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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 2 page

Der Keller war sehr tief. Aber das Motorengedröhn der Bomber drang nun doch herab. Ein zitternder, gebrechlicher Greis setzte sich dicht neben Frau Ziesche. So saßen sie, zu dritt in die Mauerecke gepreßt. In der gegenüberliegenden Ecke schlief das Kind.

Ein furchtbarer Schlag, der Keller erbebte, ein zweiter Schlag, dann ein dritter, so gewaltig, daß Holt die Erschütte­rung der Kellerwand in seinem Rücken fühlte. Ein Windstoß fegte durch den Gang. Holt hörte Frau Ziesches Stimme dicht an seinem Ohr, stammelnd: „O heilige Maria ... Mutter Got­tes... unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir...“ Vom Kellereingang her kreischte eine Stimme: „Es brennt!“ Bar­sches Geschrei, das schon unterging: „Alle Männer ...“ und: „... zum Löschen!“ Holt wollte sich erheben, aber Frau Ziesche klammerte sich an ihm fest, sie schrie: „Es brennt. . . ich will raus . . . Ich will raus hier!“ Wahnsinn, dachte Holt, Wahn­sinn; er hörte Wolzows Stimme: „Die Schweine . .. Spreng­bomben in die Flammen . . .“ Da traf ihn ein Stoß mit solcher Wucht, daß sein Kopf gegen die Mauer schlug, das Licht verlöschte, das Leben setzte aus, Holt rang nach Luft, und er hustete, hustete ...

Es dauerte lange, ehe er die Taschenlampe fand. Der Licht­strahl prallte auf eine undurchdringliche weiße Wand von Kalkstaub. Holt stieß Frau Ziesche von sich, erhob sich, trat auf einen Körper, trat darüber hinweg, tastete nach rechts, trat auf Schutt. Sein Kopf stieß gegen etwas Hartes, das war die heruntergebrochene Kellerdecke. Er hustete noch im­mer, aber der Kalkstaub setzte sich. Verschüttet! Holt wollte schreien, der qualvolle Hustenreiz hinderte ihn. Endlich be­kam er Luft, nun zwang er die Panik nieder, aber die Gedan­ken flatterten. Der Staub wurde durchsichtig. Holt überblickte im hin und her huschenden Lichtkegel der kleinen Taschen­lampe die Ecke des Kellerganges, in der sie eingeschlossen wa­ren. Die kaum bezwungene Panik jagte zusammenhanglose Worte durch seinen Sinn: ... in einsamer Nacht und auf verlorenem Posten ... Der Greis richtete sich stöhnend vom Boden auf. Das kleine Mädchen würgte und zog mit pfeifendem Ton die Luft in die Lungen, als habe es Keuchhusten. Aus dem Schutt ragten zwei Beine in blauen Schihosen. Frau Ziesche hustete und rang nach Luft. . . und geht’s ans Sterben, ich bin dabei... Er dachte: Ich muß ... ich muß . . . Und immer wieder: Ich muß! Er dachte: Gleich kommt das Wecksignal ... Er dachte: Der Mauerdurch­bruch !

Er wischte sich über die Augen, in denen der Kalkstaub wie Säure brannte. Er packte Frau Ziesche am Arm und zog sie hoch, sie wollte sich an ihm festhalten, er stieß sie nach hinten, daß sie auf den Schutt fiel. Er schob den Greis hin­ter sich, er schob das kleine Mädchen hinter sich. Dann nahm er die Holzbank, auf der sie gesessen hatten, und rammte sie gegen den Mauerdurchbruch. Vergeblich. Er konnte nicht weit genug ausholen, immer wieder stieß er zu, das Sitzbrett spal­tete der Länge nach auf. Er ließ die Bank fallen und schlug mit den Fäusten auf die Ziegelsteine. Er keuchte, er trat mit dem Fuß gegen das Mauerwerk. Er brüllte überschnappend: „Hilfe!“ Er warf das volle Gewicht seines Körpers gegen den Durchbruch, er fiel nach vorn und schlug mit dem Gesicht auf kantige Steine, es rasselte, es knisterte in den Ohren, er stöhnte vor Schmerz. Dann lag er bewegungslos und atmete tief.



Als er aufstand, fielen Steine von ihm ab. Er hielt die Ta­schenlampe noch in der Hand, aber sie brannte nicht mehr. Er schüttelte sie. Nun flammte sie auf. Vor ihm lag ein langer, leerer Kellergang. Weit vor ihm glühte rotes, zuckendes Licht. Sie sind hier längst raus, dachte er, und dachte: Fliehen! Er hörte hinter sich das hemmungslose Geschrei Frau Ziesches. Er kletterte durch das Mauerloch zurück in den verschütteten Keller, hob sie auf und herrschte sie an: „Still! Still doch!“ Ihr Gesicht war verzerrt und entstellt. Er nahm das Kind wie ein Bündel unter den Arm. Frau Ziesche schrie: „Hilf mir... Hilf mir doch! Laß das Kind!“ Er mußte sie wieder abschütteln, ehe er mit dem Kind in den Nachbarkeller hinüberklettern konnte. Dann half er Frau Ziesche, dann auch dem Greis. Frau Ziesche hielt sich krampfhaft an ihm fest, er zog sie gewaltsam den Gang entlang. Am Fuß der Treppe lag viel weggeworfenes Gepäck. Oben flammte gelbrote Glut durch das Viereck der Haustür. Ein starker Luftzug strich über ihn hin. Draußen heulte der Feuersturm. Frau Ziesche schrie: „Ich will nicht ins Feuer... ich will nicht!“ Holt sah sich ver­zweifelt nach einem anderen Ausgang um, es mußte ihn geben, denn es gab diesen fauchenden Luftstrom, aber er hörte über seinem Kopf ununterbrochen Mauerteile niederkrachen. Raus! dachte er. Die Bitterkeit des Unterganges. Neben der Treppe, in einer Nische, stand eine große Zinkwanne voll Wasser. Reichsminister Doktor Goebbels: ein Wort zum Luftkrieg, dachte er. Nasse Decken! dachte er, es gab keine Decken. Er tauchte das Kind in die Badewanne, und noch einmal, es kam zu sich und schrie, er legte es auf den Kellerboden. Frau Ziesche lag auf den Knien: „Heiliger Joseph, Nährvater... bitte für uns in der Stunde des Todes ... Jungfrau Maria ... bitte für alle, die heute im Todeskampf liegen ...“ Als Holt sie anfaßte, begann sie wieder zu schreien: „Nicht ins Feuer!“ Er stieß sie gewaltsam in die Wanne. Der Stahlhelm klirrte auf das Zinkblech. Ein Lachen schüttelte Holt, oder war es ein Weinen? Er tauchte ihr den Kopf unter, sie verstummte, er half ihr heraus, sie hatte irre Augen. Holt wälzte sich in der Wanne, dann hing die Uniform wie eine Zentnerlast an ihm. Wo war der Alte? Der Alte war nirgends. Alle, die heute im Todeskampf liegen... „Los jetzt!“ Er hob das Kind auf, da umklammerte ihn Frau Ziesche abermals: „Mich mußt du retten, Jesus Maria, laß doch das Kind!“ Er befreite sich, faßte sie am Unterarm und zog sie die Stufen hoch. Das kleine Mädchen hing unbeweglich unter seinem Arm. Als sie auf hal­ber Höhe waren, krachte vor der offenen Haustür brennendes Gebälk auf die Straße, die Funken stoben bis in den Hausflur. Unerträgliche Glut prallte ihnen entgegen. Holt zerrte Frau Ziesche ins Freie. Der heulende Feuersturm schlug über ihnen zusammen und peitschte ihnen Funken ins Gesicht. Wohin? Wo ist Rettung? Alle Häuser ringsum brannten, in großen Flächen brannte der Asphalt, Blasen werfend unter Phosphor­pfützen, die Lungen versengten, auf der Straße lagen dunkle Gestalten, schwarze Strünke, mitten im Feuer, glimmende Matratzen, überall Tote, hinter ihnen krachte ein Haus in sich zusammen, vor ihnen kippte eine riesige, flammende Fassade auf die Straße... Zurück! Holts Mütze brannte, er warf sie von sich, er packte Frau Ziesche um die Hüfte und schleppte sie weiter, die nassen Kleider kochten, sein Bewußtsein setzte aus, er stolperte über einen Toten.

Sie fanden sich auf dem Gelände einer Kohlengrube wieder. Hinter ihnen raste das Feuer. Überall lagerten Menschen auf dem Boden, stumm, wie tot, nur Kinderweinen war zu hören. Frau Ziesche hockte auf der Erde, regungslos, er nahm ihr den Stahlhelm ab. Das kleine Mädchen zu seinen Füßen bewegte sich nicht. Er setzte den Stahlhelm auf, um beide Hände frei zu haben, dann trug er das Kind zu dem großen Sanitätszelt. „Eltern?“ Holt sagte: „Ich weiß nicht...“ Ein Arzt beugte sich über das Kind, richtete sich auf, ließ das Stetho­skop sinken und sagte über die Schulter: „Ex.“ Zu Holt: „Sie hätten sich die Mühe sparen können.“ Holt rührte sich nicht. Er sah auf das Kind. Es trug rote Schuhe.

Ein Mädchen schenkte Kaffee aus, in angeschlagenen Stein­guttassen. Holt wurde zur Seite gedrängt. Er ließ sich einen Becher geben und trug ihn zu Frau Ziesche: „Hier ... trink!“ Sie trank willenlos. „Willst du noch mehr?“ Sie schüttelte den Kopf. Er brachte den Becher zurück und ließ ihn wieder fül­len. Das Mädchen sagte: „Wie siehst du denn aus! Bist du verletzt?“ Er schüttelte den Kopf. Er ging zurück zu Frau Ziesche. „Komm!“ Sie reihten sich ein in die Kolonne, die nach Westen zog. Sie gelangten an einen schmalen Kanal, über den eine Holzbrücke führte. Weiter! Ein Güterbahnhof, am Rande eines riesigen Fabrikgeländes. Dort lagerten sich die Menschengestalten auf Bündeln und Koffern. Holt ging mit Frau Ziesche die Chaussee weiter nach Westen. Es war drei Uhr.

Die letzten Kilometer mußte er sie fast tragen. Dann schleppte er sie die Treppe hoch. Auch seine Kraft ging zu Ende. Er legte sie auf ihr Bett, zog ihr den verbrannten Man­tel aus und deckte sie zu. Sie hielt die Augen geschlossen. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Er ging ins Bad. Sie rief schwach: „Bleib hier!“ Er sah in den Spiegel. Das Gesicht war blutverschmiert, Stirn und Kinn waren zerschunden. Die Hände brannten wie Feuer, als er sie ins Wasser tauchte, auch Hals und Gesicht. Das Haar war versengt, die Uniform von Funkenlöchern zerfressen, die Überfallhosen an den Knöcheln verkohlt.

Er ging wieder ins Schlafzimmer und setzte sich, von Schwäche übermannt, zu ihr aufs Bett. „Du wirst sofort ab­reisen?“ Sie sagte tonlos und ohne die Augen zu öffnen: „Ja.“ – „Weißt du, wohin?“ – „Ja. Ich hab Verwandte in Mün­chen.“ Er schwieg. „Geh nicht fort“, rief sie, „ich habe sol­che Angst!“ Er erhob sich. „Ich muß in die Batterie.“ Sie be­gann wieder zu weinen. „Bleib doch!“ Er sagte: „Laß dir’s gutgehn.“ Sie rief hinter ihm her: „Werner!“ Er warf die Vorsaaltür zu und lief aus dem Haus.

Gottesknecht stand auf den Stufen der Schreibstube. Holt meldete sich zurück. Gottesknecht sah ihn lange an, vom ver­sengten, unbedeckten Kopf bis hinab zu den Füßen. „Doch nicht etwa mittenhinein geraten?“

„Jawohl.“

„In Wattenscheid?“

„Jawohl.“

Gottesknecht schwieg. Dann fragte er: „Und... schlapp­gemacht?“ Holt schüttelte den Kopf.

Gottesknecht stopfte sich eine Pfeife und entzündete sie. „Lassen Sie sich vom Sanitäter Brandsalbe geben und Heft­pflaster. Oder wollen Sie ins Revier? Gut. Tauschen Sie die Montur. Die Mütze ist weg? Schreiben Sie einen Wisch, ich mach meinen Wilhelm drauf, das soll der Wachsmuth zu den Listen legen. Die Kleiderbude brennt sowieso eines Tages mal ab.“

„Jawohl, Herr Wachtmeister.“

Gottesknechts Blick ruhte auf Holt. Dann fragte er: „Wohl gerade noch rausgekommen“

„Jawohl.“

„Allein?“

„Ein kleines Mädchen hab ich mitgeschleppt. Und eine Frau. Sie hat mir’s so schwer gemacht. Als ich das Kind endlich draußen hatte, da war’s... da hat es nicht mehr gelebt.“

„Holt!“ sagte Gottesknecht, und er kam die wenigen Stu­fen herab, und tatsächlich: er nahm Holt am Arm und zog ihn fort, zur Feuerstellung hin. „Werner... Junge... Kopf hoch!“ Er sprach sehr leise. „Zähne zusammenbeißen. Durch­halten. Nicht schlappmachen. Das ist doch die einzige Chance! Ein paar von euch müssen übrigbleiben. Der Krieg geht zu Ende, vielleicht bald. Ihr müßt weiterleben.“

Sie blieben stehen. „Verstehn Sie mich recht“, fuhr Gottes­knecht eindringlich fort. „Ich bin Lehrer, Jungen wie euch hab ich zum Abitur geführt, ich will das wieder tun. Soll ich vor leeren Klassenzimmern unterrichten? Ihr müßt es durch­stehen! Wenn dieser Krieg zu Ende ist, dann... beginnt der schwerere Kampf. Es ist nicht nur das kleine Mädchen, Holt. Keiner kann mehr die Toten zählen. Es ist schon zu viel ge­storben worden! Nach dem Krieg ist so viel Arbeit. Die Suppe ist in fünf Jahren eingebrockt, ein Jahrhundert wird daran löffeln.“ Er zwang Holt seinen Blick auf. „Wer sich heute frei­willig zu den Ein-Mann-Torpedos meldet, zu den Sturmstaffeln oder Panzerjagdkommandos, der drückt sich vor dem schwe­reren Kampf, der nachher kommt! Wer sich mit allen Mitteln zu bewahren sucht, nicht aus Feigheit, Holt, sondern aus Ein­sicht, der bewahrt sich für ... Deutschland.“

Deutschland . . . dachte Holt. Zum erstenmal im Leben hörte er das Wort nicht von Jubel getragen oder von Heilrufen um­rahmt, sondern gleichsam entblößt von allem Flitter und Stan­dartengold, durchzittert von tiefer Sorge. „Deutschland“, sagte Gottesknecht, „das ist ja schon heute kein Gigant mehr, der Europa beherrscht, sondern ein blutendes, elendes Etwas. Es wird noch elender werden und bettelarm und wird unsag­bar leiden, aber es darf nicht verbluten! Für das riesige, schim­mernde Deutschland von gestern zu sterben, das nenn ich Feigheit, Holt. Aber für das arme, todwunde Deutschland von morgen zu leben... das ist Heroismus, dazu gehört Mut. Ich weiß: Sie suchen, Holt... einen Sinn, ein Ziel, einen Weg... Ich kenn den Weg nicht. Ich kann Ihnen nicht helfen. Wir sind alle mit Blindheit geschlagen und müssen durch die sieben Höllen hindurch bis zum Ende.“ Er schwieg. Dann sagte er noch: „Das muß wohl so sein. Damit wir endlich wir selbst werden.“

Holt ging allein zur Baracke weiter. Die verbrannten Hände schmerzten nicht mehr. Er schaute geradeaus, über die Ba­racke hinweg, am Horizont lag Dunst. Er blickte durch den Dunst hindurch ins Ferne und Uferlose. Er begriff nichts und verstand nichts. Er horchte, ob nicht das Wecksignal er­töne ... aber noch war es wohl nicht soweit.

Er fiel in einen Schlaf, der an Ohnmacht grenzte. Die an­deren ließen ihn liegen und rüttelten ihn erst am Nachmittag wach.

Holt fand sich in der kleinen Stube wieder, und ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte ihn. Er hörte Wolzows rauhe Stimme: „Raus, du Penner! Ich hab dir was zu fressen mitge­bracht!“ Er fühlte Gomulkas Blick mitleidig auf sich gerichtet. Keller, Kalkstaub, Feuersturm, ist das überhaupt Wirklich­keit gewesen? Unmeßbares Grauen war nun wie von Nebel bedeckt, unwirklich, unglaubhaft, fern... Holt dachte: War es ein Angsttraum?

Er richtete sich auf, wie zerschlagen, es gab keine Stelle an seinem Körper, die nicht schmerzte. Doch mit einem Satz sprang er vom Bett und reckte sich.

Am Tisch saß rauchend der Sanitäter, die Ledertasche auf den Knien. Er grinste. „Bei Ihnen mach ich sogar Hausbe­suche, kostet fünf Mark! Los, lassen Sie sich verarzten!“ Auf beiden Handrücken hatten sich Brandblasen gebildet. „Die lassen wir schön in Ruhe, sonst entzündet sich das.“ Er legte Holt einen Mullverband an. „Hier... Prontosil-Rotschiff, das beruhigt die Nerven!“

Holt zog sich endlich die verbrannte Montur aus. Gomulka sagte: „Du bist am ganzen Körper blutunterlaufen!“ Holt sagte nur: „Ich versteh nicht, wie die Leute das aushalten!“ Da gab es gleich wieder Streit.

Holt dachte: Jetzt geht das Theater von neuem los! Branzner furchte die Stirn und sah Holt mißbilligend an. „So! Das verstehst du nicht? Na, da werd ich dir das erklären.“ Go­mulka sagte: „Da bin ich aber gespannt!“ Branzner warf einen mißtrauischen Blick auf ihn und begann: „Die deutsche Na­tion ist von unwandelbarem Glauben an den Führer und an den Endsieg erfüllt. Darum nimmt sie alle Lasten freudig auf sich. Wer Wind sät, wird Sturm ernten! Der Führer hat das ganz klar gesagt, voriges Jahr, am Vorabend des 9. Novem­ber. Die Ausgebombten sind die Avantgarde der Rache!“

Holt sah das Elendslager der überlebenden auf dem Ge­lände der Kohlengrube. Avantgarde? Vetter nähte sich mit einer riesigen Stopfnadel einen Knopf an die Drillichjacke. Gomulka fragte Branzner: „Hast du schon mal einen Terror­angriff mitgemacht?“

„Nein.“

„Dann halt den Mund!“

„Aber der Führer“, protestierte Branzner. „Du sollst den Mund halten!“ rief Gomulka. „Der Führer hat auch noch keinen Terrorangriff mitgemacht! Er hat noch nicht einmal eine ausgebombte Stadt besucht!“

Branzner schluckte, daß sein großer Adamsapfel auf und nieder hüpfte. „Das ... das ... jetzt ist es genug!“ sagte er. „Heut legt ihr mich nicht wieder rein! Jetzt mach ich end­gültig Meldung! Ich geh zum Chef!“ Holt rief: „Gilbert, nun sorg du doch endlich mal für Ruhe!“ Wolzow, der seine strate­gischen Lehrbücher aus dem Spind holte, fragte uninteressiert: „Was willst du denn melden?“ und vertiefte sich in ein Buch. Branzner schnallte das Koppel um. „So fing es 1918 auch an! Ihr treibt Zersetzung! Feindpropaganda ...“

Gomulka schüttelte den Kopf. Branzner schrie wütend: „Ihr steckt alle unter einer Decke! Kirsch, du hast es gehört!“ Kirsch, der Tischlersohn, saß am Tisch und stopfte paketweise Butterkeks in sich hinein. „Ich ...?“ Er gähnte. „Das können hier alle bezeugen, daß ich fest geschlafen hab!“ Gomulka sagte befriedigt: „Da wird sich nichts machen lassen, Branzner!“

Branzner setzte die Mütze auf. „Also gut! Gut! Ein Ver­schwörernest! Aber ich laß euch alle hochgehen, alle!“ Er schrie: „Volksschädlinge seid ihr, Saboteure ...“ Gomulka tippte sich stumm an die Stirn; er schnitt Holt mit Sorgfalt und Geschick das versengte Haar. „Volksschäd­linge?“ rief Vetter in seiner Ecke. „Also, Gilbert, so was darfst du dir als Offiziersbewerber nicht gefallen lassen. Stell dir vor, diese Knalltüte läuft zum Chef!“ – „Jawohl“, sagte Holt, „du mußt ihm ein für allemal beibringen, wie er sich zu benehmen hat.“

Wolzow blickte von seinem Buch auf. „Wie hat er mich ge­nannt?“ – „Volksschädling“, hetzte Vetter, „Saboteur... und überhaupt...“ Wolzow sprang auf, langte sich Branzner und faßte ihn mit der Rechten vorn an der Bluse. Branzner wollte sich wehren, aber da traf ihn schon eine schallende Ohr­feige. Vetter meckerte vergnügt, und Kirsch stopfte Keks in sich hinein. Wolzow hob den erschlafften Branzner mit der Rechten langsam in die Höhe, er war so kräftig, daß er ihn in der Luft schütteln konnte. Dann stellte er ihn auf den Boden, stieß ihn gegen einen Spind und zog ihn wieder dicht zu sich heran. „Hör zu! Hör genau zu! Die paar Wochen, die ich noch bei diesem Haufen bin, will ich Ruhe haben! Ich laß mir doch von dir nicht meine Laufbahn vermasseln. Du wirst also endgültig aufhören zu stänkern! Sonst... Weißt du, was sonst ist? Du bist nachts mit uns am Geschütz. So wahr ich Gilbert Wolzow heiße: Ich schlag dir beim nächsten Schießen mit ’m Schraubenschlüssel das Genick ein! Solche Unfälle passieren relativ häufig, das kannst du schon in Prinz Kraft zu Hohenlohes ,Militärischen Briefen über Artillerie’ nachlesen! Verstehen wir uns?“ Er ließ Branzner los.

Holt hatte das Empfinden, als schnüre ihm jemand die Kehle zu. Er nahm Wolzows Drohung ernst. Er hatte nie die Szene vergessen, als Wolzow am Rabenfelsen dem wehrlosen Meißner die Mündung der Pistole auf die Stirn gedrückt hatte... Es ist alles dasselbe, dachte Holt in einem Gefühl des Grauens. Ob er einen Wachhund totschlägt, ob er sich prügelt oder Nahfeuer schießt... es ist alles dasselbe!

Bei der Leitungsprobe sagte Gomulka unvermittelt zu Holt: „Stell dir vor, Wolzow war unser Feind!“ Er hing die Kopf­hörer in den Bunker. „Wenn du nicht sein Freund wärst...“ – „Ein Glück, daß er vorhin nicht richtig zugehört hat“, sagte Holt. „Wer weiß, was das für ein Theater gegeben hätte!“

Gomulka setzte sich auf einen Holm. „Sag mir mal ganz ehrlich: Wie war das heut nacht?“ – „Ich sag es nur dir“, erwiderte Holt. „Es war über jede Beschreibung furchtbar. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend etwas auf der Welt schlimmer ist. Lieber Tiefangriffe und Bombenteppiche hier draußen.“

Gomulka schwieg. Dann sagte er zusammenhanglos: „Wol­zow hat von seinem Onkel Post bekommen. Der ist schon wieder befördert worden, zum Kommandierenden General. Er übernimmt eine Einheit an der Westfront. Früher hatte er eine Luftwaffen-Felddivision in Rußland, die wurde einge­schlossen. Bei Woronesh. Aber er ist mit einem Fieseler-Storch aus dem Kessel entkommen.“

Bei Woronesh eingeschlossen, dachte Holt. Da hat man ja auch nie davon gehört. Er dachte verwundert: Vor einem Jahr hätte mich so eine Bemerkung niedergedrückt. Go­mulka sagte beiläufig: „Ich hab auch Post von daheim.“ Holt fragte beklommen: „Und... hast du was gehört? Hängt es mit dem Attentat zusammen? Ist sie festgenommen wor­den?“ Gomulka schüttelte den Kopf. „Sie soll spurlos ver­schwunden sein...“ Fragen Sie nach niemandem, dachte Holt, reden Sie mit keinem... – „Sippenhaft!“ flüsterte Go­mulka. „Oberst Barnim soll mit seinem Regiment kapituliert haben, und als er selbst zu den Russen wollte, da haben sie ihn...“

Holt sprang auf. „Hoffentlich lassen sie uns heut nacht schlafen“, sagte er hastig.

In der Nacht, an der Kanone, riß Wolzow Witze über den Mosquito-Verband, der kreuz und quer durch das Land flog, ehe er sich nach Berlin wandte und dort Bomben warf. „Da verarschen sie die Nachtjäger“, sagte er, „die suchen jetzt bei München!“

Am anderen Morgen war der Ersatz da. Vetter kam früh um sieben von der Leitungsprobe, als die anderen noch in den Betten lagen, und rief: „Die Schusterjungen sind da! Mensch, das sind keine Oberschüler, das sind solche Heinis, Bäcker­lehrlinge, Schlosser, lauter solches Kroppzeug von der Be­rufsschule ... Fragt mich einer: ,Kamerad, ich finde mir hier nicht zurecht...’ Ich hab gesagt: ,Da mußt du dir mal beim UvD erkundigen, sonst kann ich dich nicht helfen...’ Sagt der auch noch: ,Danke!’ Männer, das wird was! Wenn die sich nicht benehmen, dann führ ich hier offiziell die Prügel­strafe ein!“ Wolzow rief von seinem Bett: „Mit denen geben wir uns gar nicht ab!“

Beim Morgenappell nahte Kutschera seltsamerweise ordentlich angezogen, von drei hohen HJ-Führern begleitet. Gottes­knecht holte einen Karton aus der Schreibstube. Wolzow stieß Holt überrascht mit dem Ellenbogen an. Kutschera rief: „Die Luftwaffenoberhelfer Dusenböker, Hörschelmann und Wolzow... vortreten!“ Er überreichte den drei Jungen das Eiserne Kreuz. Gottesknecht stopfte ihnen die Bänder ins Knopfloch, die HJ-Führer schüttelten ihnen die Hände. Dann ließ Kutschera das Batteriekommando vortreten und las Na­men von einer Liste: „Dusenböker, Ebert, Gomulka, Grubert, Holt...“ und so weiter, alle, die noch vom Jahrgang 27 da waren, mit den beiden Hamburgern noch siebzehn Mann. Holt lief nach vorn. Er dachte: Wir waren achtundzwanzig, als wir herkamen... dreizehn Tote aus einer Klasse! Gottesknecht steckte ihm das Flakschießabzeichen an die Bluse, da begehrte silberne Abzeichen, an der linken Brust zu tragen ...

Die Batterie wurde eingeteilt. Gottesknecht rief: „Holt, Wolzow, Gomulka, ihr könnt morgen fahren!“ Wolzow sagte strahlend: „Herr Wachtmeister, also auf das EK müssen wir zusammen ungeheuer einen saufen!“ – „Sie sind wohl ver­rückt!“ empörte sich Gottesknecht. „Mit siebzehn Jahren alko­holische Exzesse, dem leiste ich keinen Vorschub!“ Am Abend brachte Wolzow aber doch eine Flasche Kognak. Holt wurde nach ein paar Schlucken angenehm müde. Er dachte glück­lich : Urlaub, Ruhe, endlich!

Beim Stubendurchgang befahl Gottesknecht: „Morgen wird alles eingepackt! Spinde leermachen! In unserem Batteriege­lände wird ein Flakschwerpunkt gebildet... Großkampfbatte­rie mit achtzig oder hundert Geschützen.“

Nachts saßen sie faul im Geschützstand und sahen den Neuen beim Schießen zu. Am anderen Morgen packten sie. Vetter mußte bleiben. Der Urlaub begann zwölf Uhr und dauerte vierzehn Tage, zuzüglich zweier Reisetage. Sie liefen im Trab nach Essen. Als sie endlich auf dem Bahnhof ange­langt waren, heulten die Sirenen Vollalarm. Ein Wehrmacht-LKW nahm sie mit nach Süden. In Wuppertal kletterten sie in einen Personenzug. Nach ein paar Stationen blieb der Zug auf freier Strecke stehen. Wolzow sah aus dem Fenster. „Los, raus!“ Und sie liefen, während die Bomber sie überflogen, zu einer großen Schutthalde. Die Flak schoß, ringsum grollte es dumpf. Sie liefen auf einem Feldweg nach Westen. Hinter ihnen schütteten die Viermotorigen ihre Bomben aus.

 

15.

Über der Wolzowschen Villa hing ein trüber Morgenhim­mel. Es regnete.

Holt und Wolzow trugen die Rucksäcke ins Haus. Holt streckte die Füße von sich. Der Klubsessel war weich. Wol­zow berichtete: „Das Haus ist voll fremder Leute, Bombenfrischler, weißt schon, Evakuierte und Ausgebombte. Da baun wir für dich ein Feldbett in mein Zimmer und sind ganz unter uns.“

Holt schlief erschöpft und traumlos. Als er am Nachmit­tag wach wurde, öffnete Wolzow eine Konservenbüchse. Über dem Spirituskocher, in der Pfanne, brutzelte Fett. Holt er­schrak vor der heillosen Unordnung, die ringsum herrschte; alles lag durcheinander, die Stahlhelme, die Uniformen, die geöffneten Rucksäcke, überall Gerumpel, das ausgestopfte Rebhuhn obenauf, die Duellpistolen, der zertrümmerte Totenkopf. „Wir müssen hier erst mal aufräumen, Gilbert!“ – „Wieso? Ich find’s ganz gemütlich.“ Wolzow kippte den In­halt der Konservenbüchse in die Pfanne. Der Duft gebratenen Fleischs füllte das Zimmer.

Holt wickelte den Verband von den Händen. „Mein On­kel“, sagte Wolzow, „ist in Frankreich, vorher war er noch mal hier und hat einen Haufen Kram dagelassen, Vorräte: Konser­ven, Rotwein, russischen Tabak, sogar Kaviar, ich hab vorhin so ’n Döschen aufgemacht, schmeckt wie Hering, aber satt wirst du nicht davon, da mußt du schon zehn Büchsen auf einmal fressen...“ – „Ob ich nicht erst mal deine Mutter begrüße?“ fragte Holt. „Lieber nicht. Du störst sie bloß beim Heulen. Ich hab ihr gesagt, daß wir da sind, das genügt.“

Das Haus war verwahrlost. Im letzten Jahr mochte nichts mehr aufgeräumt oder gar gesäubert worden sein. Nur im Erdgeschoß, wo nun Fremde wohnten, herrschte Ordnung. Holt ging ins Bad. Der Abfluß der Wanne war mit Haarbüscheln verstopft. Aus dem Hahn über dem Becken lief kein Wasser. Richtig, dachte Holt, da hat Gilbert damals das Bleirohr raus­gerissen ... Er duschte sich. Er sah im Spiegel, daß sich die blutunterlaufenen Stellen auf dem Rücken blau und grün färbten.

Zum Frühstück aßen sie das Büchsenfleisch aus der Pfanne. „Brot?“ dozierte Wolzow. „Fleisch ist viel gesünder. Attila soll nur Fleisch gegessen haben.“ Er hatte als erstes den zerlesenen Clausewitz aus seinem Rucksack geholt. Holt blätterte darin. „Wenn du dich endlich mal ’n bißchen mit Kriegskunst beschäftigen willst“, sagte Wolzow, „dann fängst du am besten mit Schlieffens ,Cannae’an.“

Holt klappte das Buch zu. „Danke“, sagte er und nahm die angebotene Zigarette.

Wolzow fuhr fort: „Wenn man keine militärischen Kennt­nisse besitzt, kann man nämlich die Vorgänge an den Fronten gar nicht richtig verstehen. Soll ich dir sagen, warum Leute wie Branzner die Wahrheit über die militärische Lage nicht hören wollen? Weil sie innerlich... unsicher sind, weil sie trotz aller schönen Worte den Krieg eigentlich gar nicht rich­tig mögen! Schau mal, der Führer sagt zwar immer, der Krieg sei uns aufgezwungen worden, aber das sagt er bloß wegen der Leute. In Wirklichkeit war nach 1918 natürlich ein neuer Krieg fällig, ich weiß doch von meinem Vater, daß ein richtiger Soldat so eine Niederlage nicht hinnimmt, ohne an die kom­mende Revanche zu denken. Das steht auch alles in ,Mein Kampf, und auch, daß wir uns neuen Boden im Osten mit dem Schwert erobern müssen ...“

Holt hatte kaum aufgeatmet, von der zermürbenden An­spannung des Luftkrieges befreit, er hatte sich kaum in die Atmosphäre der kleinen Stadt und des Urlaubs eingewöhnt, da stießen ihn Wolzows Worte in die alte Niedergeschlagen­heit zurück und riefen die Erinnerung wach: „... Eroberungs­krieg vorbereitet und entfesselt...“, so hatte Vater gesagt, und auch Gomulkas lakonische Worte angesichts der verhun­gernden Gefangenen waren gegenwärtig: „Sie haben nicht an­gefangen ...“

„Einer wie ich“, redete Wolzow unterdessen weiter, „na, wie soll ich sagen?... der bejaht den Krieg, und wenn kei­ner wäre, müßte man schnell einen anfangen. Es muß ein or­dentlicher Krieg sein, nicht so ’n Ramschkrieg wie 1806, son­dern nach allen Regeln der Kriegskunst, wie bei Alexander oder Napoleon. Also frag nur, jetzt haben wir Zeit. Willst du die Lage erläutert haben? Wir kämpfen nun langsam auf der in­neren Linie, und das schöne Vorfeld ist hin.“


Date: 2015-12-24; view: 1002


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