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Dem Menschen den Weg beleuchten

Die Literatur hat auf das geistige Leben der Gesellschaft einen überaus großen Einfluss. Sie gelangt ununterbrochen über das gedruckte Buch, über Tageszeitungen, Illustrierte und Wochenschriften an einen außerordentlich großen Kreis von Menschen. Und nicht nur das. Sie prägt in entscheidendem Maße das künstlerische Gesicht des Fernsehens, des Theaters und der Presse. Welchen Sinn aber hat die Literatur? Wie sind die Aufgaben des Schriftstellers? Dieser Frage - welchen Sinn überhaupt hat die Literatur in unse­rer Zeit - wenden sich wohl die meisten Schriftsteller immer wieder zu.

Ich lernte vor einiger Zeit einen bedeutenden, in London leben­den Schriftsteller kennen, der von mir wissen wollte, worin ich den Sinn meiner Arbeit sehe, und der mir auf die gleiche Frage antwortete: „Ich suche keinen Sinn darin und ich brauche keinen Sinn, der außerhalb meiner selbst liegt. Ich brauche kein Publikum, ich schreibe keinen Dialog, ich schreibe einen Monolog."

Ich war damals noch der Auffassung, der Schriftsteller müsse auf die Menschen einwirken, ihr Erzieher und Lehrer sein, dass er eine Art neuer Bibelverfasser sei und zugleich ein Architekt, der den Entwurf, besser - den einzig möglichen Grundriss - für das „Haus Menschenglück“ in der Tasche hat.

Seit jenem Zusammentreffen mit diesem Schriftsteller sind einige Jahre vergangen, Jahre meiner literarischen Reife. Ich habe einige Bücher geschrieben und bin bei jedem Buch eine Stufe vom Lehrerkatheder hinabgestiegen. Je länger ich schreibe, desto schwerer wird das Schreiben, je tiefer die Einsicht, desto bescheidener die Zielsetzung. Ich habe vieles begriffen und will kein Lehrer mehr sein. Ich sehe den Sinn der schriftstellerischen Arbeit nur noch darin, Ohr, Auge und Zunge zu sein des einzig berechtigten Erziehers der Menschen auf ihrem Weg zum immer menschlicheren Sein: nämlich Ohr, Auge und Zunge des Lebens selbst zu sein.

Dieses Anliegen, dieser Sinn der Arbeit eines Schriftstellers, eines Dichters muss wohl für verschiedene Epochen verschieden konkretisiert werden. Heute scheint es mir etwa so: Die Welt ist für den einzelnen Menschen so ungeheuer vielfältig geworden, dass die Gefahr droht, dass Leben und Welt undurchschaubar werden, ein Labyrinth, darin der Mensch verlassen und verloren ist, aus dem kein Weg herausführt. In der nicht mehr durchschaubaren, scheinbar außer menschlicher Kontrolle stehenden Welt verliert der Mensch tatsächlich nach und nach die Kontrolle - über das Ganze und über das Detail. Die Macht des Menschen ist ungeheuer gewachsen; nicht ge­wachsen ist im gleichen Ausmaß der Mensch. Und darin sehe ich Sinn, Ziel und Wirkung schriftstellerischer Arbeit heute: in dieser verworre­nen Welt Röntgenaugen zu haben, den Ariadnefaden1 zu finden, an ihm den Leser zu führen und ihm sichtbar zu machen, dass auch die Verworrenheit der sinnvollen Ordnung unterworfen werden kann, dass der Mensch nicht hilfslos und enttäuscht Objekt unbekannter und unerkennbarer Kräfte ist, sondern immer noch Herr der Welt und der Dinge, wenn er erst den Sinn der Dinge und den Sinn des men­schlichen Daseins erfasst. Also wiederum Lehrer zu sein? Ich bin fest überzeugt, dass Voraussetzungen dafür, ein Schriftsteller zu sein, sind: Augen zu haben, die den Ariadnefaden im Labyrinth des Lebens sehen, Ohren zu haben, den Zweifeln und Hoffnungen der Zeit zuzuhören, keine Lüge zu kennen gegenüber dem Gehörten und dem Gesehenen, sich von nichts ablenken zu lassen, nichts zu färben und nichts zu fälschen, keiner Frage auszuweichen, kompromisslos zu sein und nichts sein zu wollen als Diener der Wahrheit. Und das ist: des Lebens. Sie fragen, welchen Zusammenhang es zwischen den Hauptproblemen unserer Epoche und meiner Beschäftigung gibt: Den den Menschen abwertenden Kräften entgegenzutreten und sie zu bekämpfen halte ich für die wirkliche Aufgabe des Schriftstellers in unserer Zeit. Es mag große Kunst sein - vom Standpunkt der reinen Kunst aus gesehen - einen verkrüppelten und verzweifelten Zeitgenossen und sein Milieu mit großem Aufwand an stilistischen Einfällen und in zahlreichen Variationen auf tausend Romanseiten naturgetreu zu schildern. Vom Standpunkt des Lebens aus gesehen kann heute nur die Kunst als menschlich gekennzeichnet werden, die dem Menschen den Weg beleuchtet und Kraft verleiht, die sein Leben bereichert, die ihm hilft Auswege zu finden und Hindernisse zu bewälti­gen und zu wachsen, mag es um das Geringste sein.



Romanschriftsteller Jurij Brejan

nach „Neue Deutsche Literatur"


Date: 2015-12-11; view: 1106


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