Bedeutung der Sprachtypologie für die SprachtheorieVor allem durch die Arbeiten E. Coserius und H. Seilers ist der Sprachtyp als eine Ebene
sprachlicher Strukturierung mittlerer Allgemeinheit etabliert worden. Der jahrzehntelange
Streit um die Frage, ob syntaktische Kategorien wie die Wortarten oder grammatische Kategorien
wie Numerus und Aspekt nun universal oder sprachspezifisch sind, kann mittlerweile
als beigelegt gelten: der Locus solcher Begriffe ist die typologische Ebene. Das bedeutet, daß
solche grammatischen Kategorien nicht universal sind – universal sind statt dessen die ihnen
zugrundeliegenden kognitiven und kommunikativen Größen und die funktionalen Zusammenhänge,
in denen diese stehen. Sie sind aber auc h nicht rein idiosynkratisch für eine bestimmte
Sprache, denn tatsächlich setzen verschiedene Sprachen ähnliche Mittel zur Erreichung
der universalen Zwecke ein. Z.B. machen zahlreiche Sprachen in den Personalia einen
Unterschied zwischen inklusiver und exklusiver erster Person Plural. Der semantische Unterschied
ist in allen beteiligten Sprachen derselbe, wenn freilich auch Ausdrucksformen und die
zugeordneten Regeln für Kongruenz und Anapher verschieden sind. Es stellt daher überhaupt
kein Problem dar, diese Unterscheidung, wo immer sie vorkommt, unter denselben Begriff
‚inklusive vs. exklusive erste Person Plural’ zu fassen, ohne daß damit der Anspruch verbunden
wäre, dies sei eine universale Kategorie oder sie habe in allen betreffenden Sprachen denselben
Ausdruck.
Eine Richtung der Linguistik, welche heute untrennbar mit der Sprachtypologie verbunden
ist, ist die Grammatikalisierungsforschung. Die Allgemeingültigkeit der Grammatikalisierungsprozesse
und das Bestehen von Grammatikalisierungskanälen oder –pfaden hätten
nicht festgestellt werden können ohne den typologischen Sprachvergleich; und umgekehrt hat
die begriffliche Systematik der Grammatikalisierungstheorie erst die Basis geliefert für die
angemessene Konzeption typologischer Zusammenhänge. Als Be ispiel sei die Feststellung
genannt, daß mehrere von Greenbergs implikativen Universalien, etwa der Zusammenhang in
der Stellung von Adpositionen und von Genitivattributen, als durch Grammatikalisierung bedingt
erkannt worden sind.
Im engen Zusammenhang hiermit ist die Ikonizitätsforschungzu nennen. Wo Linguistik
sich auf die Beschreibung einer wohlbekannten Sprache beschränkt, läßt sich die Frage nach
der Motiviertheit sprachlicher Ausdrücke überhaupt nicht zirkelfrei empirisch angehen. Erst
die Sprachtypologie hat die Möglichkeit geschaffen, den funktionalen Locus eines gegebenen
sprachlichen Verfahrens aufzuweisen, die Variation in seinem Einsatz auf einer typologischen
Skala darzustellen und somit zu argumentieren, daß die extreme Ausnutzung eines Verfahrens
den Rahmen des Ikonismus verläßt und ins Dysfunktionale tendiert. Ikonisch ist dann nicht
mehr einfach das, was die meisten Sprachen der Welt tun, sondern das, was die goldene Mitte
einer Variationsskala hält. Z.B. hat sowohl die Verwendung von Possessivpronomina am possedierten
Substantiv als auch die Konstruktion mit externem, also verbabhängigen Possessor
in bestimmten Zusammenhängen ihren Sinn. Unauffällig verhalten sich die Sprachen, die beide
Konstruktionen je in den Kontexten verwenden, wo sie funktional motiviert sind. Sprachen,
die alle possessiven Konstruktionen in der einen oder der anderen Weise über einen
Christian Lehmann, Bedeutung der Typologie für die Sprachwissenschaft 4
Leisten schlagen, überdehnen dagegen die funktionelle Leistung eines Verfahrens, und die
Konstruktionen sind insoweit nicht mehr ikonisch.
Date: 2015-12-11; view: 943
|