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Opicina, 16. November 1992 10 page

Sie lachte. »Mach dich nicht lächerlich«, sagte sie, »das Herz ist ein Muskel, wenn du nicht zu schnell läufst, kann es nicht weh tun.«

Wie oft habe ich versucht, mit ihr zu reden, als sie groß genug war, um zu verstehen, ihr zu erklären, was mich dazu gebracht hatte, mich von ihr zu entfernen. »Es stimmt«, sagte ich zu ihr, »an einem bestimmten Punkt deiner Kindheit habe ich dich vernachlässigt, ich habe eine schwere Krankheit gehabt. Wenn ich mich, als ich krank war, weiter um dich gekümmert hätte, wäre es vielleicht noch schlimmer gewesen. Jetzt geht es mir gut«, sagte ich, »wir können darüber reden, diskutieren, von vorn anfangen.« Sie wollte nichts davon wissen. »Jetzt geht es mir schlecht«, sagte sie und weigerte sich zu reden. Sie haßte die heitere Gelassenheit, die ich nach und nach erlangte, tat alles, um sie zu erschüttern, um mich in ihre kleinen alltäglichen Höllen mit hineinzuziehen. Sie hatte beschlossen, daß ihr Seinszustand das Unglücklichsein war. Sie hatte sich in sich selbst verbarrikadiert, damit nichts die Vorstellung, die sie sich von ihrem Leben gemacht hatte, trüben konnte. Mit dem Verstand behauptete sie natürlich, sie wolle glücklich sein, aber in Wirklichkeit – im tiefsten Inneren – hatte sie schon mit sechzehn, siebzehn Jahren mit jeder Möglichkeit der Veränderung abgeschlossen. Während ich mich langsam einer anderen Dimension öffnete, saß sie unbeweglich da, die Hände auf dem Kopf, und wartete darauf, daß die Dinge auf sie herunterfielen. Meine neue Ruhe ärgerte sie, wenn sie das Evangelium auf meinem Nachttisch liegen sah, sagte sie: »Worüber mußt du dich trösten?«

Als Augusto starb, wollte sie nicht einmal zu seinem Begräbnis kommen. Er hatte in den letzten Jahren an einer schweren Form von Arteriosklerose gelitten, wanderte durchs Haus und redete dabei wie ein Kind, und sie konnte ihn nicht ertragen. »Was will dieser Herr?« schrie sie, kaum daß er schlurfend in der Tür eines Zimmers erschien. Als er starb, war sie sechzehn Jahre alt; seit sie vierzehn war, nannte sie ihn nicht mehr Papa. Er ist an einem Novembernachmittag im Krankenhaus gestorben. Sie hatten ihn am Tag vorher wegen einer Herzattacke ein- gewiesen. Ich war bei ihm im Zimmer, er trug ein weißes, auf dem Rücken zugebundenes Hemd. Nach Meinung der Ärzte war das Schlimmste schon vorüber.

Die Krankenschwester hatte gerade das Abendessen gebracht, da ist er, als hätte er etwas gesehen, plötzlich auf-gestanden und hat drei Schritte auf das Fenster zu gemacht. »Ilarias Hände«, hat er mit glanzlosem Blick gesagt, »solche Hände hat sonst niemand in der Familie«, dann hat er sich wieder ins Bett gelegt und ist gestorben. Ich habe zum Fenster hinausgesehen. Ein feiner Regen fiel. Ich strich ihm über den Kopf.

Siebzehn Jahre lang, ohne je etwas durchsickern zu lassen, hatte er dieses Geheimnis für sich behalten.



Es ist Mittag, die Sonne scheint und der Schnee schmilzt. Auf der Wiese vor dem Haus kommt stellenweise das gelbe Gras durch, von den Ästen der Bäume tropft stetig das Wasser. Es ist seltsam, aber bei Augustos Tod ist mir klargeworden, daß der Tod als solcher, für sich allein, nicht immer die gleiche Art von Schmerz verursacht. Es entsteht eine plötzliche Leere – die Leere ist immer gleich –, aber gerade in dieser Leere nimmt die Verschiedenheit des Schmerzes Gestalt an. Alles, was man nicht gesagt hat, materialisiert sich in diesem Raum und dehnt sich aus, dehnt und dehnt sich immer weiter aus. Es ist eine Leere ohne Türen, ohne Fenster, ohne Auswege, das, was dort in der Schwebe bleibt, bleibt für immer so, ist über dir, mit dir, um dich, hüllt dich ein und verwirrt dich wie dichter Nebel. Die Tatsache, daß Augusto von Ilaria wußte und mir nie etwas gesagt hatte, bekümmerte mich tief. Nun hätte ich gern mit ihm über Ernesto gesprochen, darüber, was er für mich bedeutet hatte, ich hätte gern über Ilaria mit ihm gesprochen, über sehr viele Dinge hätte ich mich gern mit ihm unterhalten, aber es war nicht mehr möglich.

Jetzt kannst du vielleicht verstehen, was ich dir eingangs sagte: Die Toten belasten uns nicht so sehr durch ihre Abwesenheit als vielmehr durch das, was – zwischen uns und ihnen – nicht ausgesprochen wurde.

Wie nach Ernestos Tod suchte ich auch nach Augustos Tod Trost in der Religion. Kurz zuvor hatte ich einen
deutschen Jesuitenpater kennengelernt, der nur wenige Jahre älter war als ich. Als er meine Abneigung gegen Gottesdienste bemerkte, schlug er mir nach ein paar Treffen vor, uns an einem anderen Ort als der Kirche zu treffen.

Da wir beide gern wanderten, beschlossen wir, zusammen zu gehen. Er holte mich jeden Mittwochnachmittag mit Bergschuhen und einem alten Rucksack ab, sein Gesicht gefiel mir sehr, es hatte den hageren, ernsten Ausdruck eines Mannes, der in den Bergen aufgewachsen ist. Daß er ein Priester war, schüchterte mich am Anfang ein, alles, was ich ihm erzählte, erzählte ich nur halb, ich befürchtete, Anstoß zu erregen, verurteilt, unbarmherzig verdammt zu werden. Dann eines Tages, während wir uns auf einem Stein sitzend ausruhten, sagte er zu mir: »Sie schaden sich selbst, wissen Sie. Nur sich selbst.« Von dem Augenblick an hörte ich zu lügen auf, ich öffnete ihm mein Herz, wie ich es nach Ernestos Tod niemandem gegenüber mehr getan hatte. Während ich sprach, vergaß ich sehr bald, daß ich einen Mann der Kirche vor mir hatte. Im Gegensatz zu den anderen Priestern, denen ich begegnet war, kannte er weder Worte der Verurteilung noch des Trostes, das ganze süßliche Gerede der abgegriffensten Botschaften war ihm fremd. Es war eine Art Härte in ihm, die auf den ersten Blick abstoßend erscheinen konnte. »Nur der Schmerz läßt einen wachsen«, sagte er, »aber man muß sich ihm stellen, wer ausweicht oder sich bemitleidet, ist dazu bestimmt zu verlieren.«

Siegen, verlieren, die kriegerischen Ausdrücke, die er verwendete, dienten dazu, einen stummen, rein inneren Kampf zu beschreiben. Seiner Meinung nach war das Herz des Menschen wie die Erde, halb von der Sonne beschienen und halb im Schatten. Nicht einmal die Heiligen waren ganz im Licht. »Einfach, weil es den Körper gibt«, sagte er, »sind wir auf jeden Fall im Schatten, wir sind wie die Frösche, Amphibien, ein Teil von uns lebt hier unten in der Niederung und den anderen zieht es nach oben. Zu leben bedeutet nur, sich dessen bewußt zu sein, es zu wissen und darum zu kämpfen, daß das Licht nicht gänzlich vom Schatten geschluckt wird. Mißtrauen Sie denen, die vollkommen sind«, sagte er zu mir, »denen, die die Lösungen schon fertig in der Tasche haben, mißtrauen Sie allem außer dem, was Ihr Herz Ihnen sagt.« Ich hörte ihm fasziniert zu, noch nie war ich jemandem begegnet, der so gut ausdrückte, was schon seit geraumer Zeit in mir brodelte, ohne heraus zu können. Mit seinen Worten nahmen meine Gedanken Gestalt an, auf einmal lag ein Weg vor mir, ihn zu gehen schien mir nicht mehr unmöglich.

Ab und zu hatte er in seinem Rucksack ein Buch dabei, das ihm besonders teuer war; wenn wir uns ausruhten, las er mir mit seiner klaren, strengen Stimme daraus vor. Zusammen mit ihm habe ich die Gebete der russischen Mön-che entdeckt, das Gebet des Herzens, habe die Stellen des Evangeliums und der Bibel verstanden, die mir vorher dunkel erschienen. In all den Jahren, die seit Ernestos Tod vergangen waren, hatte ich zwar innerliche Fortschritte
gemacht, aber diese Fortschritte beschränkten sich auf die Kenntnis meiner selbst. Irgendwann war ich auf meinem Weg vor einer Mauer gestanden, ich wußte, daß der Weg jenseits der Mauer lichter und breiter weiterging, aber ich
wußte nicht, wie ich hinüberkommen sollte. Eines Tages, während eines plötzlichen Regenschauers, stellten wir uns im Eingang einer Höhle unter. »Wie macht man es, zum Glauben zu gelangen?« fragte ich ihn dort drinnen. »Das
macht man nicht, der Glaube kommt von selbst. Sie haben ihn schon, aber Ihr Stolz hindert Sie daran, es zuzugeben. Sie stellen sich zu viele Fragen, wo es einfach ist, machen Sie es kompliziert. In Wirklichkeit haben Sie nur furcht-bare Angst. Lassen Sie sich gehen, und was kommen soll, wird kommen.«

Ich kehrte immer verwirrter, immer verunsicherter von jenen Wanderungen heim. Er war unangenehm, ich sagte es dir schon, seine Worte verletzten mich. Sehr oft spürte ich den Wunsch, ihn nicht mehr zu sehen, am Dienstag- abend sagte ich mir, jetzt rufe ich ihn an und sage ihm, er soll nicht kommen, weil es mir nicht gutgeht, aber dann rief ich ihn doch nicht an. Am Mittwochnachmittag erwartete ich ihn pünktlich an der Tür mit Wanderschuhen und Rucksack.

Etwas mehr als ein Jahr lang unternahmen wir unsere Wanderungen, dann wurde er von seinen Vorgesetzten von einem Tag auf den anderen seines Amtes enthoben.

Was ich dir gesagt habe, mag dich vielleicht veranlassen zu denken, Pater Thomas sei ein überheblicher Mann, aus seinen Worten, seiner Weltanschauung spreche Heftigkeit oder Fanatismus. Doch dem war nicht so, innerlich war er der gelassenste und gütigste Mensch, dem ich je begegnet bin, er war kein Soldat Gottes. Wenn etwas Mystisches an seiner Persönlichkeit war, so war es eine ganz konkrete, in den Dingen des Alltags verankerte Mystik.

»Wir sind hier, jetzt«, sagte er immer wieder zu mir.

An der Tür gab er mir einen Umschlag. Darin war eine Ansichtskarte, auf der eine Landschaft mit Gebirgsweiden zu sehen war. »Das Reich Gottes ist in euch«, stand auf deutsch darüber, und auf die Rückseite hatte er mit der Hand geschrieben: »Wenn Sie unter der Eiche sitzen, seien Sie nicht Sie selbst, sondern die Eiche, seien Sie im Wald der Wald, auf der Wiese die Wiese, unter den Menschen mit den Menschen.«

Das Reich Gottes ist in euch, erinnerst du dich noch? Dieser Satz hatte mich schon beeindruckt, als ich als un- glückliche Jungverheiratete in Aquila lebte. Wenn ich damals die Augen schloß und den Blick nach innen gleiten ließ, konnte ich nichts sehen. Nach der Begegnung mit Pater Thomas hatte sich etwas verändert, ich sah zwar immer noch nichts, aber es war keine vollkommene Blindheit mehr, am Ende der Dunkelheit begann es heller zu werden, ab und zu gelang es mir ganz kurz, mich selbst zu vergessen. Es war nur ein kleines, schwaches Licht, kaum ein Flämmchen, ein Hauch hätte genügt, um es auszulöschen. Dennoch gab mir die Tatsache, daß es da war, eine seltsame Leichtigkeit; es war nicht Glück, was ich empfand, sondern Freude. Es war auch keine Euphorie dabei, keine Begeisterung, ich fühlte mich nicht weiser, über den Dingen. Was da in mir heranwuchs, war nur ein heiteres Bewußtsein zu existieren.

Wiese auf der Wiese, Eiche unter der Eiche, Mensch unter den Menschen.

Dezember

 

Mit Buck vorneweg bin ich heute morgen auf den Dachboden gegangen. Wie viele Jahre hatte ich diese Tür nicht mehr geöffnet! Überall lag Staub, und große Weberknechte hingen in den Ecken der Dachbalken. Während ich Schachteln und Kartons hin und her schob, entdeckte ich mehrere Nester von Siebenschläfern, sie schliefen so fest,
daß sie nichts merkten. Als Kind geht man gern auf den Dachboden, als alter Mensch weniger. Alles, was damals geheimnisvolle, abenteuerliche Entdeckung war, wird zu schmerzvoller Erinnerung.

Ich suchte die Weihnachtskrippe und mußte mehrere Schachteln und die beiden größten Truhen öffnen, bis ich sie fand. Ilarias Lieblingspuppe fiel mir in die Hände, in Zeitungen und Lumpen gehüllt, ihre Kinderspielsachen.

Weiter unten, glänzend und bestens erhalten, lagen Augustos Insekten, sein Vergrößerungsglas, die ganze Ausstattung, die er zum Sammeln benutzte. In einer Bonbonschachtel daneben waren, mit einem roten Bändchen zusammengebunden, die Briefe von Ernesto. Von dir gab es nichts, du bist jung, lebendig, der Dachboden ist noch nicht dein Ort.

Als ich die Tüten öffnete, die in einer der Truhen lagen, fand ich auch die wenigen Dinge aus meiner eigenen Kindheit, die aus dem eingestürzten Haus gerettet worden waren. Sie waren angesengt, verkohlt, ich habe sie herausgenommen, als wären es Reliquien. Es handelte sich zumeist um Küchengerät: eine Emailschüssel, eine Zuckerdose aus weißblauer Keramik, ein wenig Besteck, eine Kuchenform und ganz unten die losen Seiten eines Buches, das keinen Einband mehr hatte. Welches Buch war das? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Erst, als ich es vorsichtig in die Hand genommen und begonnen habe, die ersten Zeilen zu überfliegen, ist mir alles wieder eingefallen. Ich war ganz aufgeregt: Es war nicht irgendein Buch, sondern dasjenige, das ich als Kind am meisten geliebt, das, was mich am meisten zum Träumen angeregt hatte. Es hieß Die Wunder des Jahres Zweitausend und war, auf seine Weise, ein Science-fiction-Roman. Die Geschichte war eher einfach, aber voller Phantasie. Um zu erfahren, ob sich die wunderbaren Versprechungen des Fortschritts bewahrheiten würden, hatten sich zwei Wissenschaftler vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr Zweitausend einfrieren lassen. Nach genau einem Jahrhundert hatte der Enkel eines ihrer Kollegen, ebenfalls ein Wissenschaftler, sie aufgetaut und sie auf einer kleinen fliegenden Plattform auf eine Erkundungsreise um die Welt mitgenommen. In dieser Geschichte kamen keine Außerirdischen und keine Raumschiffe vor, alles, was geschah, handelte nur vom Schicksal des Menschen, davon, was er selbst aufgebaut hatte. Und wollte man dem Autor glauben, hatte der Mensch lauter Wundertaten vollbracht. Es gab weder Hunger noch Armut mehr auf der Welt, denn die Wissenschaft hatte zusammen mit der Technologie eine Möglichkeit gefunden, jeden Winkel des Planeten fruchtbar zu machen, und sie hatte – was noch wichtiger war – erreicht, daß die Erträge dieser Fruchtbarkeit auf gerechte Weise unter allen Bewohnern aufgeteilt wurden. Viele Maschinen nahmen den Menschen die schwere Arbeit ab, alle hatten viel freie Zeit, und so konnte jeder Mensch die erhabensten Seiten seines Selbst entwickeln, in allen Teilen der Erde erklang Musik, wurden Verse rezitiert, wurden ruhige, gelehrte philosophische Gespräche geführt. Als genügte das nicht, konnte man auch dank der fliegenden Plattform in weniger als einer Stunde von einem Kontinent zum anderen gelangen. Die beiden alten Wissenschaftler schienen sehr zufrieden zu sein: Alles, was sie in ihrem positiven Glauben als Hypothese aufgestellt hatten, war eingetroffen. Während ich das Buch durchblätterte, fand ich auch mein Lieblingsbild wieder: das, auf dem sich die beiden beleibten Gelehrten mit darwinschem Bart und karierter Weste frohlockend über den Rand der Plattform beugen, um hinunterzusehen.

Um jeden Zweifel auszuräumen, hatte einer der beiden gewagt, die Frage zu stellen, die ihm am meisten am Her-zen lag: »Und die Anarchisten«, hatte er gefragt, »die Revolutionäre, gibt es die noch?«

»Oh, natürlich gibt es die noch«, hatte ihr Führer lächelnd geantwortet. »Sie leben in ihren eigenen Städten, die extra unter dem Eis der Pole errichtet wurden, so könnten sie, falls es ihnen zufällig einfallen sollte, den anderen nichts anhaben.«

»Und die Heere«, fragte daraufhin der andere nach, »wieso sieht man nicht einen einzigen Soldaten?«

»Heere gibt es keine mehr«, antwortete der junge Mann.

An diesem Punkt atmeten die beiden erleichtert auf: Endlich war der Mensch zu seiner ursprünglichen Güte zurückgekehrt! Es war jedoch eine Erleichterung von kurzer Dauer, denn sogleich sagte ihr Führer zu ihnen: »Oh nein, das ist nicht der Grund. Der Mensch hat nicht die Zerstörungslust verloren, er hat nur gelernt, sich zu be- herrschen. Soldaten, Kanonen, Bajonette sind überholte Kampfmittel. An ihrer Stelle gibt es nun ein kleines, aber überaus mächtiges Gerät, nur dem ist es zu verdanken, daß es keine Kriege mehr gibt. Es genügt nämlich, auf einen Berg zu steigen und es von oben herunterfallen zu lassen, um die ganze Welt in einen Regen aus Bröseln und Split-tern zu verwandeln.«

Die Anarchisten! Die Revolutionäre! Wie viele Alpträume meiner Kindheit in diesen beiden Wörtern! Für dich ist es vielleicht etwas schwierig, das zu verstehen, aber du mußt bedenken, daß ich gerade sieben Jahre alt war, als die Oktoberrevolution ausbrach. Ich hörte die Großen schreckliche Dinge flüstern, eine Schulkameradin hatte mir gesagt, daß die Kosaken in Kürze bis nach Rom zum Petersdom vordringen und ihre Pferde an den geweihten Brunnen tränken würden. Der Schrecken, naturgemäß im Geist der Kinder vorhanden, hatte sich in dieses Bild gekleidet: Nachts, beim Einschlafen, hörte ich das Trampeln von Hufen, die den Balkan herunterrasten.

Wer hätte sich vorstellen können, daß die Schrecken, die ich zu sehen bekam, ganz anders, sehr viel erschütternder sein würden als der Anblick von Pferden, die durch die Straßen Roms galoppierten! Als ich als Kind dieses Buch las, rechnete ich lange, um herauszufinden, ob es mir in meinem Alter gelingen würde, das Jahr Zweitausend zu erleben. Neunzig Jahre schien mir ein recht hohes, aber kein unerreichbares Alter zu sein. Diese Vorstellung berauschte mich, gab mir ein Gefühl der Überlegenheit all denen gegenüber, die das Jahr Zweitausend nicht mehr erreichen würden.

Jetzt, da es fast soweit ist, weiß ich, daß ich es nicht mehr erleben werde. Ob ich es bedauere, mich danach sehne? Nein, ich bin nur sehr müde, von all den angekündigten Wundern habe ich nur eins wahr werden sehen: die winzige allmächtige Bombe. Ich weiß nicht, ob alle in den letzten Tagen ihrer Existenz es empfinden, dieses plötzliche Gefühl, zu lange gelebt, zu viel gesehen, zu viel gehört zu haben. Ich weiß nicht, ob es dem Steinzeitmenschen auch so ging wie uns jetzt oder nicht. Im Grunde kommt es mir, wenn ich an das Jahrhundert denke, das ich fast ganz durchlebt habe, so vor, als habe die Zeit irgendwie eine Beschleunigung erfahren. Ein Tag ist immer noch ein Tag, die Nacht ist immer noch lang im Vergleich zum Tag, der Tag ist lang im Vergleich zu den Jahreszeiten. Es ist jetzt noch genauso wie damals in der Steinzeit. Die Sonne geht auf und wieder unter. Astronomisch ist der Unterschied minimal, falls es überhaupt einen gibt.

Dennoch habe ich den Eindruck, alles habe sich beschleunigt. Die Geschichte läßt viele Dinge geschehen, bombardiert uns mit immer anderen Ereignissen. Am Ende jedes Tages fühlt man sich müder; am Ende eines Le-bens erschöpft. Denk nur an die Oktoberrevolution, den Kommunismus! Ich habe ihn heraufziehen sehen, habe wegen der Bolschewiken nachts nicht geschlafen; ich habe gesehen, wie er sich in den Ländern ausbreitete und die Welt in zwei große Lager teilte, hier das Weiße, dort das Schwarze – Weiß und Schwarz in ständigem Kampf mit-
einander: Wegen dieses Kampfes hielten wir alle den Atem an: Da war die Bombe, sie war schon einmal gefallen, aber sie konnte in jedem Augenblick wieder geworfen werden. Dann, plötzlich, stelle ich an einem Tag wie jedem anderen den Fernseher an und sehe, daß es das alles nicht mehr gibt, daß Mauern, Zäune, Denkmäler fallen: In weniger als einem Monat ist die große Utopie des Jahrhunderts ein Dinosaurier geworden. Sie ist einbalsamiert, liegt nun ganz harmlos in ihrer Unbeweglichkeit mitten in einem Saal, und alle gehen daran vorbei und sagen, wie groß sie war, oh, wie schrecklich sie war!

Ich sage Kommunismus, aber ich hätte auch alles mögliche andere sagen können, so viele Dinge sind an meinen Augen vorbeigezogen, und keines von diesen vielen ist geblieben. Verstehst du jetzt, warum ich sage, die Zeit habe sich beschleunigt? Was konnte in der Steinzeit im Laufe eines Lebens schon geschehen? Die Jahreszeit des Regens, die der Schneefälle, die Jahreszeit, in der die Sonne schien und die Heuschrecken einfielen, hier und da ein blutiges Handgemenge mit unangenehmen Nachbarn, vielleicht noch der Aufprall eines kleinen Meteoriten, durch den sich ein rauchender Krater bildete. Außer dem eigenen Feld, außer dem Fluß gab es sonst nichts; da man nichts von der Ausdehnung der Welt wußte, verstrich die Zeit zwangsläufig langsamer.

»Mögest du in interessanten Jahren leben«, sagen die Chinesen angeblich zueinander. Ein wohlmeinender Glückwunsch? Ich glaube kaum, mehr denn ein Glückwunsch scheint es mir ein Fluch zu sein. Die interessanten Jahre sind die unruhigsten, die, in denen viele Dinge geschehen. Ich habe in sehr interessanten Jahren gelebt, aber die, in denen du leben wirst, werden vielleicht noch interessanter sein. Auch wenn es nur ein von den Astronomen festgelegtes Datum ist, die Jahrtausendwende scheint immer große Erschütterungen mit sich zu bringen.

Am 1. Januar des Jahres Zweitausend werden die Vögel auf den Bäumen um die gleiche Zeit erwachen wie am 31. Dezember 1999, sie werden genauso singen und, wenn sie damit fertig sind, wie am Tag zuvor auf Futtersuche gehen. Für die Menschen dagegen wird alles anders sein. Vielleicht werden sie sich – wenn die vorausgesehene Strafe nicht eintrifft – voll guten Willens dem Aufbau einer besseren Welt widmen. Wird es so sein? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Die Hinweise, die ich bisher sehen konnte, sind unterschiedlich und stehen alle im Wider- spruch zueinander. An einem Tag kommt es mir vor, als wäre der Mensch nur ein großer, seinen Trieben ausgelie- ferter Affe, der leider in der Lage ist, hochkomplizierte und sehr gefährliche Maschinen zu bedienen; am nächsten Tag dagegen habe ich den Eindruck, daß das Schlimmste schon vorbei ist und der menschliche Geist schon beginnt,
seine bessere Seite hervorzukehren. Welche Hypothese wird sich bewahrheiten? Wer weiß, vielleicht keine von beiden, vielleicht wird der Himmel wirklich in der ersten Nacht des Jahres Zweitausend, um den Menschen zu be- strafen für seine Dummheit, für die Torheit, mit der er seine Möglichkeiten vergeudet hat, einen schrecklichen Feuerregen mit Lavabrocken auf die Erde niedergehen lassen.

Im Jahr Zweitausend wirst du gerade vierundzwanzig Jahre alt sein und all dies sehen, ich dagegen werde schon nicht mehr da sein und meine unbefriedigte Neugier ins Grab mitgenommen haben. Wirst du darauf vorbereitet sein, wirst du fähig sein, in der neuen Zeit zu bestehen? Wenn in diesem Augenblick eine kleine Fee vom Himmel herabschwebte und mir erlaubte, drei Wünsche auszusprechen, weißt du, worum ich sie dann bitten würde? Ich würde sie bitten, mich in einen Siebenschläfer zu verwandeln, in eine Meise, in eine Hausspinne, in irgend etwas, das ungesehen neben dir lebt. Ich weiß nicht, wie deine Zukunft aussehen wird, ich kann es mir nicht vorstellen; da ich dich gern habe, leide ich sehr darunter, es nicht zu wissen. Die wenigen Male, die wir darüber gesprochen haben, sahst du sie gar nicht rosig: Mit der Absolutheit einer Heranwachsenden warst du überzeugt, daß das Unglück, das dich damals verfolgte, dich für immer verfolgen würde. Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Warum nur, wirst du dich fragen, komme ich auf diesen verrückten Gedanken? Durch Buck, mein Schatz, immer nur durch Buck. Denn als du ihn im Tierheim ausgewählt hast, glaubtest du, nur einen Hund unter anderen Hunden ausgewählt zu haben. In Wirklichkeit hast du damals in den drei Tagen innerlich eine viel größere, viel entscheidendere Schlacht geschlagen: Es ging ja darum, zwischen dem äußeren Schein und der Stimme des Herzens zu wählen, und du hast dich ohne den geringsten Zweifel, ohne die geringste Unentschlossenheit für die Stimme des Herzens entschieden.

Ich hätte in deinem Alter sehr wahrscheinlich einen vornehmen Hund ausgesucht, den edelsten, den mit dem weichsten Fell, einen Hund, den man ausführen konnte, um beneidet zu werden. Meine Unsicherheit, die Umge-bung, in der ich aufgewachsen war, hatten mich schon der Tyrannei der Äußerlichkeit ausgeliefert.

Dezember

 

Nach der ganzen langen Stöberei gestern auf dem Dachboden habe ich schließlich nur die Krippe mit herunter-gebracht und die Kuchenform, die den Brand überlebt hat. Die Krippe mag ja angehen, wirst du sagen, wir haben bald Weihnachten, aber was hat die Kuchenform damit zu tun? Diese Kuchenform gehörte meiner Großmutter, also
deiner Urahnin, und ist der einzige Gegenstand, der von der Geschichte der Frauen in unserer Familie noch übrig ist. Durch das lange Herumliegen auf dem Dachboden ist sie stark gerostet, ich habe sie gleich in die Küche gebracht und versucht, sie mit der guten Hand im Ausguß wieder blank zu scheuern. Denk nur, wie oft sie im Lauf ihrer Existenz in den Backofen und wieder heraus kam, wie viele verschiedene, immer modernere Backöfen sie gesehen hat, wie viele verschiedene und doch ähnliche Hände sie mit Teig gefüllt haben. Ich habe sie mit heruntergebracht, damit sie noch weiter lebt, damit du sie benutzt und sie vielleicht deinerseits wieder deinen Töchtern vererbst, damit diese Kuchenform in ihrer Geschichte als einfaches Gerät die Geschichte unserer Generationen zusammenfaßt und bewahrt.

Kaum sah ich sie unten in der Truhe liegen, ist mir das letzte Mal eingefallen, als es uns zusammen gutging. Wann war das? Vor einem Jahr, vielleicht vor etwas mehr als einem Jahr. Am frühen Nachmittag warst du ohne anzuklopfen in mein Zimmer gekommen, ich lag, die Hände über der Brust gekreuzt, auf dem Bett und ruhte mich aus, und du warst bei meinem Anblick rückhaltlos in Tränen ausgebrochen. Dein Schluchzen weckte mich. »Was ist
los?« fragte ich dich, indem ich mich aufsetzte. »Was ist denn passiert?« – »Du wirst bald sterben, das ist passiert«, gabst du mir zur Antwort und weintest noch heftiger. »O Gott, so bald dann hoffentlich auch wieder nicht«, sagte ich lachend und fügte hinzu: »Weißt du was? Ich bringe dir jetzt etwas bei, was ich kann und du nicht, und wenn ich dann nicht mehr da bin, tust du es und erinnerst dich dabei an mich.« Ich stand auf, und du bist mir um den Hals gefallen. »Also«, habe ich gesagt, um die Rührung zu verscheuchen, die mich schon ansteckte, »was soll ich dir bei-bringen?« Während du dir die Tränen trocknetest, hast du eine Weile darüber nachgedacht und schließlich gesagt: »Kuchen backen«. Daraufhin sind wir in die Küche gegangen, und es begann ein langer Kampf. Vor allem anderen wolltest du dir die Schürze nicht umbinden. »Wenn ich mir die Schürze anziehe«, sagtest du, »werde ich später auch noch mit Lockenwicklern und Pantoffeln herumlaufen müssen, was für ein Graus!« Dann, als du das Eiweiß zu Schnee schlagen solltest, tat dir das Handgelenk weh, du wurdest ärgerlich, weil die Butter sich nicht mit dem Eigelb vermischte, weil der Backofen nie heiß genug war. Beim Ablecken des Kochlöffels, mit dem ich die Schokolade flüssig gerührt hatte, ist meine Nase braun geworden. Als du es gesehen hast, hast du zu lachen angefangen. »In deinem Alter«, hast du gesagt, »schämst du dich nicht? Deine Nase ist braun wie eine Hundeschnauze!«

Um diesen einfachen Kuchen zu backen, haben wir den ganzen Nachmittag gebraucht und die Küche in einen er-barmungswürdigen Zustand versetzt. Plötzlich waren wir heiter und fröhlich, weil wir gemeinsam etwas vollbracht hatten. Erst als der Kuchen endlich in den Backofen kam und du zusahst, wie er ganz langsam hinter dem Glas braun wurde, ist dir wieder eingefallen, warum wir ihn gebacken hatten, und du hast wieder zu weinen angefangen. Ich versuchte, dich vor dem Backofen zu trösten. »Wein doch nicht«, sagte ich, »es stimmt, daß ich vor dir sterben werde, aber wenn ich nicht mehr da bin, werde ich trotzdem noch da sein, ich werde in deinem Gedächtnis lebendig sein mit schönen Erinnerungen: Du wirst die Bäume sehen, den Gemüsegarten, die Blumenbeete, und dabei werden dir all die glücklichen Augenblicke einfallen, die wir zusammen verbracht haben. Genauso wird es dir gehen, wenn du dich in meinen Sessel setzt, wenn du den Kuchen bäckst, den ich dir heute gezeigt habe, und dann wirst du mich mit braun verschmierter Nase vor dir sehen.«

Dezember

 

Heute bin ich nach dem Frühstück ins Wohnzimmer gegangen und habe begonnen, die Weihnachtskrippe am ge-wohnten Platz über dem Kamin aufzubauen. Zuerst habe ich das grüne Papier ausgebreitet, dann die trockenen klei-nen Moospolster darauf gelegt, die Palmen, den Stall mit dem heiligen Josef und der Muttergottes und Ochs und Esel darin aufgestellt, und rundherum die Hirten, die Frauen mit den Gänsen, die Musikanten, die Schweine, die Fischer, die Hähne und Hühner, die Schafe und die Geißböcke verteilt. Mit Tesafilm habe ich über der Landschaft das blaue Himmelspapier befestigt; den Kometen habe ich in die rechte, die Heiligen Drei Könige in die linke Tasche meines Morgenrocks gesteckt; dann bin ich auf die andere Seite des Zimmers gegangen und habe den Stern an die Anrichte gehängt; darunter, etwas weiter weg, habe ich in einer Reihe die Heiligen Drei Könige mit ihren Kamelen aufgestellt.


Date: 2016-01-14; view: 462


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