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Armee von der Schulbank

Mit den Luftwaffenhelfern begann Hitler den Kampf bis zum letzten Kind.

Natürlich sieht man seinen Händen an, dass Helmut Klug jetzt 74 ist, die faltigen Finger eines alten Mannes und in jedem Glied schon die Ahnung kommender Kraftlosigkeit. Nur nicht am Klavier. Da verwandeln sie sich immer noch in junge Hüpfer, tanzen auf den Tasten, fliegen durch die Viervierteltakte alter Marika-Rökk-Schlager.

Klug hatte es: eine hundertstel Sekunde Glück, vor 59 Jahren. Sonst hätte man nie erfahren, wie gut er auf dem Instrument ist.

Bruno Rüll hatte es nicht. Das Bild von ihm muss kurz vor seinem Tod entstanden sein. Auf dem Foto blickt ein erstens Pennälergesicht in eine unbestimmte Ferne, die Endstation Sehnsucht liegt irgendwo hinterm Zackenrand der Schwarzweißaufnahme. Er wollte Theologie studieren, die Seele zu Gott, den Menschen ein Tröster, Retter, Ratgeber.

Bruno Rüll hatte eine hundertstel Sekunde Pech, vor 59 Jahren. Man wird nie mehr erfahren, ob er ein guter Priester geworden wäre.

Eine hundertstel. Am 29. Januar 1944, kilometerhoch über der Flakbatterie 1/681 Neu-Isenburg, in einer Maschine der 8. US-Luftflotte mit Tagesziel Rhein-Main, ist das die Entscheidung, ob die Bombe unten ein paar Meter weiter rechts oder links fällt, wer leben wird, wer streben muss. Mittags um halb zwölf schießen unten die abkommandierten Sekundaner der Offenbacher Hindenburg-Oberschule aus sechs 8,8-Zentimeter-Rohren Gruppenfeuer Nordnordost.

Oben, über der grauen Wolkendecke, klinkt eine der 763 Maschinen Bomben aus, es pfeift, es sirrt, dann schlägt eine ein: genau in den Betonsockel des Geschützes „Emil“. Dort, wo Bruno Rüll steht. Und nur 50 Meter entfernt von Geschütz „Frieda“, wo sein Klassenkamerad Helmut Klug herumgewirbelt wird, aber überlebt.

Rüll und Klug waren erst 15, als die Bombe fiel. 2 von den rund 56 000 Luftwaffenhelfern im fünften Kriegsjahr 1944, in dem der Endsieg nur noch die letzte Lüge war, in dem Gymnasiasten und Lehrlinge die zur Front geschickten Flaksoldaten ersetzten mussten, in dem der Kommandierende General des zuständigen Luftgaus VII, Emil Zenetti, den Kinderkrieg vor den Eltern mit dem „eisernen Zwang“ rechtfertigte, „auch das Letzte für die Verteidigung auszunützen“.

Mit einer Parole sollte dieser General tatsächlich Recht behalten: Der Dienst am Kruppstahl formte an die 200 000 Jungen der Jahrgänge 1926 bis 1929 „frühzeitig zu reifern Menschen“, ließ sie „körperlich und seelisch härter“ werden. Es war die Art Härte, die aus halben Kindern alte Männer machte, wenn sie die Leichenteile ihrer Mitschüler nach dem Volltreffer von Neu-Isenburg einsammeln mussten, die Art von Schockreife, die Überlebende wie Helmut Klug heute noch sagen lässt, er gehörte zur Luftwaffenhelfer-Generation: „Der Einsatz dauerte nur ein Jahr, aber er beschäftigt uns ein Leben.“



Es zählt zu den Eigenheiten beim Blick zurück, dass Schwarzweißbilder aus jener Zeit allesamt den Schwarzweißklischees von jener Zeit zu entsprechen scheinen, auch die Fotos, die Klugs Schulfreund Ottmar Mantz sorgfältig auf Pappe geklebt hat. Gruppenfotos von scharf gescheitelten Schlaksen, lässig posierend in ihrer Uniform oder im Sommer mit nacktem Oberkörper an der 8,8-Zentimeter-Kanone. Bilder, die so wirken, als hätte es für die Jungs nichts Schöneres geben können, als im Glauben an Führer, Volk und Vaterland in den Krieg zu ziehen.

Mantz und Klug, der eine pensionierter Internist, der andere Handelsvertreter im Ruhestand, beteuern beide, dass die Bilder trügen. Denn als die zehnte Klasse an 11. Januar 1944 mit der Tram von der Hindenburgschule in die Baracken der Flakstellung Neu-Isenburg abrückte, wussten die meisten Schüler schon, dass der Krieg verloren war. Mantz war sogar aus der HJ ausgeschlossen worden, weil er das zu laut gesagt hatte; die Achselklappen hatten sie ihm dafür öffentlich abgeschnitten. Nein, Helmut Klug und Ottmar Mantz wollten nicht flink, stark und zäh sein, sie wollten überleben.

Uuml;berleben in einer absurden Normalität. Auch wenn schon alles in Trümmer fiel, bemühte sich der Nazi-Apparat Anfang 1944 weiter um die Illusion, dass die Welt noch in Ordnung sie. Für die Flakhelfer hieß das: Es gab eine Urlaubsordnung – zweimal im Jahr 14 Tage; eine Entgeltordnung – eine halbe Reichsmark jeder Tag; eine Schulzeitordnung – mindestens 18 Stunden Unterricht in der Woche.

Auch die Lehrer der Offenbacher Hindenburgschule rückten dazu in Gefechtspausen in die Batterie ein, mit Geometrie, Grammatik und Goethe. Tatsächlich hatte die Flakschule für die Kriegsmaschine aber vor allem eine Aufgabe: die besorgten Eltern zu beruhigen.

Die Heimatfront hielt nämlich keineswegs so stoisch stand, wie die „Wochenschau“ tönte. Schon im April 1944, 15 Monate nach der Verordnung, mit die ersten Luftwaffenhelfer gezogen worden waren, erregte sich General Zenetti in einem Rundbrief „An die Eltern der Luftwaffenhelfer“ über „nichtgerechtfertigte Beschwerden“. Im nächsten Schreiben, im August, musste die Luftgauführung dann noch deutlicher werden: Es habe keinen Zweck, blaffte da ein genervter Generalleutnant, „brieflich in akademische Erörterungen über die Tatsache des Luftwaffenhelfer-Einsatzes mit samt seinen schulischen und erzieherischen Auswirkungen mit mir einzutreten“.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Luftwaffenführung längst ihre letzte Hemmung verloren, die Milchbubis als Masse Mensch in jede Lücke zu stopfen. Gebrochen wurde das Versprechen, die Armee von der Schulbank wenigstens heimatnah einzusetzen. Weil die Befehlshaber den Luftraum über immer mehr Städten preisgaben und lieber die Rüstungsbetriebe schützen, verlegten die Generäle auch die Flakhelfer weg von Muttern.

Klug und Mantz kamen in die Nähe von Koblenz; zu gewinnen gab es da schon nichts mehr. Bereits in der Nacht vom 18. März 1944 hatte die Neu-Isenburger Flak mit drei Batterien mehr als 3000 Granaten in den Nachthimmel gejagt. Am nächsten Morgen war Frankfurt trotzdem so zerstört, als wäre die Royal Air Force allenfalls in Turbulenzen geraten. 22 Maschinen verloren die Briten, 747 kamen durch. „Da oben was zu treffen“, sagt Mantz, „war doch reines Lotto“, nicht selbst getroffen zu werden, reines Glück: In Kassel starben im Oktober 1943 durch Volltreffer 23 Flakhelfer, im Mai 1944 in Saarbrücken 16, wie viele der Jungen insgesamt fielen, hat keiner gezählt.

Immerhin, Mantz und Klug haben etwas gewonnen: ein zweites Leben – sie feiern es jedes Jahr, am 29. Januar, an jenem Gedenkstein, den sie und einige andere Ex-Luftwaffenhelfer zum 50. Jahrestag für drei tote Klassenkameraden an der Einschlagstelle der Bombe aufgestellt haben. Mantz, der Arzt, hat dann immer noch Leichengeruch vom Tag der Katastrophe in der Nase, Klug dieses Bild vor Augen, von einem abgerissenen Oberkörper, der auf den Wall seines Geschützes geschleudert war und nach Bruno Rüll aussah.

In der Offenbacher Zeitung vom 2. Februar 1944 hieß es, Bruno Rülls Tod sei nicht umsonst gewesen.

Jürgen Dahlkamp


Date: 2016-01-05; view: 917


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