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III. Die Freie Liebe.

 

ii305u

Ist das Institut der freien Liebe die vollständige Vernichtung der Ehe und der Familie?

Werden wir uns zunächst darüber klar, was die Apostel der freien Liebe darunter verstehen.

Sie erklären:

ii306 1) Liebt ein Mann ein Weib und dieses ihn, so begründen sie eine Gemeinschaft;

2) lieben mehrere Weiber einen Mann, so kann dieser mit mehreren Weibern zusammenleben;

3) ist der Mann des Weibes oder das Weib des Mannes überdrüssig, so scheiden sie sich;

4) die Kinder werden gleich, oder einige Zeit nach der Geburt, dem Staate übergeben.

Man ersieht hieraus klar, daß das Institut der freien Liebe die Ehe nicht aufhebt. Es besteht nach wie vor eine eheliche Gemeinschaft, eine Familie.

Der Unterschied zwischen den beiden Instituten liegt auf der Oberfläche und lautet, allgemein bestimmt:

Im Institut der freien Liebe steht es im Belieben des Individuums, monogamisch oder polygamisch zu leben und die Kinder sind lediglich Staatsbürger: sie haben Erzeuger, aber keine Eltern.

Das Wort der edlen Doctrinäre:

Ohne die Ehe kein Staat überhaupt,

berührt mithin die freie Liebe gar nicht. Es hätte nur dann einen Sinn, wenn man unter Ehelosigkeit die absolute Keuschheit verstünde. Dann allerdings hätten die Doctrinäre Recht. Wären sie aber gute Christen, wenn sie sich gegen die Ehelosigkeit in diesem Sinne zornig erhöben? Sie wären schlechte Christen, die sich gegen ihren Heiland auflehnten. Doch dies jetzt nur nebenbei. Wir werden das Christenthum später berühren.

Im gegenwärtigen Staat treten uns mit Absicht auf den geschlechtlichen Verkehr die Prostitution, Hurerei, und die Schein-Ehe, verhüllte Polygamie entgegen.

Es ist von jeher so gewesen, daß gerade die Reinsten und Edelsten, die über dem geschlechtlichen Genuß Stehenden, am freiesten über die geschlechtlichen Beziehungen gesprochen und die geschlechtlichen Vergehen am mildesten beurtheilt haben. Der Grund hiervon liegt zu Tage. Erstens dienten sie der Wahrheit und wer sich dieser hehren Göttin geweiht hat, kennt keinerlei Rücksicht und spricht offen aus, was ihm das Herz belastet. Dann haben sie aus tausend Wunden blutend gerungen und die Erinnerung an die wilden Kämpfe machte sie außerordentlich mild und nachsichtig. |

ii307 Sie kannten die Gewalt des Dämons, welcher das Blut mit lautem Geschrei durchrast und die arme Vernunft zum Aschenbrödel macht, das sich verschüchtert, zitternd und mit verhüllten Augen vor dem finsteren Tyrannen in den äußersten Winkel des Gehirns flüchtet. Sie klagt nur zuweilen:

Du hast mir mein Geräth verstellt und verschoben.

Ich such’ und bin wie blind und irre geworden;

Du lärmst so ungeschickt . . . . .

(Goethe.)

So sehen wir denn auch Schopenhauer, einen Weisen, der dem geschlechtlichen Genuß (vielleicht erst nach einer stürmischen Jugend) entsagt hatte und nur noch den Leib gut pflegte, freimüthig die Monogamie verurtheilen und die Polygamie preisen. Was trieb ihn hierzu? Nur das herzzerreißende Mitleid mit den strahlenden Nymphen in den Bordellen, deren Inneres so öde und verdorrt wie eine Wüste ist. Entsetzlich! Welcher Edle hätte je die Stätten der Unzucht und des geschminkten Lasters betreten, ohne mit dem Erstickungstod durch Mitleid zu ringen? Welcher Edle konnte die Porta Capuana in Neapel oder die Pariser und Londoner Schlupfwinkel des Geschlechtstriebs oder die Amsterdamer Matrosenbordelle oder die Straßen des Hamburger Lustdirnenviertels verlassen, ohne die Hand geballt zum Himmel aufzuheben und zu rufen: Wie kann ein barmherziger Gott leben, wenn es ein solches Treiben giebt?



Und was trieb diese Unglücklichen, die meistens das beste gutmüthigste Herz im Busen tragen, in diese Höllen? Entweder die Noth um’s tägliche Brod oder der durch ein einziges Weib nicht befriedigte Geschlechtstrieb des Mannes (Verführung im weitesten Sinne), oder der eigene Geschlechtstrieb, der nicht gestillt werden konnte, weil bei der jetzigen Lage der Dinge, dem jetzigen schweren Erwerb, dem jetzigen Kampf um’s Dasein, der jetzigen schlechten Erziehung der meisten Frauen, sehr viele Männer die kostspielige Ehe meiden müssen, also Uebelstände, die im idealen Staate gar nicht vorhanden wären.

Schopenhauer sagt:

In unserem monogamen Welttheile heißt Heirathen seine Rechte halbiren und seine Pflichten verdoppeln. –

ii308 Bei der widernatürlich vortheilhaften Stellung, welche die monogamische Einrichtung und die ihr beigegebenen Ehegesetze dem Weibe ertheilen, indem sie durchweg das Weib als das völlige Aequivalent des Mannes betrachten, was es in keiner Hinsicht ist, tragen kluge und vorsichtige Männer sehr oft Bedenken, ein so großes Opfer zu bringen und auf ein so ungleiches Paktum einzugehen. Während daher bei den polygamischen Völkern jedes Weib Versorgung findet, ist bei den monogamischen die Zahl der verehelichten Frauen beschränkt und bleibt eine Unzahl stützeloser Weiber übrig, die in den höheren Classen als unnütze alte Jungfern vegetiren, in den untern aber unangemessen schwerer Arbeit obliegen, oder auch Freudenmädchen werden, die ein so freuden- wie ehrloses Leben führen, unter solchen Umständen aber zur Befriedigung des männlichen Geschlechtes nothwendig werden, daher als ein öffentlich anerkannter Stand auftreten, mit dem speciellen Zweck, jene vom Schicksal begünstigten Weiber, welche Männer gefunden haben, oder solche hoffen dürfen, vor Verführung zu bewahren. In London allein giebt es deren 80,000. Was sind denn diese Anderes, als bei der monogamischen Einrichtung auf das Fürchterlichste zu kurz gekommene Weiber, wirkliche Menschenopfer auf dem Altare der Monogamie? Alle hier erwähnten, in so schlechte Lage gesetzten Weiber sind die unausbleibliche Gegenrechnung zur Europäischen Dame, mit ihrer Prätension und Arroganz. Für das weibliche Geschlecht als ein Ganzes betrachtet, ist demnach die Polygamie eine wirkliche Wohlthat. Andererseits ist vernünftiger Weise nicht abzusehen, warum ein Mann, dessen Frau an einer chronischen Krankheit leidet, oder unfruchtbar bleibt, oder allmälig zu alt für ihn geworden ist, nicht eine zweite dazu nehmen sollte. Was den Mormonen so viele Konvertiten wirbt, scheint eben die Beseitigung der widernatürlichen Monogamie zu sein. Zudem aber hat die Ertheilung unnatürlicher Rechte dem Weibe unnatürliche Pflichten aufgelegt, deren Verletzung sie jedoch unglücklich macht. Manchem Manne nämlich machen Standes- oder Vermögensrücksichten die Ehe, wenn nicht etwan glänzende Bedingungen sich daran knüpfen, unräthlich. Er wird alsdann wünschen, sich ein Weib, nach seiner Wahl, unter andern, ihr und der Kinder Loos sicher stellenden Bedingungen zu erwerben. |

ii309 Seien nun diese auch noch so billig, vernünftig und der Sache angemessen, und sie giebt nach, indem sie nicht auf den unverhältnißmäßigen Rechten, welche allein die Ehe gewährt, besteht, so wird sie, weil die Ehe die Basis der bürgerlichen Gesellschaft ist, dadurch in gewissem Grade ehrlos und hat ein trauriges Leben zu führen; weil einmal die menschliche Natur es mit sich bringt, daß wir auf die Meinung Anderer einen ihr völlig unangemessenen Werth legen. Giebt sie hingegen nicht nach, so läuft sie Gefahr, entweder einem ihr widerwärtigen Gatten ehelich angehören zu müssen, oder als alte Jungfer zu vertrocknen: denn die Frist ihrer Unterbringbarkeit ist sehr kurz. In Hinsicht auf diese Seite unserer monogamischen Einrichtung ist des Thomasius grundgelehrte Abhandlung de concubinatu höchst lesenswerth, indem man daraus ersieht, daß unter allen gebildeten Völkern und zu allen Zeiten, bis auf die Lutherische Reformation herab, das Concubinat eine erlaubte, ja, in gewissem Grade sogar gesetzlich anerkannte und von keiner Unehre begleitete Einrichtung gewesen ist, welche von dieser Stufe nur durch die Lutherische Reformation herabgestoßen wurde, als welche hierin ein Mittel mehr zur Rechtfertigung der Ehe der Geistlichen erkannte; worauf denn die katholische Seite auch darin nicht hat zurückbleiben dürfen.

 

Ueber Polygamie ist gar nicht zu streiten, sondern sie ist als eine überall vorhandene Thatsache zu nehmen, deren bloße Regulirung die Aufgabe ist. Wo giebt es denn wirkliche Monogamisten? Wir Alle leben, wenigstens eine Zeitlang, meistens aber immer in Polygamie. Da folglich jeder Mann viele Weiber braucht, ist nichts gerechter, als daß ihm frei stehe, ja obliege, für viele Weiber zu sorgen. Dadurch wird auch das Weib auf ihren natürlichen und richtigen Standpunkt als subordinirtes Wesen zurückgeführt und die Dame, dies Monstrum Europäischer Civilisation und christlich- germanischer Dummheit, mit ihren lächerlichen Ansprüchen auf Respekt und Verehrung, kommt aus der Welt, und es giebt nur noch Weiber, aber auch keine unglücklichen Weiber mehr, von welchen jetzt Europa voll ist.

(Parerga II. 658.)

In diesen, den Kern des Uebels in seiner Mitte treffenden |

ii310 Worten des großen Mannes ist auch die Schein-Ehe als ein nothwendiges Uebel berührt und beleuchtet worden.

Ebenso treffend ist folgende Stelle:

Der Mann kann bequem über hundert Kinder im Jahre zeugen, wenn ihm eben so viele Weiber zur Verfügung stehen; das Weib hingegen könnte, mit noch so vielen Männern, doch nur ein Kind im Jahre (von Zwillingsgeburten abgesehen) zur Welt bringen. Daher sieht er sich stets nach anderen Weibern um; sie hingegen hängt fest dem Einen an: denn die Natur treibt sie, instinktmäßig und ohne Reflexion, sich den Ernährer und Beschützer der künftigen Brut zu erhalten. Demzufolge ist die eheliche Treue dem Manne künstlich, dem Weibe natürlich, und also Ehebruch des Weibes, wie objektiv wegen der Folgen, so auch subjektiv wegen der Naturwidrigkeit, viel unverzeihlicher als der des Mannes.

(W. a. W. u. V. II. 619.)

Ich spreche natürlich von Menschen, die in den Klauen des Geschlechtstriebs liegen. Von Engeln habe ich hier nicht zu reden, sonst würde ich ein ganz anderes Bild zu entwerfen haben. Der Philosoph hat die Menschen zu nehmen, wie sie sind, nicht, wie sie sein sollten, nicht, wie er sie gerne haben möchte. Deshalb frage ich auch unumwunden: Kann der natürliche Mann während der Menstruation, der vorgeschrittenen Schwangerschaft und dem Schwächezustand des Weibes nach der Entbindung enthaltsam sein? Viele werden es vielleicht sein, Viele aber auch können es ganz bestimmt nicht sein und gerathen auf Abwege.

Das Institut der freien Liebe hebt also die Prostitution und die verhüllte Polygamie des Mannes auf. Wird dasselbe nicht dadurch gleichsam geadelt?

Betrachten wir nunmehr die Schein-Ehe von ihrer anderen Seite. Zwei Ehegatten müssen jetzt, wenn sie sich innerlich völlig entfremdet geworden sind, entweder wegen noch bestehender Hindernisse im Wege der Scheidung oder wegen Rücksichten auf die öffentliche Meinung, die aus der übertriebenen Heilighaltung der Ehe fließen, zerbrochene Ketten, welche aus leichten Blumenbanden schwere, klirrende, eiserne Fesseln geworden sind, herumschleppen: qualvoll in erstickender schwüler Luft athmend, freudeleer, zornerfüllt. Eine solche gezwungene Ehe ist die Brutstätte der inneren Verfinsterung, |

ii311 aus welcher Entschlüsse fließen, deren Einfluß auf das Leben der Gesammtheit unberechenbar ist. Goethe sagt:

Des Menschen Verdüsterungen und Erleuchtungen machen sein Schicksal,

und füge ich hinzu: auch das Schicksal der Menschheit. Es ließe sich an der Hand der Geschichte nachweisen, daß die menschliche Gattung bedeutend weiter wäre als sie ist, wenn das Institut der Ehe in früheren Zeiten weniger eine Zwangsanstalt gewesen wäre.

Wer schildert das Elend einer Ehe, die durch Zwang allein, gleichviel welcher Art, bestehen bleibt? Ich habe in viele solcher Ehen geblickt und mich mit Grauen von dem Zerwürfniß an sich und seinen Folgen abgewandt. Das schlechteste Motiv war gegeben und wurde in ungeschwächter Wirksamkeit erhalten. Die Lüge und die Verleumdung erhoben auf beiden Seiten trotzig ihr Haupt aus dem Schlamme der Leidenschaftlichkeit; aus gezähmten Thieren wurden wilde Bestien, aus der seidenen Robe und dem feinsten, mit Orden geschmückten Rock grinste schamlos der grenzenloseste natürliche Egoismus und Kinder standen auf der einen, Kinder auf der anderen Seite. Sie benahmen sich gegen einander wie Guelfen und Ghibellinen. Da hörte ich Worte von jungen Mädchen gegen ihren Vater und Worte von zehnjährigen Knaben gegen ihre Mutter, daß ich mich fragte, ob ich wache. Und diese Worte hatte die Mutter den Mädchen, der Vater den Knaben gesagt, Worte, welche sie gar nicht verstanden. Nein! Nein! es darf die Schein-Ehe nicht bestehen bleiben, sie muß den Todesstreich erhalten, selbst dann müßte dies geschehen, wenn es nur eine einzige unglückliche Ehe gäbe, es giebt aber deren unzählige.

Betrachten wir nunmehr die zweite Folge des Instituts der freien Liebe:

Die Kinder sind lediglich Staatsbürger;

sie haben Erzeuger, aber keine Eltern.

Ich bin mir wohl bewußt, daß dieser Satz etwas sehr Gutes, ein süßes, ja heiliges Gefühl in der Brust der Väter und Mütter rauh antastet; aber ich weiß auch, daß etwas viel Besseres, ein viel süßeres und heiligeres Gefühl an die Stelle gesetzt werden kann, während schreckliche Gefühle vernichtet werden. Deshalb muthig voran!

ii312 Das Kind als Säugling wird von der Mutter instinktiv, besser dämonisch, geliebt. Sie kann sich keine Rechenschaft mit dem Geiste darüber geben, warum sie sich zu dem Fleischklümpchen mit den starren Augen, krampfhaften Bewegungen und der schreienden, quiekenden Stimme so unaussprechlich drangvoll hingezogen fühlt. Es ist, als ob die Natur wisse, daß in unserer heutigen Gesellschaft ein ausgesetztes Würmchen elendiglich verhungern müsse und deshalb einen blinden Drang in die Mutter gepflanzt habe, es mit schützenden Armen an ihre Brust zu drücken.

Der Vater dagegen ist selten in sein Kind, so lange es ein Säugling ist, vernarrt. Es ist mehr das rührende Bild der Mutter mit dem Kind, das ihn für Augenblicke von der hastigen Jagd nach Gold abzieht und in ein schönes Glück versenkt. Da werden die wilden gierigen Augen sanft und mild und er küßt ergriffen das geliebte Weib und die gemeinschaftliche Frucht.

Bewußte reine Freude und Liebe, die jederzeit zu erklären sind, empfinden Eltern erst von da an, wo das Kind laufen kann und zu sprechen anfängt, und diese Gefühle steigern sich bis etwa zum sechsten Jahre des Kindes. Denn jetzt hat sich das hungrige oder schlafende Fleischklümpchen zu einem Organismus entwickelt, in welchem die Eltern sowohl äußere Aehnlichkeiten, als Aehnlichkeiten der Charakterzüge bald mit dem Vater, bald mit der Mutter erkennen. Nun liebt Jedes im Kinde bald den Geliebten oder die Geliebte, bald sich selbst. Nun ist die Elternliebe bald verjüngte und verklärte Gattenliebe, bald Eigenliebe, und das Kind wird so ein neues Band zwischen Gatte und Gattin.

Ingleichen entsteht jetzt die reine Elternfreude. Nun regt sich die Muskelkraft im Kinde und die Wißbegierde erwacht. Jetzt entsteht das drollige, später das gewandte elastische Spiel der Irritabilität und die stieren Augen des Säuglings werden zu bald klugen blitzenden, bald contemplativen und sinnenden Sternen. Die Fragen nehmen kein Ende und jede Antwort wird sorgfältig erwogen, classificirt und rubricirt. Nun ertönt das silberhelle Lachen, erscheint das bald schelmische, bald verschmitzte Lächeln, nun verbindet sich der denkende Geist mit der Irritabilität und es entstehen die neckischen, fröhlichen Spiele, Geheimnisse, Enthüllungen, Ueberraschungen: Alles im Zauber der Unschuld, ungestört von der schlummernden Zeugungskraft.

ii313 Und wieder unterbricht täglich, und zwar länger als seither, der Mann die tolle wilde Jagd des Erwerbs und feiert Feste, die nur ein Vater kennt, während die echte Mutter durch den fast ununterbrochenen Verkehr mit den kleinen Schelmen und Schelminnen reichlich für die Schmerzen belohnt wird, die sie bei der Geburt derselben ausgestanden hat. –

Ein anderes Bild!

Kleine Kinder, kleine Sorgen,

Große Kinder, große Sorgen,

ist ein hübsches fränkisches Sprüchwort. Auf einmal entsteht heftiger Zank und Streit unter den Geschwistern. Es sollen ernstliche Vergewaltigungen stattfinden, es zeigt sich der rücksichtsloseste natürliche Egoismus. Die Eltern schlichten, sie erzwingen bald Frieden – aber liegt nicht auf ihren Zügen ein eigenthümlicher Schatten, der nicht weichen will? Ist es der Schatten eines Flügels der Sorge, die durch das Schlüsselloch bei Nacht hereingehuscht ist und nun das Haus nicht mehr verlassen will? Bewegen Gedanken die Eltern wie etwa diese: Wer im Kleinen rücksichtslos ist, ist im Großen ein Schurke? Wer lügt, der stiehlt?

Auch kennt man einen Knaben an seinem Wesen, ob er fromm und redlich werden will.

(Spr. Sal. 20, 11.)

Ach, Ach!

Die Sorge ist wirklich da, sie weicht nicht mehr und je mehr die Eltern Eltern im besten Sinne sind, desto mehr Raum gewinnt sie täglich in ihrem Herzen.

Jetzt beginnen die Streitigkeiten außerhalb des Hauses auf dem Spielplatze oder in der Schule. Jetzt muß der Vater dieses Kindes gegen den Vater jenes Kindes Partei ergreifen. Jetzt entstehen Plänkeleien mit den Nachbarn, die oft mit Todfeindschaft endigen und eine Quelle entspringen lassen, aus der täglich neuer Aerger und Zank fließt.

Ferner hebt jetzt das Elend der Lehrer an, das man sich von ihnen erzählen lassen muß, um es würdigen zu lernen. Das Kind lernt nicht oder ist unaufmerksam; es wird bestraft oder nur beschämt. Es kommt »aufgelöst in Thränen« nach Hause. Die besorgte Mutter erfährt den Sachverhalt. Sie sprüht Feuer. »Du, mein genialer Sohn, ein Dummkopf? Du, mein süßer Engel, eine Faullenzerin? Warten Sie, mein Verehrtester, wir werden uns |

ii314 sprechen!« so ruft sie voll Affenliebe. Den Vater, welcher sich von den Strapatzen seines Berufs in seiner Familie ausruhen will, empfangen mürrische, zuckende Gesichter. Er blickt anstatt in klare, in verweinte trübe Augen. Die Frau hetzt ihn zum Lehrer und – der Rest ist Schweigen.

Aber was sind diese Leiden neben den größeren der späteren Jahre? Betrachten wir zunächst die Sorgen, welche aus dem gegenwärtigen Kampf um’s Dasein entspringen. Ich habe schon oben die Aufmerksamkeit der Vernünftigen darauf gelenkt, daß kein reicher Vater die Gewißheit hat, daß seine Kinder nicht in’s Elend kommen. Der Kampf wird auf eine zu grausame, wilde Weise geführt und dann greifen tausend ganz unberechenbare Hände, die zusammengefaßt der Zufall sind, täglich in’s Menschenleben ein. Nur im idealen Staate werden die meisten der gefährlichen Hände gebunden; jetzt haben sie alle ein freies Spiel. Und wie unbarmherzig zerbrechen sie Das, was man Glück im populären Sinne des Worts nennt, und werfen die Trümmer hohnlachend vor die Füße der Betäubten.

Glück und Glas –

Wie leicht bricht das!

Wie müssen sich die Mütter Zwang anthun, Leiden aller Art erdulden, Opfer aller Art bringen, um für die Unterkunft der Töchter zu sorgen; wie müssen sich die Väter zur Erreichung desselben Zieles oft erniedrigen, gemein werden und sich binden!

Und mehr noch. Wie wird die Jagd der Väter nach Gold immer ruheloser und verzehrender! Jetzt erst spüren sie die kräftigsten Peitschenhiebe und Tatzenschläge des Dämons im Nacken und seine schärfsten Sporen in den blutenden Weichen. Sie müssen voran, immer voran, und je gefühlvoller sie sind, desto rasender eilen sie: es handelt sich ja um das Glück lieber, guter Kinder, die nicht einmal betteln sollen, nein! nein! nur das nicht, barmherziger Gott!

Wie schwankt da die biedere grundehrliche Mannesseele, wenn der Versucher naht und flüstert: Greif zu, du kommst nicht durch die That in Conflikt mit den Gesetzen; du hältst dich bloß hart an ihrer Grenze. Oder: Nimm falsch Maaß und Gewicht. Was thut’s? Wer merkt’s? Diese aber – und er zaubert das Bild der Kinder vor den erregten Sinn – diese haben einen unerschütterlichen Schutz |

ii315 durch das gewonnene Gold. Die Welt ist schlecht; thust du’s nicht, thun’s Andere; soll dich deine Reinheit verderben?

Und er, der widerstanden hätte und siegreich aus dem Kampfe hervorgegangen wäre, wenn er keine bestimmten Kinder gehabt hätte, unterliegt und krümmt sich wie ein Wurm.

Ferner die Söhne. Mit welchem herzzerreißenden Weh entläßt eine gute Mutter ihren jungen Sohn in die Welt. Wie verfolgt sie in Gedanken sein Schifflein und erwägt qualvoll alle Klippen, an denen es vorbei muß. Hat sie ihn nicht in die Hölle gelassen? Oder ist etwa der gegenwärtige Staat das Himmelreich? Wie ängstlich blickt sie zu den Sternen, wie tief entspringt der wundenvollen Seele ein wortlos Gebet um Schutz und Beistand!

Ist der Sohn faul, so ruft wohl der Vater wie der weise Judenkönig:

Wie lange liegest du Fauler? Wann willst du aufstehen von deinem Schlaf?

Ja, schlafe noch ein wenig, schlummere ein wenig, schlage die Hände ineinander ein wenig, daß du schlafest:

So wird dich die Armuth übereilen wie ein Fußgänger, und der Mangel wie ein gewappneter Mann.

(Spr. Sal. 6, 9-11.)

Ist der Sohn ausschweifend, so entstehen andere schweren Sorgen.

Und alle diese Uebelstände, diese unversieglichen, mit jedem Jahre reichlicher fließenden Quellen der Seelenpein befinden sich doch in einer zwar dornigen, aber immerhin erträglichen Bahn. Sie gehören zu jeder Familie und besudeln nicht die Ehre derselben. Auch verschwinden sie, wenn man sie neben andere Schmerzen stellt, die jedem Elternpaar von einem Kinde bereitet werden können.

Ich weiß wohl, daß gute Söhne und gute Töchter eine Augenweide und Herzensfreude für Eltern sind. Wohl Allen, die, ohne zu erröthen, sagen dürfen: Dieser ist mein Sohn, diese ist meine Tochter. Aber ist es denn so selten, daß die Wörtchen »dieser und diese«, »mein und meine« gar nicht auf die Lippen wollen, daß sie die Eltern im Halse fast erwürgen und dann auf der Zunge brennen wie geschmolzenes Blei?

ii316 Ich habe schon oben das Elend berührt, das ein ungerathener Sohn aus voller Schale über seine Familie goß. Es war das denkbar größte und schwerste Elend, in das ein Kind seine Eltern stoßen kann und es ist nicht das einzige. Soll ich die anderen fluchwürdigen Thaten einzeln aufführen, wodurch Kinder das Herz ihrer Eltern brechen können? Nur die grausamen Handlungen will ich berühren, welche Kinder den Eltern gegenüber nicht selten, sondern sehr oft ausüben, und möge hier Shakespeare für mich sprechen. Der König Lear trete auf und breche eine Lanze für die Abtretung der Kinder an den Staat.

 

Lear.

Bist du meine Tochter?

 

Goneril.

Hört mich:

Ich wollt’, ihr brauchtet den gesunden Sinn,

Der sonst, ich weiß, euch zieret; und legtet ab

Die Laune, die seit Kurzem euch verkehrt

Zu einer Denkart, die euch unnatürlich.

 

Lear.

Kennt mich hier Niemand? — Nein, das ist nicht Lear! —

Geht Lear so? Spricht so? Wo sind seine Augen? —

Sein Kopf muß schwach sein, oder seine Deutkraft

Im Todesschlaf. Ha, bin ich wach? — Es ist nicht so.

Wer kann mir sagen, wer ich bin? — —

Ich wähnt’, ich sei ein Fürst, ich hätte Töchter —

Euer Name, schöne Frau? —

 

Goneril.

O geht, Mylord.

Dieses Erstaunen schmeckt zu sehr nach andern

Von euren neuen Grillen. Ich ersuch’ euch,

Nicht meine wahre Absicht mißzudeuten.

So alt und würdig, seid verständig auch;

— — — Vermindert euren Schwarm,

Und wählt den Rest, der eurem Dienst verbleibt,

Aus Männern, wohlanständig eurem Alter

Die sich und euch erkennen.

ii317

Lear.

Tod und Teufel!

Sattelt die Pferde! Ruft all mein Gefolge!

Entarteter Bastard, ich will dich nicht

Belästigen; noch bleibt mir eine Tochter.

Undankbarkeit, du marmorherz’ger Teufel,

Abscheulicher wenn du dich zeigst im Kinde! —

Als der Leviathan! —

Hör’ mich, Natur, hör’, theure Göttin, hör’ mich!

Hemm’ deinen Vorsatz, wenn’s dein Wille war,

Ein Kind zu schenken dieser Creatur! —

Unfruchtbarkeit sei ihres Leibes Fluch! —

Vertrockn’ ihr die Organe der Vermehrung;

Aus ihrem entarteten Blut erwachse nie

Ein Säugling, sie zu ehren. Muß sie kreißen,

So schaff’ ihr Kind aus Zorn, auf daß es lebe

Als widrig quälend Mißgeschick für sie! —

Es grab’ ihr Runzeln in die junge Stirn,

Aetze mit strömenden Thränen ihre Wangen,

Erwiedr’ all ihre Muttersorg’ und Wohlthat

Mit Spott und Hohngelächter, daß sie fühle,

Wie schärfer weit als einer Schlange Zahn

Es sticht, ein undankbares Kind zu haben.

Hinweg! Hinweg! —

Höll’ und Tod! ich bin beschämt,

Daß du so meine Mannheit kannst erschüttern:

Daß heiße Thränen, die mir wider Willen

Entstürzen, dir geweint sein müssen. Pest

Und Giftqualm über dich! —

Des Vaterfluchs grimmtödtliche Verwundung

Durchbohre jeden Nerven deines Wesens! —

Ihr alten, kind’schen Augen, weint noch einmal

Um dies Beginnen, so reiß’ ich euch aus

Und werf’ euch mit den Thränen hin, die ihr vergießt,

Den Staub zu löschen. Ha! so mag’s denn sein! —

Ich hab’ noch eine Tochter,

Die ganz gewiß mir freundlich ist und liebreich.

Wenn sie dies von dir hört, mit ihren Nägeln

Zerfleischt sie dir dein Wolfsgesicht.

ii318

Albanien.

Bei meiner großen Liebe, Goneril,

Kann ich nicht so parteiisch sein —

 

Goneril (kalt.)

Ich bitt’ euch, laßt das gut sein.

(Aufz. I. Sc. IV.)

—————

Lear.

O wie der Krampf mir auf zum Herzen schwillt! —

Hinab, aufsteigend Weh! Dein Element

Ist unten! — Wo ist meine Tochter?

 

Regan.

Ich bin erfreut, Eur’ Majestät zu seh’n,

 

Lear.

Regan, ich denk’, du bist’s, und weiß die Ursach,

Warum ich’s denke; wärst du nicht erfreut,

Ich schiede mich von deiner Mutter Grab,

Weil’s eine Ehebrecherin verschlösse. —

— — — — Geliebte Regan,

Deine Schwester taugt nicht! —

 

Regan.

O Mylord, ihr seid alt,

Natur in euch steht auf der letzten Neige

Ihres Bezirks; euch sollt’ ein kluger Sinn,

Der euern Zustand besser kennt als ihr,

Zügeln und lenken: darum bitt’ ich euch,

Kehrt heim zu uns’rer Schwester; sagt ihr, Herr,

Ihr kränktet sie.

 

Lear.

Ich ihr Verzeih’n erfleh’n?

Fühlst du denn wohl, wie dies dem Hause ziemt?

»Liebe Tochter, ich bekenn’ es, ich bin alt; (er kniet)

»Alter ist unnütz; auf den Knieen bitt’ ich:

»Gewähre mir Bekleidung, Kost und Bett.«

 

Regan.

Laßt ab, Herr! Das sind thörichte Geberden.

Kehrt heim zu meiner Schwester. — — —

—————

ii319

Goneril.

Was braucht ihr, Herr, noch and’re Dienerschaft,

Als meiner Schwester Leute, oder meine? —

 

Regan.

Jawohl, Mylord; wenn die nachlässig wären,

Bestraften wir sie dann. — — —

 

Lear.

Ich gab euch Alles —

 

Regan.

Und zur rechten Zeit,

 

Lear.

Gebt, Götter, mir Geduld! Geduld thut noth!

Ihr seht mich hier, ’nen armen alten Mann,

Gebeugt durch Gram und Alter, zwiefach elend! —

Seid ihr’s, die dieser Töchter Herz empör!

Wider den Vater, närrt mich nicht so sehr,

Es zahm zu dulden; weckt mir edlen Zorn!

O laßt nicht Weiberwaffen, Wassertropfen,

Des Mannes Wang’ entehren! — Nein, ihr Teufel!

Ich will mir nehmen solche Rach’ an euch,

Daß alle Welt — will solche Dinge thun —

Was, weiß ich selbst noch nicht; doch soll’n sie werden

Das Grau’n der Welt. Ihr denkt, ich werde weinen?

Nein, weinen will ich nicht.

Wohl hab’ ich Fug zu weinen; doch dies Herz

Soll eh’ in hunderttausend Scherben splittern,

Bevor ich weine. — — — —

 

Gloster.

O Gott! die Nacht bricht ein, der scharfe Wind

Weht schneidend; viele Meilen rings umher

Ist kaum ein Busch.

 

Regan.

O Herr, dem Eigensinn

Wird Ungemach, das er sich selber schafft,

Der beste Lehrer. Schließt des Hauses Thor.

(Aufz. II. Sc. IV.)

—————

ii320

Lear.

(im Sturm der Haide.)

Rass’le nach Herzenslust! Spei’ Feuer, fluthe Regen;

Nicht Regen, Wind, Blitz, Donner sind meine Töchter:

Euch schelt’ ich grausam nicht, ihr Elemente:

Euch gab ich Kronen nicht, nannt’ euch nicht Kinder,

Euch bindet kein Gehorsam; darum büßt

Die grause Lust: Hier steh’ ich, euer Sklav,

Ein alter Mann, arm, elend, siech, verachtet:

Und dennoch nenn’ ich knecht’sche Helfer euch,

Die ihr im Bund mit zwei verruchten Töchtern

Lenkt eure hohen Schlachtreih’n auf ein Haupt:

So alt und weiß, als dies . . . . .

(Aufz. III. Sc. II.)

—————

Sind Elternflüche selten?

O, ich habe solche zu Dutzenden in meinem Leben ausstoßen gehört und erstarrte. Und nicht nur diese Flüche gellen nur noch im Ohr, sondern auch die Vorwürfe der Eltern: Zuerst Selbstanklagen, dann die Verklagungen unter einander. Die greisen Haare wurden ausgerauft und der erschütternde Weheruf ertönte: Warum habe ich nicht die Worte der Bibel beherzigt?

Wer sein Kind lieb hat, der hält es stets unter der Ruthe, daß er hernach Freude an ihm erlebe.

Wer aber seinem Kinde zu weich ist, der klagt seine Striemen, und erschrickt, so oft es weint.

Ein verwöhntes Kind wird muthwillig, wie ein wildes Pferd.

Zärtle mit deinem Kinde, so mußt du dich hernach vor ihm fürchten; spiele mit ihm, so wird es dich hernach betrüben.

Scherze nicht mit ihm, auf daß du nicht hernach mit ihm trauern müssest und deine Zähne zuletzt kirren müssen.

Laß ihm seinen Willen nicht in der Jugend, und entschuldige seine Thorheit nicht.

Beuge ihm den Hals, weil er noch jung ist; bläue ihm den Rücken, weil er noch klein ist, auf daß er nicht halsstarrig und dir ungehorsam werde.

(Jes. Sir., Cap. 30.)

ii321 Dann warf der Vater der Mutter vor: Du trägst die Schuld an Allem; du hast das Kind verwöhnt, und die Mutter antwortete: Du lügst; du hast es verzärtelt und ihm den Willen gelassen.

Es war entsetzlich.

Fast allen Kindern leben die Eltern zu lang. Sagen sie es nicht, so denken sie es wenigstens. Ich bin aber schon sehr häufig solchen Elenden begegnet, die es offen ausgesprochen haben, namentlich auf dem Lande. Die Eltern errathen diese Gedanken der Kinder und leiden schwer darunter. Was sollen sie machen? Treten sie bei Lebzeiten das Vermögen den Kindern ab, so erwartet sie in den meisten Fällen das Schicksal Lear’s; behalten sie es, so wissen sie, daß man ungeduldig auf ihren Tod wartet, der auch oft genug – die Criminalstatistik weist in dieser Hinsicht haarsträubende Zahlen auf – gewaltsam herbeigeführt wird.

Ehe wir das Verhältniß der Eltern zu den Kindern in unserer Geschichtsperiode verlassen, wollen wir noch einen Blick auf den Tod von Kindern werfen. Der Leiden, welche aus Blödsinnigkeit, Verkrüppelung und Krankheiten der Kinder für Eltern entspringen, wollen wir nur im Vorbeigehen gedenken.

Es ist der Tod guter Kinder, der so unsagbar tief in die Seele der Eltern schneidet. Aber wenden wir uns rasch ab von den guten Vätern, die wie König Lear über seine brave Cordelia klagen:

Nein! Kein Leben!

– Ein Hund, ein Pferd, ’ne Maus soll Leben haben,

Und du nicht einen Hauch? – O du kehrst nimmer wieder,

Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals! –

(Aufz. V. Sc. III.)

und von den guten Müttern, die, wie die Königin Herzeleide den Abschied von Parzival, den Tod des Kindes nicht überleben können oder zu Nonnen in ihrer Wohnung oder wahnsinnig werden.

Sie küßt’ ihn oft und lief ihm nach.

Das größte Herzleid ihr geschah,

Da sie den Sohn nicht länger sah.

Da fiel die lichte, klare Frau

Zur Erde, wo sie Jammer schnitt,

Bis sie den Tod davon erlitt.

Wir wollen barmherzig sein und in ihrem Schmerze nicht wühlen.

ii322 Dagegen wollen wir in gebotener Kürze das Leid der Kinder erwägen, welche ihre Eltern und Geschwister kennen.

Wie ungerathene Kinder auf Eltern, so können auch diese auf Kinder unauslöschliche Schande und schweres Leid häufen. Das Geflüster der Welt: Sein Vater hat gestohlen, gemordet, hat im Zuchthaus gesessen oder seine Mutter ist eine öffentliche Dirne gewesen, hat schon Manchen auf die Bahn des Verbrechens gepeitscht, oder über’s Meer getrieben, wo es ihm dann in Urwaldeinsamkeit die Vögel vorpfiffen. Dieses Geflüster der Welt, so herzlos, so ungerecht es ist, kann doch entschuldigt werden; denn es ist, im Grunde genommen, nur eine Warnung, die auf der unerschütterlichen wissenschaftlichen Basis steht, daß in den Kindern die Eltern weiterleben oder wie der Volksmund sagt:

Elstern zeugen keine Dohlen;

auch:

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Geringeres Leid, wie Trunksucht des Vaters oder der Mutter, Ehebruch, Ausschweifungen aller Art, Wucher, Wechsel der politischen Farbe, Achselträgerei, Schergenthum u.s.w. will ich bloß erwähnen, nicht besprechen.

Aber das Leid muß ich betonen, das schwere Leid, das einem Kinde durch den Tod des Vaters oder der Mutter in die Seele geworfen werden kann. Ein schöneres, innigeres Verhältniß, als das meinige zu meiner Mutter war, ist nicht möglich, ja nicht denkbar; es bildet meine schönste und erhebendste Erinnerung. Und dennoch gäbe ich, ohne einen Augenblick zu zögern, willig dieses Bewußtsein für die Bewußtlosigkeit in dieser Hinsicht. Schon blutet die Wunde zehn lange Jahre und sie wird nie vernarben, – niemals, niemals! Dieser Schmerz vor Allem ist es, der mich gezwungen hat, diesen Essay zu schreiben: ich möchte, daß keine Anderen, kein Einziger mehr ein solches Herzeleid in sich empfände. Die Menschheit zuerst leidlos machen, dann sie in den Frieden des absoluten Todes führen, das wollen die echten Philosophen mit ihrem Buch in der Hand und dasselbe wollen die weisen Helden mit ihrer gluthvollen Rede oder auch mit dem Schwert in der Hand. Und das wird werden, weil es werden muß, weil es im nothwendigen Entwicklungsgang der Menschheit liegt.

ii323 Vom tiefen Gram, worein ein Bruder oder eine Schwester die Geschwister stoßen kann, habe ich bereits oben gesprochen, als ich der jungen Mädchen Erwähnung that, die in Folge des Diebstahls ihres Bruders wie scheue Tauben flohen oder, wie die Schatten in Dante’s zweitem Kreis der Hölle, vom Sturmwind der Scham durch die Straßen getrieben wurden. Jetzt will ich noch auf die Sorge deuten, die Geschwister einem Manne bereiten können. Man muß die Angst um die Zukunft geliebter Angehörigen empfunden haben, um die Segnungen zu begreifen, welche in der Realisation der socialistischen Ideale liegen. Gerade je zartfühlender ein Mann ist, desto schwerer wird er unter der Last unversorgter Schwestern z.B. seufzen. In den niederen Ständen kennt man Bangigkeit wegen des zukünftigen Schicksals Angehöriger nicht, weil daselbst die Kinder schon im zartesten Alter zu rüstiger Arbeit angehalten werden, so daß sie vollkommen gestählt sind, wenn sie flügge werden. In den höheren Ständen dagegen liegen oft auf den Schultern eines Bruders viele Schwestern, die gewöhnlich in Folge einer verkehrten Erziehung entweder nur solche Kenntnisse haben, die zu ihrem Zeitvertreib, zur Verschönerung ihres Lebens in behaglichen Verhältnissen genügen, oder die wirklich gebildet sind, aber dann entweder einen so stolzen Charakter haben, daß sie als Gesellschaftsdamen brechen würden, oder als Gouvernanten, Telegraphistinnen etc. in Angst vor der Welt immer halbtodt wären. Da lähmt denn allemale dem Bruder, wenn er energisch durchgreifen will, der Gedanke den Arm: Stößest Du sie in die Welt, so gehen sie zu Grunde, Sei barmherzig! – Und mit umflortem Blick arbeitet er, daß die Nägel bluten, nur damit kein Unglück geschehe. Vielleicht hat er tiefe Sehnsucht im Herzen nach der Begründung eines Hausstandes mit einem geliebten Wesen; – er muß die Sache hinausschieben, ja darauf verzichten, weil seine Schwestern wie Bleigewichte an ihm hängen und verzehren, was er erwirbt.

Wie mancher Edle würde für die Menschheit gewirkt oder doch mehr gewirkt haben, wenn er es über sich fertig gebracht hätte, auf seinem Wege zu ihr, über geknickte Familienveilchen zu gehen, wenn er die Kraft gehabt hätte, wie Christus zu sagen: »Wer ist mein Vater, wer ist meine Mutter, wer sind meine Schwestern?« Somit ist die Familie auch ein großes Hinderniß für die volle Hingabe an das Allgemeine.

ii324 Ziehen wir hier die Resultate, so finden wir, daß die Abtretung der Kinder an den Staat eine ganz bedeutende, gar nicht festzustellende Summe von Leid aus der Menschheit fortnehmen würde. Es würden von den Eltern abgenommen:

1) die kleinen Sorgen während der Schulzeit der Kinder;

2) die Sorgen um die Zukunft der Kinder;

3) die Gewissensbisse wegen unredlichen Erwerbs;

4) der Gram über faule und ausschweifende Kinder;

5) der Schmerz über schlechte Kinder;

6) die Qual, Kindern fluchen zu müssen;

7) die Pein der Selbstvorwürfe und der Vorwürfe unter einander;

8) Lear-Erfahrungen oder das brennende Bewußtsein, den Kindern zu lange zu leben;

9) der Schmerz über Krankheiten und den Tod guter Kinder.

Es würden ferner von den Kindern abgenommen:

1) der Schmerz über Schandthaten der Eltern;

2) der Schmerz über unwürdiges Betragen der Eltern;

3) das Herzeleid über langwierige körperliche Leiden und auf dem Grabe der Eltern;

4) die Scham über Unthaten der Geschwister;

5) die Sorge um Geschwister.

Außerdem würden ganz empörende Mißstände in der heutigen Gesellschaft fortfallen, die ich kurz erwähnen will.

Glaubt man, daß nur im Adel eine Familientradition vorhanden sei, die aufbläht? Haben die Adeligen allein, wie Schopenhauer so hübsch sagte, Vorruhm, der sie einherwandeln läßt wie radschlagende Pfauen? Wer es glaubt, dem fehlt alle und jede Weltkenntniß. Mit Ausnahme des Proletariats herrscht in allen Schichten dünkelhaftes, unsagbar widerliches Standes- und Familienbewußtsein. Bei den Bauern schließen sich die Hofbesitzer von den Kossäthen und Tagelöhnern ab, bei den Handwerkern fühlen sich die Meister vor den Gesellen wie Wesen höherer Art und im Bürgerstande heißt es: schon mein Urgroßvater ist Kaufherr, oder Bankier, oder Fabrikant, oder Superintendent, oder General, oder Obertribunalsrath u.s.w. gewesen.

Laßt die Kinder nicht wissen, von wem sie abstammen, so fällt dieses hochmüthige Herabsehen auf Andere fort, welches aus |

ii325 der Familientradition und aus den abgeschlossenen Ständen fließt, welche früher nothwendig, jetzt geradezu lächerlich sind, weil sie durch nichts mehr gerechtfertigt werden können. Seid die Edelsten und Tüchtigsten oder die Gebildetsten, dann könnt ihr auf Andere herabsehen, ihr »Vorruhm«-Affen. Werdet Nachruhmerstrebende und dann Nachruhmverachtende, wenn ihr am Ziele seid; denn das ist ja die Folge eines Naturgesetzes (ethische und politische Gesetze sind selbstverständlich Naturgesetze), daß die Tüchtigsten und wahrhaft Gebildeten nicht auf ihre Mitmenschen herabsehen können und der wirklich Große den Nachruhm verachten muß.

Was soll man aber gar vor den Nüancen denken, die innerhalb einer Kaste der Besitz (oft nur einiger Tausend Mark mehr oder weniger) hervorbringt? was vor dem Hochmuthsunkraut, das im Licht einer solchen helleren Nüance wuchert?

Ich habe einmal ein Kinderfest besucht und wie immer meine herzliche Freude an dem fröhlichen Gebahren der kleinen liebreizenden Schmetterlinge gehabt. Da hörte ich plötzlich ein etwa siebenjähriges blondlockiges Mädchen zu einer Spielgenossin sagen: »Mein Vater hat zwei Equipagen und vier Pferde; dein Vater hat aber nur einen Wagen und zwei Pferde,« »Aber,« antwortete die Kleine, »wir haben dafür drei Häuser und ihr habt doch nur Eines.« Inzwischen war ein anderes Kind herangetreten und ohne alle Veranlassung sagte die blondlockige Equipagenstolze voll Uebermuth zu ihr: »Etsch! dein Vater hat keine Equipage und kein eigenes Haus. Ihr müßt zu Fuß gehen und in Miethe wohnen.«

Die kleine Jüdin, die Angeredete, stand außerordentlich beschämt da und es dauerte auch nicht lange, so drängten sich dicke Thränen aus den kummervollen Aeugelein.

Wie kam es nur, daß mir auf einmal zu Muthe ward, als hätten die Lichter ihren Glanz verloren, als sei Wasser auf die leuchtende Freude in meinem Herzen geschüttet worden und als sähe ich anstatt klarer Blond-, Schwarz- und Braunköpfchen Teufelsfratzen? Es war wohl der ganze Jammer unserer socialen Verhältnisse, der plötzlich in einer doppelten Refraktion (die Kinder erzählten doch offenbar nur, was sie von ihren würdigen Eltern aufgeschnappt hatten) brennend in meine Seele fiel.

Ich verließ meinen Beobachtungsposten und trat zu den Kleinen. Ich hob die kleine Jüdin auf, küßte sie auf die Stirne und |

ii326 sagte: »Weine nicht, Rebekka; im Leben fährt heute Einer mit einem Viergespann und morgen bettelt er und umgekehrt. Du kannst noch eine Prinzessin werden. Solltest du mich nicht verstehen, so laß dir die Sache von deinem gescheidten Vater erklären.« Ich setzte sie zur Erde nieder und wandte mich zur Equipagenstolzen, Hochmuthsteufelchen- Besessenen. Hatte ich der Rebekka die immer offene Wunde unseres socialen Körpers mit drei klaren Worten gezeigt, so zeigte ich der Ludmilla mit drei orakelhaften Worten die geheilte Wunde. Ich schüttelte ihr ziemlich derb das Ohrläppchen und sagte: »Du fährst vielleicht als Jungfrau nicht mehr in deines Vaters Wagen. Die Sonnenpferde der Zeit laufen heutzutage entsetzlich schnell.«

Hierauf nahm ich meinen Hut und ging fort. Was hätte ich noch im hellen Saale thun sollen? –

Wir wollen uns wohl merken, daß nach Einführung des Instituts der freien Liebe diese Schandflecken verschwinden müßten und – ich erinnere daran – eine allgemeine Hingabe an das Allgemeine ermöglicht würde.

Und jetzt zur Hauptfrage:

Würde das Institut der freien Liebe wirklich das herrliche Elterngefühl zerstören?

In keiner Weise! Die Elternliebe würde ihre schlackenfreie lichtvolle Metamorphose in der Liebe zu den Kindern schlechthin finden: diese Liebe wäre die verklärte, die idealisirte Elternliebe.

Die ordinäre Elternliebe ist Liebe zu bestimmten Kindern, die andere Liebe ist Liebe zu allen Kindern. In der ersteren liegt die letztere, d.h. in der unreinen anekelnden Hülle der Affenliebe und eitelsten Selbstliebe; denn wie ich schon erwähnte, stehen die Eltern vor ihren Kindern wie vor einem Spiegel, der ihnen das eigene Bild zurückstrahlt. Blicken die Eltern auf ihre Kinder, so lächeln sie selig. Es ist dasselbe Lächeln, womit ein eitles Weib trunken zu seinem Bild im Spiegel sagt: Du bist wunderschön, du bist die Schönste auf Erden, – ob sie gleich häßlich wie die Nacht ist. – Die Affenliebe nun ist die abstoßende Mischung dieser Selbstliebe mit den Ueberbleibseln des Elterninstinkts, der jetzt für die Erhaltung der Brut nothwendig ist, in einem idealen Staate aber schon in der zweiten Generation rudimentär werden würde.

ii327 Wir ersehen ferner hieraus, daß auch vom ästhetischen Standpunkte aus die Abtretung der Kinder an den Staat auf’s Wärmste empfohlen werden muß. Glaubt man denn, daß eine Mutter ungestraft ihr häßliches Kind für schön hält? Schließlich kommt sie wirklich dazu, eine Kartoffelnase schöner zu finden, als eine griechische und mit diesem verderbten Schönheitssinn als Maßstab tritt sie dann an die Gestalten dieser Welt heran.

Wenn also die Kinder gleich oder bald nach der Geburt dem Staate übergeben werden – (ich weiß wohl, daß bei diesem Satze der wohlfeile Witz: er will den Staat zu einer Kleinkinderbewahr- Anstalt, zu einem großen Findelhause machen, hageldicht die Luft durchschwirren wird, aber was thut’s? Magna est vis veritatis et praevalebit) – so würden alle Kinder unsere Kinder sein und nun würden wir ihnen gegenüber genial erkennend werden, d.h. die reinste ästhetische Freude empfinden; denn jetzt hätten wir ja gar kein Interesse mehr an diesem oder jenem bestimmten Kinde, sondern alle Kinder wären uns bloß interessant. Ich behaupte kühn: das Gefühl, das wir dann hätten, wäre ein unverhältnißmäßig reineres und edleres, als unsere einfältige Affenliebe, welche nur deshalb einen Adelsbrief besitzt, weil sie jenes reine Gefühl in sich schließt.

Wir kommen demnach auch hier zum selben Resultat wie beim reinen Communismus. In diesem muß der Reiche nicht auf einen gewohnten Genuß verzichten: es nimmt nur der Arme an seiner Seite Platz und genießt, was er genießt. Ebenso in Betreff der Kinder: neben den Vater darf sich der Junggeselle stellen und Vaterfreuden genießen, ob er gleich keine Kinder erzeugt hat. Und wie es dem edlen Reichen viel wohler zu Muthe sein muß, wenn er weiß, daß alle Menschen so köstlich wie er leben – (sein Genuß wird gleichsam verklärt oder wenigstens stachelfrei gemacht) – so wird auch das Gefühl der Erzeuger erhöht: erstens durch die Reinigung von allen Schlacken der Affenliebe, dann durch das Bewußtsein, daß alle Menschen Elternliebe empfinden.

Ja, ja! es ist wirklich so: die rothe »Spottgeburt aus Dreck und Feuer« ist, in der Nähe betrachtet, ein lichter klarer Engel mit holdseligem Antlitz und

es redet trunken die Ferne,

wie von künftigem großem Glück. –

ii328 Ferner: man drehe und wende sich, man lärme und tobe wie man wolle, es bleibt doch unumstößlich wahr und immerdar bewunderungswürdig, daß der Weise und der Edle, der Gute und der Gerechte, mit Hülfe der Vernunft und des reinsten Gefühls, genau das Selbe fordern müssen, was die rohesten Egoisten fordern. Gerade Diejenigen, welche ihre Eltern und Geschwister am herzlichsten lieben und gerade diejenigen Eltern, welche ihren Kindern gute Eltern sind, verlangen, daß es keine bestimmten Eltern, keine bestimmten Geschwister, keine bestimmten Kinder mehr geben solle. Das macht: sie allein haben ja die Qualen der Elternliebe, der Kindes- und Geschwisterliebe am meisten empfunden. Das Kind soll in seinen Lehrern, der Jüngling in den gestorbenen und lebenden Weisen der Menschheit seinen Vater, die Eltern sollen in allen Kindern ihre Kinder erblicken, nicht in diesen bestimmten zwei, drei oder vier Individuen.

Ebenso verlangen die Weisen und Guten, wie die habsüchtigen Armen, daß alles Kapital in den Händen des Staats vereinigt und die lebendige Arbeit vom Staate regulirt werde und dies nur zu dem Zwecke, daß ihr Seelenfriede nicht durch den Jammer der Menschheit gestört werde. In diesem Einklang aber der hellen Stimmen von oben herab, mit den brüllenden heiseren von unten herauf ist die Gewißheit gegeben, daß der Communismus und die freie Liebe, diese großen und letzten Ideale der Menschheit, mit allen ihren Consequenzen über kurz oder lang real werden.

Ich will diese Vorbetrachtung nicht schließen, ohne einem möglichen Einwand zu begegnen. Man könnte nämlich behaupten, daß widernatürliche Verbindungen, d.h. Geschwisterehen, geschlossen werden könnten, wenn die Abstammung der Kinder nicht bekannt sei. Diesen Einwand halte ich für nichtig; denn erstens trägt die Geschwisterliebe gewöhnlich einen aversionellen Charakter, dessen dämonische Wildheit durch Gewohnheit und Reflexion gebändigt wird (das Gleiche zieht sich nur im geistigen Aether an, im Blutdunst stößt es sich ab, während sich das Entgegengesetzte anzieht). Zweitens ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich Geschwister in dem täglich an Intension zunehmenden Durcheinanderwogen der Menschen ehelichen, eine fast verschwindende.

 


Date: 2015-01-02; view: 814


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II. Der Communismus. | IV. Die allmälige Realisation der Ideale.
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