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Opicina, 16. November 1992 11 page

Weißt du noch? Als du klein warst, konntest du es wegen des Zwangs zur Folgerichtigkeit, der die Kinder aus-zeichnet, nicht ertragen, daß der Stern und die Heiligen Drei Könige gleich von Anfang an bei der Krippe standen. Sie mußten weit entfernt sein und langsam vorrücken, der Stern vorneweg und die drei Könige knapp hinterher. Ge- nausowenig konntest du es ertragen, daß das Jesuskind schon vor der Zeit in der Krippe lag, also ließen wir es am vierundzwanzigsten Punkt Mitternacht vom Himmel in den Stall herunterschweben. Während ich die Schafe auf ihrem kleinen grünen Teppich aufstellte, fiel mir noch etwas anderes ein, was du gern mit der Krippe machtest, ein Spiel, das du selbst erfunden hattest und das zu wiederholen du nie müde wurdest. Ich glaube, am Anfang hast du dabei an Ostern gedacht. Ich hatte die Gewohnheit, an Ostern bunt bemalte Eier für dich im Garten zu verstecken. An Weihnachten verstecktest du anstatt der Eier die Schäfchen; wenn ich gerade nicht hinsah, nahmst du eins aus der Herde und verstecktest es an den unerwartetsten Orten, dann kamst du zu mir und fingst mit verzweifelter Stimme zu blöken an. Dann ging die Suche los, ich ließ alles stehen und liegen und ging, dich lachend und blökend hinter mir, durchs Haus und sagte: »Wo bist du, verlorenes Schäfchen? Gib mir ein Zeichen, damit ich dich in Sicherheit bringe.«

Und wo bist du jetzt, mein Schäfchen? Du bist dort drüben, während ich schreibe, bei den Kojoten und den Kak-
teen. Wenn du dies liest, wirst du mit aller Wahrscheinlichkeit wieder hier sein, und meine Sachen werden schon auf dem Dachboden liegen. Werden meine Worte dir Geborgenheit geben? Nein, so eingebildet bin ich nicht, sie werden dich vielleicht nur geärgert haben, werden die schon sehr schlechte Meinung bestätigt haben, die du vor deiner Abreise von mir hattest. Vielleicht wirst du mich erst verstehen können, wenn du größer bist, wenn du den geheimnisvollen Weg gegangen bist, der von der Unversöhnlichkeit zur Barmherzigkeit führt.

Barmherzigkeit, gib acht, nicht Mitleid. Wenn du Mitleid empfindest, werde ich wie diese bösen kleinen Geister über dich kommen und dir einen Haufen Streiche spielen. Dasselbe werde ich auch tun, wenn du nicht demütig, sondern bescheiden sein wirst, wenn du dich an leerem Geschwätz berauschen wirst anstatt zu schweigen. Glüh- lampen werden explodieren, die Teller werden aus den Regalen fliegen, die Unterhosen werden plötzlich am Kron-leuchter hängen, von Tagesanbruch bis spät in die Nacht werde ich dich keinen Augenblick in Ruhe lassen.

Natürlich ist das alles nicht wahr, ich werde nichts tun. Wenn ich irgendwo sein werde, wenn es mir möglich sein wird, dich zu sehen, werde ich nur traurig sein, so wie ich jedesmal traurig bin, wenn ich ein vergeudetes Leben sehe, ein Leben, in dem der Weg der Liebe sich nicht durchsetzen konnte. Gib auf dich acht. Jedesmal, wenn du, wach-send, Lust haben wirst, die falschen Dinge in richtige Dinge zu verwandeln, erinnere dich daran, daß die erste Revolution, die man machen muß, die im eigenen Inneren ist, das ist die erste und wichtigste. Für eine Idee zu kämp- fen, ohne eine Idee von sich selbst zu haben, ist mit das gefährlichste, was man tun kann.



Jedesmal, wenn du dich verloren fühlst, verwirrt, denk an die Bäume, an ihre Art zu wachsen. Denk daran, daß ein Baum mit einer großen Krone und wenig Wurzeln beim ersten Windstoß umgerissen wird, während bei einem Baum mit vielen Wurzeln und kleiner Krone die Säfte nicht richtig fließen. Wurzeln und Krone müssen gleichermaßen wachsen, du mußt in den Dingen und über den Dingen sein, nur so wirst du Schatten und Schutz bieten können, nur so wirst du zur rechten Jahreszeit blühen und Früchte tragen können.

Und wenn sich dann viele verschiedene Wege vor dir auftun werden, und du nicht weißt, welchen du einschla-gen sollst, dann überlasse es nicht dem Zufall, sondern setz dich und warte. Atme so tief und vertrauensvoll, wie du an dem Tag geatmet hast, als du auf die Welt kamst, laß dich von nichts ablenken, warte, warte noch. Lausche still und schweigend auf dein Herz. Wenn es dann zu dir spricht, steh auf und geh, wohin es dich trägt.

Susanna Tamaro
im Diogenes Verlag

»Die 1957 in Triest geborene italienische Autorin Susanna Tamaro, Großnichte Italo Svevos, ist eine hinreißende Fabuliererin mit frischer Phantasie, Poesie und Witz.« Süddeutsche Zeitung, München

»Dieser aufrichtige und klare Stil; diese Fähigkeit, das Leid der Schwachen und Schutzlosen zu zeichnen – sie hat es vermocht, mich zu rühren, ohne mich zu beschämen, nicht anders als es mir bei der Lektüre von Oliver Twist ergangen war oder bei bestimmten Seiten aus Kafkas Amerika.« Federico Fellini

Love

Fünf Erzählungen
Aus dem Italienischen von Maja Pflug

»Die Großnichte Italo Svevos hat mit ihrem Debüt sogleich ein kleines, in sich abgerundetes Meisterstück hingelegt. Fünf Geschichten von Menschen, zumeist Kindern und alten Leuten, die um Würde und eine menschengerechte Existenz ringen und doch zum Scheitern verurteilt sind.« Bremer

»Susanna Tamaro ist genau das gelungen, was Hunderte erfolglos versuchen, nämlich ein Buch über die Trauer zu schreiben, das ohne Klischees auskommt und auf Anklage sowie wehleidige Selbstbespiegelung verzichtet.« Tages-Anzeiger, Zürich

Kopf in den Wolken

Roman. Deutsch von Ulrich Hartmann
[Erscheint im September 1995]

»In Ton und Gestus einer Schelmenerzählung zaubert Susanna Tamaro nicht nur den Kopf ihres jugendlichen Helden in die Wolken, sondern die ihrer Leser dazu.« Süddeutsche Zeitung, München

»Ein poetisches Buch vom Erwachsenwerden, Schelmenroman und phantasievolles Märchen in einem.« Hamburger Abendblatt


Date: 2016-01-14; view: 547


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Opicina, 16. November 1992 10 page | Wir fahren an die Ostsee. Peter war am Schwarzen Meer.
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