die Materie allein bringt die Kluft zwischen dem Erscheinenden und seiner Erscheinung hervor, obgleich die Materie sich ganz indifferent verhält und aus eigenen Mitteln weder eine Eigenschaft in das Ding an sich legen, noch seine Wirksamkeit verstärken oder schwächen kann. Sie objektivirt einfach den gegebenen Sinneseindruck und es ist ihr ganz gleich, ob sie die dem schreiendsten Roth oder dem sanftesten Blau, der größten Härte oder der vollen Weichheit zum Grunde liegende Eigenschaft des Dinges an sich zur Vorstellung zu bringen hat; aber sie kann den Eindruck nur ihrer Natur gemäß vorstellen, und hier muß deshalb das Messer eingesetzt werden, um den richtigen, so überaus wichtigen Schnitt durch das Ideale und Reale machen zu können.
i9
8.
Das Werk des Verstandes ist mit der Auffindung der Ursache zur betreffenden Veränderung im Sinnesorgan und mit ihrer Eingießung in seine beiden Formen Raum und Materie (Objektivirung der Ursache) beendigt.
Beide Formen sind gleich wichtig und unterstützen sich gegenseitig. Ich hebe hervor, daß wir ohne den Raum keine hinter einander liegenden Objekte haben würden, daß dagegen der Raum seine Tiefendimension nur an den von der Materie gelieferten abgetönten Farben, an Schatten und Licht in Anwendung bringen kann.
Der Verstand allein hat demnach die Sinneseindrücke zu objektiviren und kein anderes Erkenntnißvermögen unterstützt ihn bei seiner Arbeit. Aber fertige Objekte kann der Verstand nicht liefern.
9.
Die vom Verstande objektivirten Sinneseindrücke sind keine ganzen, sondern Theil-Vorstellungen. So lange der Verstand allein thätig ist was nie der Fall ist, da unsere sämmtlichen Erkenntnißvermögen, das eine mehr, das andere weniger, stets zusammen functioniren, doch ist hier eine Trennung nöthig werden nur diejenigen Theile des Baumes deutlich gesehen, welche das Centrum der Retina oder solche Stellen treffen, die dem Centrum sehr nahe liegen. Wir ändern deshalb während der Betrachtung des Objekts unaufhörlich die Stellung unserer Augen. Bald bewegen wir die Augen vom Wurzelpunkte zur äußersten Spitze der Krone, bald von rechts nach links, bald umgekehrt, bald lassen wir sie über eine kleine Blüthe unzählige Mal gleiten: nur um jeden Theil mit dem Centrum der Retina in Berührung zu bringen. Auf diese Weise gewinnen wir eine Menge einzelner deutlicher Theilvorstellungen, welche jedoch der Verstand nicht zu einem Objekte an einander fügen kann.
Soll dies geschehen, so müssen sie vom Verstande einem anderen Erkenntnißvermögen, der Vernunft, übergeben werden.
10.
Die Vernunft wird von drei Hülfsvermögen unterstützt: dem Gedächtniß, der Urtheilskraft und der Einbildungskraft. |
i10 Sämmtliche Erkenntnißvermögen sind, zusammengefaßt, der menschliche Geist, so daß sich folgendes Schema ergiebt:
Die Function der Vernunft ist Synthesis oder Verbindung als Thätigkeit. Ich werde fortan immer, wenn von der Function der Vernunft die Rede ist, das Wort Synthesis gebrauchen, dagegen Verbindung für das Produkt, das Verbundene, setzen.
Die Form der Vernunft ist die Gegenwart.
Die Function des Gedächtnisses ist: Aufbewahrung der Sinneseindrücke.
Die Function der Urtheilskraft ist: Zusammenstellung des Zusammengehörigen.
Die Function der Einbildungskraft ist: Festhaltung des von der Vernunft verbundenen Anschaulichen als Bild.
Die Function des Geistes überhaupt aber ist: die Thätigkeit aller Vermögen mit Bewußtsein zu begleiten und ihre Erkenntnisse im Punkte des Selbstbewußtseins zu verknüpfen.
11.
In Gemeinschaft mit der Urtheilskraft und Einbildungskraft steht die Vernunft in den engsten Beziehungen zum Verstaube, behufs Herstellung der Anschauung, mit welcher wir uns noch ausschließlich beschäftigen.
Zunächst gibt die Urteilskraft der Vernunft die zusammengehörigen Theilvorstellungen. Diese verbindet dieselben (also etwa solche, welche zu einem Blatte, einem Zweig, zum Stamme gehören) nach und nach, indem sie immer die Einbildungskraft das Verbundene festhalten läßt, an dieses Bild ein neues Stück fügt und das Ganze wieder von der Einbildungskraft festhalten läßt u.s.w. Dann verbindet sie das ungleichartig Zusammengehörige, also den Stamm, die Aeste, Zweige, Blätter und Blüthen in ähnlicher Weise, und zwar wiederholt sie ihre Verbindungen im Einzelnen und Ganzen je nachdem es erforderlich ist.
i11 Die Vernunft übt ihre Function auf dem gleichsam fortrollenden Punkte der Gegenwart aus, und ist die Zeit dazu unnöthig; doch kann die Synthesis auch in dieser stattfinden: Näheres später. Die Einbildungskraft trägt das jeweilig Verbundene immer von Gegenwart zu Gegenwart, und die Vernunft fügt Stück an Stück, stets in der Gegenwart verbleibend, d.h. auf dem Punkte der Gegenwart fortrollend.
Die gewöhnliche Ansicht ist, daß der Verstand das synthetische Vermögen sei; ja es giebt Viele, welche in gutem Glauben behaupten: Synthesis finde überhaupt nicht statt, jeder Gegenstand werde sofort als Ganzes aufgefaßt. Beide Ansichten sind unrichtig. Der Verstand kann nicht verbinden, weil er nur eine einzige Function hat: Uebergang von der Wirkung im Sinnesorgan zur Ursache. Die Synthesis selbst aber kann nie ausfallen, selbst dann nicht, wenn man nur den Kopf einer Stecknadel betrachtet, wie eine scharfe Selbstbeobachtung Jedem zeigen wird; denn die Augen werden sich, wenn auch fast unmerklich, bewegen. Die Täuschung entspringt hauptsächlich daraus, daß wir uns zwar fertiger Verbindungen bewußt sind, aber die Synthesis fast immer unbewußt ausüben: erstens wegen der großen Schnelligkeit, mit der sowohl das vollkommenste Sinnesorgan, das Auge, Eindrücke empfängt und der Verstand dieselben objectivirt, als auch die Vernunft selbst verbindet; zweitens weil wir uns so wenig erinnern, daß wir, als Kinder, die Synthesis allmählich und mit großer Mühe anzuwenden erlernen mußten, wie daß uns die Tiefendimension des Raumes anfänglich ganz unbekannt war. Wie wir jetzt, beim Aufschlagen der Augenlider, sofort jeden Gegenstand in der richtigen Entfernung und ihn selbst, seiner Ausdehnung nach, fehlerlos auffassen, während es eine unbestrittene Thatsache ist, daß dem Neugeborenen der Mond sowohl, als die Bilder der Stube und das Gesicht der Mutter, als Farbenklexe einer einzigen Fläche, dicht vor den Augen schweben, so fassen wir jetzt sofort in einem rapiden Ueberblick die Objekte, selbst die größten, als ganze auf, während wir als Säuglinge gewiß nur Theile von Objekten sahen und in Folge der geringen Uebung unserer Urtheils- und Einbildungskraft weder das Zusammengehörige beurtheilen, noch die entschwundenen Theilvorstellungen festhalten konnten.
Die Täuschung entsteht ferner daraus, daß die meisten Gegenstände, aus passender Entfernung betrachtet, ihr ganzes Bild auf |
i12 die Retina zeichnen und die Synthesis dadurch so erleichtert wird, daß sie der Wahrnehmung entschlüpft. Einem aufmerksamen Selbstbeobachter drängt sie sich aber schon unwiderstehlich auf, wenn er sich einem Objekt in einer Weise gegenüberstellt, daß er es nicht ganz übersieht, also so, daß wahrgenommene Theile im Fortgange der Synthesis verschwinden. Noch deutlicher tritt sie hervor, wenn wir an einem Gebirgszuge dicht vorbeifahren und seine ganze Gestalt erfassen wollen. Am deutlichsten aber wird sie erkannt, wenn wir den Gesichtssinn überspringen und den Tastsinn allein functioniren lassen, wie ich an einem Beispiel im Anhange ausführlich zeigen werde.
Die Synthesis ist eine apriorische Function des Erkenntnißvermögens und als solche eine Bedingung a priori der Möglichkeit der Anschauung. Ihr steht, vollkommen unabhängig von ihr, die Einheit des Dinges an sich gegenüber, welche sie zwingt, in einer ganz bestimmten Weise zu verbinden.
12.
Wir haben das Gebiet der Anschauung noch nicht ganz durchmessen, müssen es jedoch jetzt für kurze Zeit verlassen.
In der angegebenen Weise entsteht uns die sichtbare Welt. Es ist aber wohl zu bemerken, daß durch die Synthesis von Theilvorstellungen zu Objekten das Denken durchaus nicht in die Anschauung gebracht wird. Die Verbindung eines gegebenen Mannigfaltigen der Anschauung ist allerdings ein Werk der Vernunft, aber kein Werk in Begriffen oder durch Begriffe, weder durch reine apriorische (Kategorien), noch durch gewöhnliche Begriffe.
Die Vernunft beschränkt indessen ihre Thätigkeit nicht auf die Synthesis von Theilvorstellungen des Verstandes zu Objekten. Sie übt ihre Funktion, die immer eine und dieselbe ist, noch auf anderen Gebieten aus, wovon wir zunächst das abstrakte, das Gebiet der Reflexion der Welt in Begriffen, betrachten wollen.
Die zu ganzen Objekten oder zu ganzen Theilen von Objekten verbundenen Theilvorstellungen des Verstandes werden von der Urtheilskraft verglichen. Das Gleiche oder Gleichartige wird von ihr, mit Hülfe der Einbildungskraft, zusammengestellt und der Vernunft übergeben, welche es zu einer Collectiv-Einheit, dem Begriff, verbindet. Je ähnlicher das Zusammengefaßte ist, desto näher dem |
i13 Anschaulichen steht der Begriff und desto leichter wird der Uebergang zu einem anschaulichen Repräsentanten desselben. Wird dagegen die Zahl der Merkmale an den zusammengefaßten Objekten immer kleiner und der Begriff dadurch immer weiter, so steht er der Anschauung um so ferner. Indessen ist auch der weiteste Begriff von seinem Mutterboden nicht ganz losgelöst, wenn es auch nur ein dünner und sehr langer Faden ist, der ihn festhält.
In gleicher Weise wie die Vernunft sichtbare Objekte in Begriffen reflectirt, bildet sie auch, mit Hülfe des Gedächtnisses, Begriffe aus allen unsern anderen Wahrnehmungen, von denen ich im Folgenden sprechen werde.
Es ist klar, daß die Begriffe, welche aus anschaulichen Vorstellungen gezogen sind, leichter und schneller realisirt werden als jene, welche ihren Ursprung in nicht- anschaulichen haben; denn wie das Auge das vollkommenste Sinnesorgan ist, so ist auch die Einbildungskraft das mächtigste Hülfsvermögen der Vernunft.
Indem das Kind die Sprache erlernt, d.h. fertige Begriffe in sich aufnimmt, hat es dieselbe Operation zu vollziehen, welche überhaupt nöthig war, um Begriffe zu bilden. Sie wird ihm nur durch den fertigen Begriff erleichtert. Sieht es einen Gegenstand, so vergleicht es ihn mit den ihm bekannten und stellt das Gleichartige zusammen. Es bildet somit keinen Begriff, sondern subsumirt nur unter einen Begriff. Ist ihm ein Gegenstand unbekannt, so ist es rathlos und man muß ihm den richtigen Begriff geben.
Die Vernunft verbindet dann noch die Begriffe selbst zu Urtheilen, d.h. sie verbindet Begriffe, welche die Urtheilskraft zusammenstellte. Ferner verbindet sie Urtheile zu Prämissen, aus denen ein neues Urtheil gezogen wird. Ihr Verfahren wird hierbei von den bekannten vier Denkgesetzen geleitet, auf denen die Logik aufgebaut ist.
Auf abstraktem Gebiete denkt die Vernunft, und zwar gleichfalls auf dem Punkte der Gegenwart und nicht in der Zeit. Zu dieser müssen wir uns aber jetzt wenden. Indem wir es thun, betreten wir ein außerordentlich wichtiges Gebiet, nämlich das der Verbindungen der Vernunft auf Grund apriorischer Formen und Functionen des Erkenntnißvermögens. Sämmtliche Verbindungen, welche wir kennen lernen werden, sind an der Hand der Erfahrung, also a posteriori entstanden.
i14
13.
Die Zeit ist eine Verbindung der Vernunft und nicht, wie man gewöhnlich annimmt, eine apriorische Form des Erkenntnißvermögens. Die Vernunft des Kindes bewerkstelligt diese Verbindung auf dem Gebiete der Vorstellung sowohl, als auf dem Wege in das Innere. Wir wollen jetzt die Zeit im Lichte des Bewußtseins entstehen lassen und wählen hierzu den letzteren Weg, da er für die philosophische Untersuchung der passendste ist, obgleich noch nicht die innere Quelle der Erfahrung abgehandelt haben.
Lösen wir uns von der Außenwelt ab und versenken wir uns in unser Inneres, so finden wir uns in einer continuirlichen Hebung und Senkung, kurz in einer unaufhörlichen Bewegung begriffen. Die Stelle, wo diese Bewegung unser Bewußtsein berührt, will ich den Punkt der Bewegung nennen. Auf ihm schwimmt (oder sitzt wie angeschraubt) die Form der Vernunft, d.h. der Punkt der Gegenwart. Wo der Punkt der Bewegung ist, da ist auch der Punkt der Gegenwart und dieser steht immer genau über jenem. Er kann ihm nicht voraneilen und er kann nicht zurückbleiben: Beide sind untrennbar verbunden.
Prüfen wir nun mit Aufmerksamkeit den Vorgang, so finden wir, daß wir zwar immer in der Gegenwart sind, aber stets auf Kosten oder durch den Tod der Gegenwart; mit anderen Worten: wir bewegen uns von Gegenwart zu Gegenwart.
Indem sich nun die Vernunft dieses Uebergangs bewußt wird, läßt sie durch die Einbildungskraft die entschwindende Gegenwart festhalten und verbindet sie mit der entstehenden. Sie schiebt gleichsam unter die fortrollenden, fließenden, innigst verbundenen Punkte der Bewegung und der Gegenwart eine feste Fläche, an welcher sie den durchlaufenen Weg abliest, und gewinnt eine Reihe erfüllter Momente, d.h. eine Reihe erfüllter Uebergänge von Gegenwart zu Gegenwart.
Auf diese Weise erlangt sie das Wesen und den Begriff der Vergangenheit. Eilt sie dann, in der Gegenwart verbleibend denn diese kann sie nicht vom Punkte der Bewegung ablösen und vorschieben der Bewegung voraus und verbindet die kommende Gegenwart mit der ihr folgenden, so gewinnt sie eine Reihe von Momenten, die erfüllt sein werden, d.h. sie gewinnt das Wesen und den Begriff der Zukunft. Verbindet sie jetzt die Vergangenheit |
i15 mit der Zukunft zu einer idealen festen Linie von unbestimmter Länge, auf welcher der Punkt der Gegenwart weiterrollt, so hat sie die Zeit.
Wie die Gegenwart Nichts ist ohne den Punkt der Bewegung, auf dem sie schwimmt, so ist auch die Zeit Nichts ohne die Unterlage der realen Bewegung. Die reale Bewegung ist vollkommen unabhängig von der Zeit, oder mit andern Worten: die reale Succession würde auch stattfinden ohne die ideale Succession. Wären keine erkennenden Wesen in der Welt, so würden die vorhandenen erkenntnißlosen Dinge an sich doch in rastloser Bewegung sein. Tritt die Erkenntniß auf, so ist die Zeit nur Bedingung der Möglichkeit die Bewegung zu erkennen, oder auch: die Zeit ist der subjektive Maßstab der Bewegung.
Ueber dem Punkte der Bewegung des Einzelnen steht, bei erkennenden Wesen, der Punkt der Gegenwart. Der Punkt der Einzel-Bewegung steht neben den Punkten aller anderen Einzelbewegungen, d.h. sämmtliche Einzelbewegungen bilden eine allgemeine Bewegung von gleichmäßiger Succession. Die Gegenwart des Subjekts indicirt immer genau den Punkt der Bewegung aller Dinge an sich.
14.
Wir begeben uns, die wichtige a posteriori- Verbindung Zeit in der Hand, zur Anschauung zurück.
Ich habe oben gesagt, daß die Synthesis von Theilvorstellungen unabhängig von der Zeit ist, da die Vernunft auf dem sich bewegenden Punkte der Gegenwart ihre Verbindungen bewerkstelligt und die Einbildungskraft das Verbundene festhält. Die Synthesis kann aber auch in der Zeit stattfinden, wenn das Subjekt seine Aufmerksamkeit darauf richtet.
Nicht anders verhält es sich mit Veränderungen, welche auf dem Punkte der Gegenwart wahrgenommen werden können.
Es giebt zwei Arten von Veränderung. Die eine ist Ortsveränderung und die andere innere Veränderung (Trieb, Entwicklung). Beide vereinigt der höhere Begriff: Bewegung.