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Meine ersten Zeugnisse.

Silvia Kirste wollte Lehrerin werden. Das war ihr erster und eigener Wunsch. Sie studierte in Magdeburg, empfing für ihre Leistungen den Diesterweg-Preis, die höchste staatliche Auszeichnung für Absolventen des Diplomlehrerstudiums. Seit September 1981 unterrichtet Silvia in Roßwein. Dort hat sie kürzlich ihre ersten Zeugnisse an die Schüler überreicht. Anlass für sie, sich selbst zu fragen: „Wie gut bin ich gewesen?“

Nun schreibe ich also die ersten Zeugnisse für meine 5c. Ich beurteile, werte, empfehle. Dabei habe ich doch gerade selbst noch die Schulbank gedrückt, bin selbst eingeschätzt worden. „Silvias Studieneinstellung zeichnet sich durch das Streben nach hohen Leistungen aus“, hieß es.

In der Schule vertiefte ich mich in Raumpläne, Essenordnungen, Fluchtwege, verausgabte mich bei vorbereitenden Gesprächen. Ich hatte mir alles zurechtgelegt für die „Stunde der Wahrheit“. Doch dann, als ich meinen Unterricht begann, war doch manches anders als erwartet. Ich musste mich erst auf die Schüler einstellen. Das erforderte auch, ihre fachlichen Voraussetzungen zu erkennen. Diese schwierige Aufgabe verlangte meine ganze Konzentration. Mitunter suchte ich noch abends im Bett nach besseren Antworten, als ich sie tagsüber gegeben hatte.

Unsre Stunden, Sport und Geschichte, sollten die Schüler später mitreißen, so hatten wir es uns als Studenten vorgenommen. In Sport würde es bestimmt gelingen. Warum nicht auch in Geschichte? Gerade die Geschichte – sie kann eine Entdeckungsreise sein! Bei einigen Lehrern hatte ich das erlebt. Sie brachten mir die Vergangenheit auf eine Weise nahe, das ich hinterher glaubte, soeben die besten Argumente fürs politische Tagesgespräch gefunden zu haben. Sie vermittelten Weltanschauung, zitierten Klassiker frei und begeisterten mit erregenden Schilderungen. Die haben sich eingeprägt.

So wollte auch ich nun Geschichte vermitteln: lebendig, anschaulich, streitbar. Doch nicht überall spürte ich von Anfang an Entgegenkommen. Besonders eine Klasse, durchaus nicht die leistungsstärkste, suchte mich erst einmal anderweitig zu testen. Schon von der Tür aus habe ich die Bescherung gesehen: Ein nasser Scheuerlappen auf meinem Lehrertisch, darauf eine Plastetasse, mit einer zerflederten Bananenschale dekoriert. Es klingelte bereits. Der Ordnungsdienst meldete. Herausfordernd hockten die Schlakse hinter ihren Tischen. „Sehr aufmerksam von Euch – doch ich habe schon gefrühstückt", erwiderte ich. Das war sicher genauso blöd wie ihr Spaß. Doch die Spannung wurde weggelacht. Nun konnte ich die Arbeit beginnen.

Vier bis fünf Stunden täglich habe ich zu unterrichten: Sport, Geschichte, zusätzlich Geographie in der eigenen Klasse und in den übrigen vertretungsweise auch in anderen Fächern. Jede Klasse forderte von mir so oder anders den Einstand.



Im Studienfach Methodik hatte ich immer gute Zensuren bekommen. Nun aber versuchte ich täglich neu, Geschichte in 45 Minuten zu fassen. Manchmal verzichtete ich auf Anschauungsmaterial im Unterricht, nur, um es nicht ständig mit mir im Schulhaus umhertragen zu müssen. Noch zu selten ging ich auf die Schüler ein. Die Hochschule kann den Schulalltag nicht vorwegnehmen, das weiß ich heute. Sie kann bestenfalls gut darauf vorbereiten. Zu fachlichem Wissen musste nun die Erfahrung kommen, die nur aus der täglichen und oft harten Kleinarbeit zu gewinnen war. Ihr hatte ich mich auch als Klassenleiterin zu stellen, obwohl es mir dafür noch an vielem zu fehlen schien. Nicht auf Anhieb halte ich zu allen Eltern „ Kontakt gefunden. Manche Väter und Mütter waren auch nicht zur Elternversammlung erschienen. Wie sollte ich mich verhalten? In den 13 Wochen unseres Praktikums während des Studiums war uns manches in den Schulen verborgen geblieben. Gut, dass jetzt vor allem die schulpraktische Ausbildung der Studenten erweitert worden ist. Dadurch dauert das Diplomlehrerstudium zwar künftig ein Jahr länger, doch meinen Nachfolgern kommt das bestimmt einmal zugute.

Natürlich konnte ich jederzeit meinen Mentor um Rat fragen. Er ist ein erfahrener Lehrer, von der Schulleitung benannt, um mir vor allem fachliche Hilfe zu geben. Dennoch mochte ich ihn nicht mit allem belasten. Bald entdeckte ich für mich das „Raucherzimmer", obwohl ich selbst nicht rauche. Ich fand heraus, dass sich dort während der Pausen einige Kollegen treffen. Sie nahmen auch Anteil an meinen Problemen, fragten mich: „Na, Kücken, kommst du zurecht? Brauchst du Hilfe?" Montags abends schloss ich mich dem Lehrersport an. Im Miteinander löste sich vieles wie von selbst.

Nun weiß ich schon, was mich frühmorgens erwartet. Viele meiner rund 200 Jungen und Mädchen kenne ich inzwischen bei ihren Namen. Ich habe erkannt, dass sich hinter Ines Unruhe familiäre Probleme verbergen. Thomas jedoch ist einfach zu faul, sich zu konzentrieren. Auch Kinder haben gute und schlechte Tage.

Es bleibt die Kunst des Lehrers, Stimmungen zu berücksichtigen, sich auf sie einzustellen, ohne sich ihnen auszuliefern. Frau Pleschke seit über 30 Jahren bei uns Geschichtslehrerin, kann das. Hätte ich doch schon ein bisschen mehr von ihrem Fingerspitzengefühl vom Urteilsvermögen meines Mentors, vom Weitblick manch anderer Kollegen!

Jetzt habe ich sie vor mir, alle meine 25 Schüler, erwartungsvoll: Es gibt Zeugnisse. Ich möchte ihnen etwas Besonderes mit auf den Weg geben, möchte ihnen etwas von dem sagen, was ich in den letzten Monaten empfunden habe, oder was ich gemeinsam mit ihnen für sie erreichen will: Lebenstüchtigkeit, Offenheit, Verlässlichkeit. Sie sollen doch einmal ihren Platz in unserer Gesellschaft ausfüllen! Was aber vermag ich auszudrücken? Eine Stunde ist kurz. Schon ertönen Stimmen im Treppenhaus. „Ferien", schallt es durch unseren lieben, alten Backsteinklotz. Ferien, ich freue mich, wie eine Schülerin.

In diesem Moment geht mir vieles durch den Kopf. Selbst der Abschied von der Studiengruppe vor reichlich einem halben Jahr ist mir wieder gegenwärtig, wie wir alle unseren Anspruch noch einmal bekräftigt haben: „Wir wollen die Schüler begeistern, mitreißen!" Schon mit der für März bevorstehenden Klassenfahrt würde ich dazu eine neue Chance haben, mehr noch, mit jeder Schulstunde, die ich künftig geben werde.

Aufgaben zum Text:


Date: 2016-03-03; view: 648


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