Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART VON PAUL BEKKER 2 page

Aus den metaphysischen Tiefen solcher Bereitschaft und Berufung ersehnt und erweckt Thomas Mann seinem Volk jene Kräfte, die imstande sind, "die fortschreitende Zerstörung aller psychischen Wirklichkeit und seelischen Form, die scheinbar unaufhaltsame Anarchisierung und Barbarisierung der Menschenwelt durch den revolutionären Intellekt" zu überwinden, "dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem Wiederaufbau seelischer Form zu dienen" und so dem heimatlosen Epiker, seinem Leben wie seiner Kunst, eine neue Welt zu schaffen.

Heinrich Mann aber, Thomas Manns Gefahr und Gegensatz, ist nicht nur in und durch Thomas Mann überwunden, ist politisch an der Entwicklung der Zeit, künstlerisch an seiner zersetzenden Subjektivität und Lieblosigkeit zergangen. Thomas Mann hatte sein Geschlecht und Volk noch im Verfall umfaßt, hatte am Ende der Reihe, ein Zugehöriger und doch Außenstehender, in Liebe und Ironie zugleich ihm Gestalt gegeben. In Sehnsucht hatte jedes seiner Werke vom Wiederaufbau, der neuen Lebensform und Lebensgemeinschaft gehandelt. Im tiefsten Sinn war ihm, dem wahren Epiker, Richard Dehmels Spruch Lebensgefühl gewesen: "Alles Leid ist Einsamkeit — alles Glück Gemeinsamkeit." Heinrich Mann hatte sich stets wichtiger genommen als sein Geschlecht und sein Volk. Früh und fremd hatte er Vaterstadt und Vaterland den Rücken gekehrt. Der romanische Tropfen in seinem Blute trieb ihn nach Italien, das Thomas erst sein tiefes Deutschtum deutlich machte. Eine Zeitlang glaubte Heinrich Mann, dort "zu Hause zu sein. Aber ich war es auch dort nicht; und seit ich dies spürte, begann ich etwas zu können. Das Alleinstehen zwischen zwei Rassen stärkt den Schwachen; es macht ihn rücksichtslos, schwer beeinflußbar, versessen darauf, sich selbst eine kleine Welt und auch die Heimat hinzubauen, die er sonst nicht fände. Da nirgends Volksverwandte sind, entzieht man sich achselzuckend der üblichen Kontrolle. Da man nirgends eine Öffentlichkeit weiß mit völlig gleichen Instinkten, gelangt man dahin, sein Wirkungsbedürfnis einzuengen, es an einem einzigen auszulassen, wodurch es gewinnt an Heftigkeit. Man geht grelle Wege, legt das Viehische neben das Verträumte, Enthusiasmen neben Satiren, koppelt Zärtlichkeit an Menschenfeindschaft. Nicht der Kitzel der andern ist das Ziel: wo wären denn andere! Sondern man schafft Sensationen für einen einzigen. Man ist darauf aus, das eigene Erleben reicher zu fühlen, die eigene Einsamkeit gewürzter zu schmecken." Welch treffendes Selbstbildnis! Welch Zerrbild eines Epikers! Ohne Wurzelboden, ohne Zusammenhang, ohne Liebe, im Selbstgenuß hochmütiger, überreizter Sensationen, zersetzender Erkenntnisse, ehrgeiziger Spannungen. Ihm wird die Kunst zur "widernatürlichen Ausschweifung". "Pippo Spano", das Gegenbild zum "Tonio Kröger", bekennt in leidender zuchtloser Lässigkeit: "Sie (die Kunst) höhlt ihr Opfer so aus, daß es unfähig bleibt auf immer zu einem echten Gefühl, zu einer redlichen Hingabe. Bedenke, daß mir die Welt nur Stoff ist, um Sätze daraus zu formen. Alles, was du siehst und genießt: mir wäre nicht an ihrem Genuß gelegen, nur an der Phrase, die ihn spiegelt. Jeder goldene Abend, jeder weinende Freund, alle meine Gefühle und noch der Schmerz darüber, daß sie so verderbt sind — es ist Stoff zu Worten." Das ganze Leben und Schaffen Heinrich Manns ist ästhetischer Selbstgenuß statt ethischer Selbstvollendung oder -überwindung.



Welche epischen Werke können aus solcher Willkür wachsen? Das Hauptwerk "Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy" (1902-03) weiß der Wurzel- und Heimatlosigkeit seines Dichters keine andere Heldin als die Balkanprinzessin der Operetten. Macht, Kunst und Liebe werden — in reinlichem Nacheinander! — ihr Lebensinhalt. Der Balkan, Venedig, Neapel sind die billigen Kulissen dieser Stationen. Da Heinrich Mann nicht seine Literatur aus dem Leben, sondern sein Leben aus der Literatur empfängt, sind alle Figuren und Leidenschaften aus zweiter Hand, ästhetische, durchsichtige, monumentalisierte Schemen, nicht unergründliche, blut- und seelenvolle Gestalten, nur der papiernen Phantasie von Literaten und Großstädtern überzeugend. Was ihnen an organischem Leben fehlt, ersetzen sie durch die Überreiztheit ihrer Gefühle und Gebärden, durch Rausch und Hysterie — eine krampfige Nachfolge d'Annunzios.

Neben solchen Orgien einer überreizten Literatenphantasie stehen die satirischen Romane: "Im Schlaraffenland", "Professor Unrat", "Der Untertan" usw. Sie sind Emil Zola näher, zumal ihr bester, "Im Schlaraffenland" — eine Schilderung des zersetzten Berlin W — aber ohne Zolas soziales Pathos. Auch die Satire bedarf der Liebe, um zeugen und gebären zu können, der Liebe zur armen, irregehenden Menschheit oder zum neuen, reineren Ideal. "Ich glaube nicht" — sagt Thomas Mann in den "Betrachtungen" — "daß ohne Sympathie überhaupt Gestalt werden könne; die bloße Negation gibt flächige Karikatur." Auch hier scheint die Literatur, nicht das Leben — die Witzblätter scheinen Heinrich Mann die Gestalten und Vorgänge zum "Professor Unrat" und "Untertan" gegeben zu haben: so flächig und billig sind sie gezeichnet. Jede lebendige Gestalt muß Monate unter dem Herzen getragen, muß mit Blut genährt sein.

Nur e i n Roman ist Heinrich Mann gelungen, dem Wurzelboden und Atmosphäre eigen: "Die kleine Stadt". Es ist bedeutsam, daß er in Italien spielt: "Eine Zeitlang glaubte ich (dort) zu Hause zu sein." Einmal hat Heinrich Mann einen erlebten Gehalt und mit ihm eigene Form gefunden: dem immer bewegten Völkchen des Südens, den flackernden Leidenschaften entspricht ein bewegter, farbiger, flirrender Impressionismus des Stils. Diese italienischen Kleinbürger, die sich heißblütig und beweglich an ihren Worten und Gebärden berauschen, alle ein wenig Künstler, ein wenig Schauspieler, ein wenig d'Annunzio, sind in ihrer Menschlichkeit und Kindlichkeit so liebenswürdig erlebt und gestaltet, daß sie und ihr Schicksal zu menschlich-symbolischer Bedeutung wachsen. Ihre Instinkte glimmen unter der Asche der täglichen Eintönigkeit. Da zieht eine Schauspielertruppe in die Stadt und weht sie nach allen Seiten zu Flammen auf. Sinnlichkeit und Liebe, Eifersucht und Ehrgeiz, vergessene und noch schlummernde Leidenschaften wirbeln knisternd hoch. Der Kampf zwischen Priester und Advokat, Reaktion und Fortschritt teilt und erregt die Massen. Die Glocken der Kirche und die Melodien der Oper streiten miteinander. Doch aus dem Feuer der Leiden und Leidenschaften glüht die Blume der Versöhnung, der Verbrüderung, der Liebe zu Volk und Menschheit auf: "Was sind wir!" — fragt der Advokat beim Abzug der Schauspieler. — "Eine kleine Stadt. Was haben uns jene gebracht? Ein wenig Musik. Und dennoch — wir haben uns begeistert, wir haben gekämpft, und wir sind ein Stück vorwärtsgekommen in der Schule der Menschlichkeit." Für kurze Stunden, für eilende Seiten durchzuckt Heinrich Mann, den heimatlosen Literaten, das Wesen und Glück des epischen Dichters: "Was macht diese Dinge groß?" "Daß ein Volk sie mitfühlt, ein Volk! das wir lieben!" "Ich habe ein Volk gesehen! Ich wußte es, wir seien nicht allein; ein Volk höre uns! Wir wecken seine Seele, wir... Und es gibt sie uns!"

Thomas Mann, dem Verfallsepiker des Bürgertums — eines patriarchalisch-aristokratischen Bürgertums — in der Grundstimmung verwandt ist der Verfallsepiker des Adels: Eduard Graf von Keyserling (1855-1918.). Wie Lübeck die bürgerlichen Lebensformen, so hat Kurland, Keyserlings Heimat, die Lebensformen des Adels am längsten und reinsten behauptet. Mehr als Keyserling vor dem grausigen Kriegsschicksal der baltischen Provinzen ahnen konnte, steht auch er am Ende einer Entwicklung, ein Zugehöriger und Außenseiter. In München erlebt der Alternde, kränklich, gelähmt, gekrümmt, zuletzt erblindet, vom Krankenstuhl und -bett aus die Welt seiner Väter und seiner Jugend wieder. Die tiefe Heimatliebe des Epikers und die melancholische, gütige Erkenntnis des Ausgehenden zeichnen die Menschen, die Schicksale, die Umwelt dieses östlichen Gutsadels in schmalen, erwählten, sicheren Linien, Er gibt keine breiten epischen Fresken, keine weiten Geschlechterfolgen wie die Buddenbrooks, er gibt in seinen Romanen "Beate und Mareile" "Dumala", "Wellen", "Abendliche Häuser", "Fürstinnen" fast novellistische Einzelbilder; sie schließen sich zu einem Gesamtbild von epischer Bedeutung. Die Darstellung ist von klarer Sichtbarkeit und Farbigkeit, aber durchzittert von der müden, melancholischen Seelenmusik Hermann Bangs, dem sie Tiefstes verdankt.

Die Adelsgeschlechter Keyserlings haben längst nicht mehr die naiv-sicheren Lebensformen ihrer Väter, der "starken Leute, die das Leben und die Arbeit liebten, roh mit den Weibern und andächtig mit den Frauen umgingen und einen angeerbten Glauben und angeerbte Grundsätze hatten", die um ihre einmal gewählte Fahne die Hände schlossen: "Nun vorwärts in Gottes oder des Teufels Namen!" Ihr Leben ist in Wissen und Handeln zerfallen; sie haben die Relativität ihrer Lebensformen und -gesetze durchschaut. Die alten Ideale sind zersetzt, neue noch nicht geschaffen: "An meiner ganzen Generation ist etwas versäumt worden ", sagt von Egloff in den "Abendlichen Häusern", "unsere Väter waren kolossal gut, sie nahmen alles sehr ernst und andächtig. Es war wohl dein Vater, der gern von dem heiligen Beruf sprach, die Güter seiner Väter zu verwalten und zu erhalten. Na, wir konnten mit dieser Andacht nicht recht mit, nach einer neuen Andacht für uns sah man sich nicht um. Und so kam es denn, daß wir nichts so recht ernst nahmen, ja selbst die Väter nicht." Aber die adelige Gebundenheit ihres Blutes schreckt zurück vor dieser Willkür, die ihnen zuchtlos scheint, vor dieser Freiheit, die den Müden nicht zur schöpferischen Erneuerung dienen kann. Gegen ihre Hellsicht flüchten sie in die Tradition ihrer Väter zurück: "...Unsere Gesetze hier —" "Glauben Sie an diese Gesetze?" "Ich glaube nicht an sie, aber ich gehorche ihnen." Wie Thomas Buddenbrook werden sie zu den Helden und Schauspielern der alten Ideale.

Je weniger sie ihnen innerlich eins sind, desto sorgsamer unterstellen sie sich ihnen. Haltung! Tenue! In allem inneren und äußeren Leben die Tradition wahren! Wohlgeordnet, festgefügt, bis in jede Tagesstunde bestimmt! "Du und ich sind zu gut erzogen, um in ein Drama zu passen."

Aber an diese starre, unterhöhlte Konvention klopft das Leben. Die Natur, die aus der frühlingswilden, sommerschwülen Landschaft, den Wäldern und dem Meere, aus dem animalisch-vegetativen Leben der Gutsdörfer steigt, treibt in den jungen Komtessen, die, "kleine berauschte Gespenster, vor Verlangen zittern, draußen umzugehen, und wenn sie hinauskommen, nicht atmen können," treibt in den jungen Baronen, die das Erotische aus den schützenden Konventionen in die Kämpfe und Gefahren sinnlich-seelischer Abenteuer drängt. Keiner dringt durch zur Freiheit, sie fallen oder flüchten zurück. Das Leben wird zum Schatten und Traum: "Man lebt hier, als ob man gleich erwachen müßte, um dann erst mit der Wirklichkeit zu beginnen." "Eine dunkle Traurigkeit machte sie todmüde. All das still zu Ende gehende Leben um sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft, weiterzuleben; wir sitzen still und warten, bis eins nach dem anderen abbröckelt."

Neben der adeligen und bürgerlichen wird die Zersetzung der bäuerlichen Formenwelt nur von der materiellen Seite episch bedeutsam gestaltet durch Wilhelm von Polenz' "Büttnerbauern" (1895) und Peter Roseggers "Jakob der Letzte". Diese äußere Not der bäuerlichen Welt ist durch die wirtschaftliche Entwicklung behoben, ihrer inneren Zersetzung, die da und dort merkbar wird (vgl. Josef Ruederers Komödie "Die Fahnenweihe", 1895), begegnet der lebendig nahe Zusammenhang mit der Natur, der Landschaft, den Jahreszeiten. Aus ihnen quellen jene Formenkräfte, die das bäuerliche Leben immer wieder von Grund aus aufbauen und erneuern, wie sie Knut Hamsun im größten modernen Bauernroman, einem wahrhaft altepischen Werke, dargestellt hat, im "Segen der Erde". Unseren Bauerndichtern ist die Strenge und Größe dieses Zusammenhanges kaum deutlich geworden. Ganghofer ist oberflächlich und sentimental, auch Rosegger ist in aller Volkstümlichkeit und Liebenswürdigkeit zu unproblematisch im tieferen Sinne — nur die "Schriften des Waldschulmeisters" und "Des Gottsucher" ragen hervor —, Gustav Frenssens einst so berühmte Romane ("Jörn Uhl", 1901) sind zwar voll landschaftlicher Stimmungskunst, aber in der Weltanschauung des liberalen protestantischen Pfarrers zwiespältig und verschwommen, in der Charakterisierung der Hauptpersonen romanhaft, in der Gesamtdarstellung lehr- und predigerhaft, ohne Kraft des Aufbaus, ohne Einheit der inneren Form. Erdkräftiger wurzeln Ludwig Thomas Bauernromane "Andreas Vöst" und "Der Wittiber", sie bleiben aber naturalistisch gebunden. Hermann Stehrs "Heiligenhof" fehlt zur grübelnden Mystik seiner Bauern die natürliche Fülle und plastische Kraft; er ist — wie alle Romane dieses Ringenden — mehr reflektiert als gewachsen.

Über die zersetzten bürgerlichen und adeligen Formenwelten ist die Entwicklung der deutschen Kultur und Epik noch nicht zu neuen Lebensformen vorgedrungen. Die Großstädte sind ebenso formlos geblieben wie die Großstadtromane. Max Kretzers Berliner, Michael Georg Conrads Münchener Romane sind nichts als Stoff und Tendenz. Arthur Schnitzlers Versuch zu einem Wiener Roman großen Stiles, "Der Weg ins Freie", ist in der episch bedeutungslosen Umwelt des Literaten- und Judentums zergangen. Ein Arbeiterroman gleich der Bedeutung von Zolas "Germinal" ist uns nicht geworden. Die Welt der Arbeiter wird sich über Angriff und Verneinung, über die zerbröckelte, materialistische Weltanschauung des Marxismus erst zur eigenen Form durchringen müssen.

Aus der modernen Frauenbewegung hat sich ein besonderer Frauenroman entwickelt. Als Mutter und Gattin ist das Weib der Urgrund der epischen Welt, aber die neue Zeit reißt zahllose Frauen aus dem Frieden der Familie und stößt sie in den Kampf des persönlichen Schicksals. Auch hier sind zersetzte Lebensformen zu überwinden und zu erneuern. Gabriele Reuters (geb. 1859) Romane, "Aus guter Familie" (1895), "Ellen von der Weiden", "Das Tränenhaus" zeugen davon, ohne die Überzeugung stets in Darstellung, die Tendenz in reine Menschlichkeit wandeln zu können. Auch Helene Böhlaus (geb. 1859) polemische Frauenromane, wie "Das Recht der Mutter" und "Halbtier", vermögen das nicht. Wo aber die reine Weiblichkeit ihrer lebensvollen Natur durchbricht, da wachsen aus der lichten Kindlichkeit ihrer Jugenderinnerungen die Weimarer "Ratsmädelgeschichten", aus der leidgeläuterten, warmen Mütterlichkeit ihrer Reife "Der Rangierbahnhof" (1895), der voll tiefster Güte, voll tragischer Schönheit ist.

Klara Viebig (geb. 1860) steht den Problemen des eigentlichen Frauenromans fern; sie ist Naturalistin, die Schülerin Zolas. Elementare Triebe und Gestalten, Massenleidenschaften und Massenszenen sind ihr Feld. Die Eiffellandsthaft mit ihren wortkargen, düsteren Menschen, die — einmal geweckt in ihren Leidenschaften — furchtbar ausbrechen, gibt ihr die besten ihrer Romane: "Das Weiberdorf", "Vom Müllerhannes", "Das Kreuz im Venn". Mit scharfer Beobachtung und sicherer Technik packt sie ihre Gestalten und Probleme von außen, mehr eine geschickte Schriftstellerin als formende Künstlerin.

Weit über die Welt der Frauenromane, über die Welt selber hinaus führen die Romane Ricarda Huchs (geb. 1864). Ein durchaus romantisches Lebensgefühl, die Sehnsucht nach Unerreichbarem durchschimmert und durchglüht sie. Aber das Unerreichbare ist hier nicht das Unendliche, sondern das Leben, das in all seiner Schönheit, Kraft und Vollkommenheit doch ein unaufhaltsames, stetiges Vergehen ist. Obwohl alle wissen, wie traurig und flüchtig das Dasein ist, wie "es keinen Sinn hat, die Dinge so fest ans Herz zu schließen, die wir nach einem bangen Augenblick wieder wegwerfen müssen und nie mehr sehen", bleibt es doch aller "Bestimmung und Seligkeit, die himmelhohe Flamme des Lebens mit dem Strahl ihres Wesens zu nähren". "O Leben, o Schönheit!" singt es durch alle Dichtungen Ricarda Huchs. Die "schauerliche Wollust, in der träumerisch spülenden Lebensumflut mitzuströmen", ist die Inbrunst all ihrer Gestalten. "Nimm uns Tote wieder, o Leben," singen die Toten. Der Tod selber singt dem Leben ein Liebeslied.

Eine romantische Natur — so steht Ricarda Huch in Reflexion und Bewußtheit außerhalb der Wirklichkeit. Im Zeitalter der Romantik hätte sie sich sehnend dem Unendlichen zugewandt; im Zeitalter Nietzsches, Bergsons, Simmels lodert ihr Wollen und Sehnen in metaphysischer Glut zum Endlichen, zur Wirklichkeit, zum Leben zurück. Das Leben wird ihr zum höchsten, zum einzigen Wert. Ihre Gestalten sind Kinder der Reflexion und der Sehnsucht wie sie, oder ihr Wunsch und Gegenbild: Kinder des Lebens.

Metaphysisch klingt — nach den noch knospenhaften "Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren" — die Musik von der Schönheit und Furchtbarkeit des Lebens in den Skizzen "Aus der Triumphgasse", kosmisch klingt sie in "Von den Königen und der Krone". Über diese metaphysische und kosmische Gelöstheit drängen die historischen Romane zur Wirklichkeit, zum plastisch Greifbaren, Festbeharrenden. "Die Geschichten von Garibaldi" gestalten den Befreier Italiens zur herrlichsten Verkörperung, zum mystisch-gewaltigen Symbol des Lebens, das alle Lebenssehnsucht der Dichterin strahlend aufnimmt. Wie "ein tragisches Vorspiel" zur siegreichen Erhebung der Garibaldi-Romane klingt "Das Leben des Grafen Frederigo Confalonieri", des dem Tode verfallenen im Kerker begrabenen Helden und Märtyrers. In jenen hatte noch episch-plastischer und lyrisch-musikalischer Stil gewechselt, hier durchdringen sich beide, rein, ruhig, ausgeglichen.

Bald aber drängt die Sehnsucht zur Wirklichkeit Ricarda Huch auch aus dieser Gelöstheit zum einseitigen, seelisch-herbsten Bericht der drei Bände: "Der Große Krieg in Deutschland", die sie nicht mehr Roman, sondern "Darstellung" nennt. Harte Gegenständlichkeit, strengste Unpersönlichkeit geben die unerschöpfliche Fülle des Dreißigjährigen Krieges, der Geschehnisse, der Völker, der Generationen. Historisches, Kulturgeschichtliches, Religionsgeschichtliches, Diplomatisches, Strategisches, Biographisches treibt in endloser Bilderfolge, in gleichgültigem epischem Strom vorüber. Gestalten und Schicksale tauchen auf und sinken unter, ruhelos, übergraut von einem lastenden Himmel, der sich immer tiefer herabsenkt. Der Strom der Individuation selber scheint an uns vorüberzuziehen und uns in erdrückender Traurigkeit die lähmende Frage Friedrich Spees zuzurauschen: "Das eine hatte er erfahren: unermeßlich weit war die Erde von Gott; und wenn sie nun, so fragte er sich zuweilen schaudernd, unerreichbar weit von ihm wäre?"

Aus der Wirklichkeit, die sie hier endlich gefunden, klagt der Dichterin das alte Lied ihrer Seele dunkel und erstarrt entgegen. —

In der Geschichte den tieferen Sinn des Lebens zu suchen, den die zersetzte Gegenwart ihnen vorenthält, ist die Ausflucht mehrerer Epiker geworden, am bedeutsamsten für Wilhelm Schäfer (geb. 1868) im "Lebenstag eines Menschenfreundes". Wie in diesem Pestalozzi-Roman die Wanderung des unermüdlichen Volks- und Menschenfreundes durch Suchen, Irren, Leiden, Verspottung und Verrat zur neuen Menschlichkeit aufwärts dringt, als Landwirt, "Armennarr" und Schriftsteller, als Waisenvater und als Winkelschulmeister, bis endlich der Greis seinen Menschheitsweg erkannt und erkämpft und der europäischen Erziehung erschlossen hat, das ist in ergreifender, reiner Menschlichkeit, in epischer Schlichtheit und Klarheit dargestellt. Die Tapferkeit und Siegkraft dieses einzelnen und Vergangenes wird Vorbild und Aufgabe allen Künftigen.

— — — Gegenüber dem industrialisierten, von Großstädten zersetzten Norden Deutschlands ist der Süden reicher an Unmittelbarkeit, Menschlichkeit, Wurzelkraft geblieben. Emil Strauß und Hermann Hesse wachsen aus diesem Zusammenhang. Emil Strauß (geb. 1866) hat sich Heimat und Fremde, Baden und Brasilien, als Dichter, Bauer und Farmer vertraut und eigen gemacht. Voll männlicher Klarheit und Tatkraft hat er mit dem Leben gerungen, ohne durch Enttäuschung, Leid und Krankheit niedergeworfen oder ungerecht zu werden. In Freiheit, Liebe und Güte blieb er der Sieger. Er sieht und zeichnet die Wirklichkeit in festen, sicheren Linien und überglänzt sie doch mit dem überirdischen Schimmer seines Humors. Im "Engelwirt" schildert er einen Schwaben, der das Schicksal überlisten will, der — da ihm die eigene Frau keinen Erben schenkt — sich in schlauer Ausflucht an die Magd heranmacht. Statt des Buben kommt aber ein Mädel, und Spott und Lächerlichkeit umschwirren ihn. Gekränkt in seiner Schwabenschlauheit und -eitelkeit, geht er mit der Magd und dem Kind heimlich davon nach Brasilien, um dort noch übler genarrt, geprellt, geduckt zu werden. Als die Magd stirbt, kehrt er kleinlaut und zerknirscht heim zur verlassenen Frau, die ihn ohne Staunen, ohne Vorwurf, mit einem schlichten, lächelnden Gruß empfängt, ihm das Kind abnimmt und in selbstverständlicher Fürsorge sich ihm widmet: eine reife, rüstige, Gottfried Kellersche Frauengestalt, voll Freiheit und Wärme. In "Kreuzungen" zeichnet Strauß die Entwicklung dreier junger Charaktere, de aus dem Zufall erster Anlagen und Verhältnisse sich in tapferen Zwisten lösen, ihre Lebens- und Wesensform selber schaffen und sich im Wirkungskreis der Menschheit einen Platz erobern. Im "Nackten Mann" geht er in die Vergangenheit seiner Heimat zurück, ohne die Bedenken gegen den historischen Roman zu überwinden. In "Freund Hein" und im "Spiegel" aber kommt hinter der herben Gegenständlichkeit seiner Welt die tiefe Musik seiner Seele zum klingenden Ausdruck. In "Freund Hein" zerbricht ein Gymnasiast, der in der Welt seiner musikalischen Berufung lebt, an den unnachsichtigen Forderungen einer wesensfremden Wirklichkeit. Im "Spiegel" tönen wie eine zarte Kammermusik Erinnerungen aus dem Leben der Vorfahren auf, eine Lebensmusik von ebensoviel Seelentiefe als Seelenklarheit.

Je näher Hermann Hesse (geb. 1877) der Natur verbunden ist, desto weniger findet er sich in der zersetzten Formenwelt der Zivilisation zurecht Er fühlt sich heimisch in der Naivität des italienischen Landvolkes, der Sorgen- und Selbstlosigkeit des Landstreichers Knulp, der wie die Blumen. auf dem Felde Gott unmittelbar nahe ist. Aus der Heimatlosigkeit der Welt flieht "Peter Camenaind" zu Boppi, dem armen Krüppel, der in seinem Fahrstuhl diesseits allen Lebenszwiespalts geblieben, der in Krankheit, Einsamkeit Armut und Mißhandlung nichts als Liebt und Güte gelernt und "sich ohne Scham schwach zu fühlen und in Gottes Hand zu geben". Und da Boppi stirbt, kehrt er von seinen "paar Zickzackflügen im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung" in sein Heimatdorf, "den alten Winkel zwischen See und Bergen", zurück. In seiner Lade liegen die Anfänge einer Dichtung: "Ich hatte den Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige stumme Lebe der Natur nahezubringen und lieb zu machen. Ich wollte sie lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind."

So spielen die ersten Bücher Hesses weniger zwischen Mensch und Mensch als zwischen Mensch und Natur. Stimmung, Sehnsucht, Traum und Allgefühl, Wehmut und Einsamkeit sind ihr Gehalt. Die weichen Umrißlinien der Gestalten verschwimmen. Aber über "Gertrud" und "Roßhalde" wächst Hesse zum "Demian", der "die Geschichte seiner Jugend" zum Symbol des gegenwärtigen, suchenden und ringenden Menschenlebens gestaltet. "Die Wertlosigkeit der heutigen Ideale" die Unwahrheit der heutigen Gemeinschaften, der Menschen, die alle "fühlen, daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln leben", wird nicht in breitem, epischem Fresko, aber in der sehnsüchtigen Entwicklung eines Einzelnen dargestellt. "Diese Welt, wie sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen und sie wird es." Aber aus ihrem Untergang, aus dem Getümmel und Grausen des Weltkrieges keimt eine neue Gemeinsamkeit. "In der Tiefe war etwas im Werden. Etwas wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen, und mancher von ihnen starb an meiner Seite — denen war gefühlhaft die Einsicht geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an die Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele waren ganz zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht dem Feinde, ihr blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in sich zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben wollte, um neu geboren werden zu können."

DAS DRAMA

Das Wort Drama bedeutet Handlung, insonderheit Kulthandlung. Denn das Drama entwickelte sich im alten Griechenland wie in den christlichen Staaten Europas aus den Tiefen der religiösen Weltanschauung und des Gottesdienstes. Sein letzter Grund ist die leid- und geheimnisvolle Zweiheit, in die alles Leben zerspalten ist, in der es fremd, kämpfend und doch sehnsüchtig sich gegenübersteht: der Gegensatz von Gott und Welt, Geist und Natur, Idee und Sinnlichkeit, All und Ich. Nur ein Gott, der vom Himmel herniedersteigt, der die Qual und Zerrissenheit des Endlichen selber auf sich nimmt, Dionysos, Christus, vermag in seinem Gottmenschentum diese Gegensätze zu einen und zu lösen. Sein Leiden und sein Triumph wird zum Inhalt der ersten Dramen: aus den dionysischen Dithyramben wächst die griechische Tragödie, aus der Liturgie der katholischen Kirche das Weihnachts-, Passions- und Osterspiel des Mittelalters. Mit der Renaissance wird an Stelle der kirchlichen die philosophische Weltanschauung Unter- und Hintergrund des europäischen Dramas. Wie die geheimnisvolle Zweiheit und Gegensätzlichkeit des Lebens in den großen Systemen der Philosophen sich darstellt und deutet, wie bald dieser, bald jener der beiden Lebensgegensätze entwertet, dem anderen untergeordnet, so die Einheit erzwungen wird, dann aber wieder beide zur vollen Macht erstarken und in unausweichlichem, unerbittlichem Kampf sich gegenüberstehen: das begleitet in unbewußter und bewußter Verbundenheit die ideelle Entwicklung des deutschen Dramas. Lessings Dramen wachsen aus Lebensgefühl und -deutung des Rationalismus, Schillers Dramen aus Kant, Kleist teilt den Gegensatz der deutschen Gefühlsphilosophie gegen Kant, um Hebbel braut die Atmosphäre Hegels, Richard Wagner findet sich in Schopenhauer. Dann folgt der Zusammenbruch der großen philosophischen Systeme, der Vormarsch der naturwissenschaftlichen, materialistischen Weltanschauung in Deutschland. Über die Nachfahren Schillers, über die Nachahmer des französischen Gesellschaftsstückes hebt sich seit 1888 Gerhart Hauptmann (geb. 1862) mit einem Drama neuen, eignen Stils. Aus welchen weltanschaulichen Zusammenhängen, welchem Lebensgefühl war es gewachsen?


Date: 2015-12-11; view: 613


<== previous page | next page ==>
DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART VON PAUL BEKKER 1 page | DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART VON PAUL BEKKER 3 page
doclecture.net - lectures - 2014-2025 year. Copyright infringement or personal data (0.008 sec.)