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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 3 page

Holt rauchte, er ließ Wolzow reden. Er sah auf die Uhr und erschrak. „Schluß! Das Wehrbezirkskommando macht zu!“

Sie trafen Gomulka in der Stadt. Der Regen war versiegt, die Wolkendecke riß auseinander, und ab und zu huschte Sonnenlicht über die Erde. Sie gingen stadtwärts. Nachdem sie sich auf der Urlauberstelle gemeldet hatten, bummelten sie durch die engen Kleinstadtstraßen zum Marktplatz.

Sie gingen an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Aus der Ladentür trat ein schmächtiges, sehr junges Mädchen und trat noch einmal zurück, um die drei vorbeigehen zu lassen. Das Mädchen, in einem ärmlichen bunten Kleid, trug am Arm einen Einkaufskorb.

Ihr Haar war braun. Auch ihre Augen waren braun. Ihr Blick streifte über Holt hinweg. Er dachte: ... da stand das Kind am Wege..., es war eine Zeile aus einem Gedicht, das er einmal gelesen hatte: Da stand das Kind am Wege. Das kleine Mädchen mit den roten Schuhen fiel ihm ein. Er blieb stehen. Warum sieht sie so traurig aus?

Das fremde Mädchen ging den Weg zurück, den er eben gekommen war. Über ihr lastete der Himmel mit seinem Re­gengewölk. Durch ein Wolkenloch ergoß sich Sonnenlicht und blendete Holt. Er ging weiter. Was war das? dachte er. Wer war das? Wolzow schalt: „Der Kerl pennt am heilichten Tage!“

Auf dem Marktplatz begegneten sie einer Rotte junger Leute, Peter Wiese war dabei und Herbert Wurm, bei dessen Anblick Wolzow die Brust mit dem Ordensband herauswölbte, und dann die Mädchen: Rutschers Schwester, die Friedel Küchler in Uniform, ihre Freundin, Putzi genannt, noch drei, vier andere. Sie trugen Badesachen bei sich. „Donnerwetter, der Wolzow mit ’m EK!“ hieß es. „Und das, was ist das?“ – „Flakschießabzeichen, gibt’s bei soundso viel Abschüssen.“ Man schlug den Weg zur Badeanstalt ein. Holt blieb stehen. „Wir wollten doch Zemtzkis Eltern besuchen.“ Rutschers Schwester war noch blasser als früher und zog Holt beiseite. „Sie waren doch mit ihm am Geschütz...“ Nichts erzählen! Holt dachte an den zertrümmerten Geschützstand, an die um­gestürzte Kanone. Läuft mir der Krieg bis hierher nach? Die Mädchen erzählten von Einsätzen im Kinderlandverschickungslager... Man verabredete sich für den kommenden Tag.

Sie besuchten Zemtzkis, saßen verlegen auf den Stühlen und redeten Frau Zemtzki ein, die Sache mit dem Müo sei wirklich nur ein Gerücht. „Ein ganz gemeines Gerücht“, meinte Wolzow. Draußen schwur er: „Das war der erste und letzte Besuch dieser Art! Zu meiner Mutter braucht auch kei­ner hinzugehn, wenn’s mich erwischt.“ Gomulka ging zum Zahnarzt, um endlich die Lücke in der Schneidezahnreihe schließen zu lassen.

Nachts schreckte Holt ein Angsttraum aus dem Schlaf: Flammen, überall Flammen... Es wird noch oft wiederkehren. Es ist erst drei Tage her! Drei Tage. Die Zeit ist durchein­ander. Wie alt bin ich jetzt? Siebzehneinhalb. Wenn es bis zum Flakeinsatz sechzehneinhalb gewesen sind, dann müssen seit­her dreißig, fünfzig Jahre verstrichen sein. Noch mehr. Die Feuernacht in Wattenscheid allein hat hundert Jahre gedau­ert. Er sank wieder in Schlaf, glücklich in dem Gedanken: keine Alarmglocke, keine Mosquitos, keine Leitungsprobe. Im Einschlafen dachte er wieder: Da stand das Kind am Wege ... mit einem Einkaufskorb.



Wolzow triumphierte am nächsten Morgen: „Herrliches Wetter! Der Himmel verläßt die alten Krieger nicht!“ Beim Frühstück erzählte er, was er sich vorgenommen hatte: „Da liegen noch die Tagebücher von meinem Vater rum, die muß ich endlich lesen. Dann will ich in die Berge, unsere Pistolen ausbuddeln.“ Holt wollte Peter Wiese besuchen. Wolzow fragte: „Ausgerechnet den Miesepeter? Was du bloß an dem findest!“ Vorerst beschlossen sie, baden zu gehen. Holt hatte Bedenken mit seinem zerschundenen Rücken. „,Da lagen die Helden, die Wunden vorn, zitierte er. „Die alten Germanen hätten mich mit Schimpf und Schande davongejagt.“ – „Da gab’s auch noch keinen Luftkrieg.“ Wolzow fuhr mit den Bei­nen in die Überfallhose. „Das waren Zeiten! Stell dir das vor. Kampf Mann gegen Mann, oh, was hätt ich dazwischengehaun, bestimmt!“ Die Vorstellung einer längst vergangenen Kampfesweise überwältigte ihn. „Ich wär der größte Feldherr des Altertums geworden“, prahlte er. „Dem Hannibal hätte ich mit einer Gegenumfassung geantwortet. So ein Blödsinn! Varro stellt die Truppen sechsunddreißig Mann tief auf, was nützt ihm da seine Überlegenheit? Ich hätte die Hastati und Principes nur in zwölf Glieder gestellt und die Triarii seitlich ge­staffelt in Reserve behalten, da hätt ich Hasdrubals Reiterei in den Aufidus geschmissen ...“

„Oder Napoleon“, spottete Holt, „da hättest du ganz Rußland erobert...“ Aber Wolzow entgegnete: „Nein.“ Er zog sich die Hose über den Bauch. „Wenn ich Napoleon gewesen war, hätte ich Rußland nicht angegriffen. Die Russen hätten ja kommen können, wenn sie was wollten. Da hätte ich aus der Nachhand geschlagen, ganz nahe meiner Basis.“ Er knöpfte sich die Hose zu. „Bei Napoleon ist es anders. Napoleon hat als Feldherr keinen Fehler gemacht. Wenn da behauptet wird, er hätte vor dem Marsch auf Moskau erst die balti­schen Festungen erobern müssen, dann ist das Geschwätz. Na­poleon hat in Rußland richtig gehandelt, das hat Clausewitz ein für allemal nachgewiesen. Napoleons Rußlandfeldzug ist deshalb nicht gelungen, sagt Clausewitz, weil die feindliche Regierung fest, das Volk treu und standhaft blieb, weil er also nicht gelingen konnte. Was schaust du denn so? Was ist denn?“

„Nichts“, antwortete Holt. „Beeil dich. Schade um den schönen Nachmittag!“

Die Badeanstalt war fast menschenleer. Holt schwamm zum anderen Ufer, Wolzow blieb zurück. Als Holt die Flußmitte erreicht hatte, legte er sich auf den Rücken und ließ sich trei­ben. Blödes Beispiel, dachte er, mußte ich ausgerechnet auf Napoleon kommen? Am jenseitigen Ufer lag er eine Weile im Gras. Stimmt also gar nicht, daß der Führer Napoleons Fehler vermieden hat, wie’s immer heißt. Napoleon hat demnach gar keine gemacht.

Als er wieder die Badeanstalt erreichte, hielt er sich ermat­tet an der Treppe fest und hing eine Weile im Wasser. Dann kletterte er an Deck. Das Herz arbeitete in harten Schlägen. Auf dem alten Stammplatz neben dem Sprungturm sah er sie alle beisammen, Jungen und Mädchen, Wolzow und Gomulka mittendrin. Langsam ging er über das Floß. Nein, dachte er, das ist doch nicht möglich! Ganz allein, weit abseits, saß das fremde Mädchen, an einen Pfeiler des Geländers gelehnt, die Knie bis unter das Kinn gezogen, hockte dort mit geschlosse­nen Augen.

Holt schlich zum Sprungturm und warf sich auf die Plan­ken. Sogleich fragte die Friedel Küchler, wer ihn denn so grün und blau geschlagen habe. Holt antwortete nicht. Aber Go­mulka, der sonst Kraftausdrücke gar nicht liebte, fuhr sie an: „Wo der Werner sich das geholt hat, du dumme Gans, dort hättest du dich vor lauter Angst von oben bis unten be ... schmutzt!“ Die Mädchen verzogen die Gesichter. Wol­zow begann derartig zu lachen, daß oben am Ufer der alte Bademeister verwundert aus seiner Bretterbude schaute.

Dann saßen sie stumm und träge in der Sonne. Jemand fragte: „Wie ist denn der Luftkrieg nun eigentlich?“ Wol­zow grinste. „Wie der Luftkrieg nun eigentlich ist? Der Luft­krieg ist nun eigentlich ganz einfach! Das ist der einfachste Krieg, den’s überhaupt gibt. Wir sind unten und schießen nach oben, und die sind oben und schmeißen nach unten.“

Holt dachte: Ich muß noch warten, eh ich frag, sonst fällt’s auf! Er fragte schon, so ganz nebenbei: „Wer ist das Mäd­chen dort drüben?“ Alle wendeten die Köpfe. Ein paar Mäd­chen lachten. Holt sagte gereizt: „Ihr seid albern!“ Wolzow brummte: „Alle Mädchen, sobald mehrere beisammen sind! Eine allein möcht am liebsten in die Erde versinken!“ – „Gut beobachtet“, sagte Gomulka.

„Die ist nicht von hier“, erzählte Friedel Küchler, die weiß­blonde BdM-Führerin, nach einer Weile. „Die ist evakuiert, aus Westdeutschland, ich glaube aus Schweinfurt. Die soll hier oben“ – sie tippte mit dem Finger an die Stirn – „nicht ganz in Ordnung sein. Von ihrer Scharführerin weiß ich, daß sie keine Eltern mehr hat und in Schweinfurt Dienstmädchen war, das heißt, sie war im Pflichtjahr. Sie ist ja erst fünfzehn. Sie soll bei einem Angriff verschüttet worden sein, und als man nach einer Woche den Keller geöffnet hat, war alles tot, bloß sie hat noch gelebt. Dann hat sie im Krankenhaus gelegen. Jetzt ist sie hier bei einer kinderreichen Familie im Pflichtjahr, der Mann ist in der SS, dort ist sie gut aufgehoben. Im Mai mußte sie wieder ins Krankenhaus. Jetzt hat sie Schonung und braucht bloß vormittags zu arbeiten.“

Wolzow legte sich lang auf die Planken. „Krieg ist eben Krieg.“ Holt kämpfte gegen die Vision eines Kellers, in dem, sich zwischen erstarrten Leichen ein Lebender um den Verstand schrie. Er hörte ringsum das Geplauder der Mädchen. Er fragte mit heiserer Stimme: „Warum kümmert ihr euch nicht um sie?“ Man verstummte. „Die will ja nicht. Die weicht ja allen aus.“

Holt sprang auf. „Volksgemeinschaft“, höhnte er, „alle für einen .. .“ Er sah viele Augenpaare verständnislos auf sich ge­richtet. Ihm war, als höre er die blonde BdM-Führerin von verschworener Gemeinschaft reden, und das war noch kein Jahr her! Er hörte auch Frau Ziesches Stimme: Laß doch das Kind! Mich mußt du retten! Dann wandte er sich rasch ab. Hinter seinem Rücken sagte Gomulka: „Er hat so was vor paar Tagen selbst erlebt.“

Das ist es ja gar nicht, dachte Holt, als er das Floß ent­langging. Ich hab es durchgestanden, ich würde es wieder durchstehen.

Am Ende des Floßes, wo die Paddelboote und Angelkähne befestigt waren, setzte er sich nieder und ließ die Füße ins Wasser hängen. Der Fluß glänzte im Licht.

Acht Tage verschüttet! dachte er. Er sah sich das kleine Mädchen mit den roten Schuhen zum Verbandplatz tragen, und jemand sagte: Ex. Die Mühe hätten Sie sich sparen kön­nen. Brennendes Dachgebälk krachte auf die Straße, und Fun­ken stoben bis in den Hausflur... Kennen Sie einen Oberst Barnim? Und dann: ... erschossen worden. Was ist mit Uta? Vielleicht lebt sie nicht mehr... Vielleicht hat sie nie gelebt. Vielleicht hab ich Uta nur geträumt, wie die Mustangs, den Schmiedling, die Bombenteppiche.

Er erhob sich und ging langsam zu dem Mädchen, das noch immer in der Sonne saß, den Rücken an die Planken des Ge­länders gelehnt. Er setzte sich an ihrer Seite auf den Boden. „Ich heiß Werner Holt. Ich bin Luftwaffenhelfer und hab Ur­laub.“ Sie wandte flüchtig den Kopf zu ihm hin. Langsam stieg’s ihr die Röte in die Wangen.

Wenigstens ist sie nicht gleich fortgelaufen, dachte er. Ihr Gesicht war ihm eigentlich gar nicht fremd, die bewimperten Lider, die dunklen Brauen und die roten Lippen. Ich darf sie nicht so anstarren, sonst läuft sie doch noch weg! Was sag ich bloß? „Ich bin auch fremd, ich bin erst voriges Jahr hier­her aufs Gymnasium gekommen, nur ein paar Monate, dann ging’s zur Flak.“

Flak ist falsch, dachte er. Luftwaffenhelfer war auch falsch, das erinnert sie an den Bombenkrieg. „Ich hab’s zu Hause nicht länger ausgehalten, ich weiß nicht, warum.“ Zu Hause, das ist auch falsch, weil sie keine Eltern mehr hat. . . Eigentlich hab ich auch keine Eltern mehr. „Sie müssen ... Du mußt entschul­digen“, sagte er verwirrt. „Ich rede lauter Unsinn... Es ist aber auch schwer“, sagte er gradheraus, „ein fremdes Mädchen anzusprechen. Außerdem hab ich Angst, daß du fortläufst.“

Sie rührte sich nicht.

„Ich hab dich schon gestern gesehen, mit dem Einkaufs­korb“, fuhr er fort. „Am liebsten war ich dir gleich nachge­gangen. Als ich hörte...“ Jetzt schlug sie die Augen auf, aber sie blickte geradeaus... „... daß du aus Schweinfurt bist...“ Er dachte: Was red ich da? „... als ich das hörte, dachte ich, daß dich hier überhaupt keiner verstehen kann.“

Sie schloß die Augen und saß unbeweglich.

Verstehen, dachte Holt, kann man denn überhaupt einen anderen Menschen verstehen? „Wir sind im Ruhrgebiet einge­setzt. Ich weiß nicht, wie oft ich in den Luftlagemeldungen ge­hört hab: ,Raum Würzburg–Schweinfurt’...“ Er erinnerte sich sehr deutlich. Es war im Oktober gewesen, die Amerikaner hatten an die tausend Begleitjäger mitgeschickt, und die Luftkämpfe zogen sich von der holländischen Grenze bis in den süddeutschen Raum. Mehr als hundert Viermotorige wa­ren abgestürzt, aber Schweinfurt war dennoch bombardiert worden... Holt sah ein Häusermeer in einer grauen Rauch­wand versinken, darin unaufhörlich die Blitze der Einschläge zuckten, bis sich das Rot der Brände durch den Rauch fraß ... Er schüttelte die Erinnerung ab. Wie sagte Gottesknecht im­mer? Zähne zusammenbeißen!

„Es ist gut, daß ich damals nichts von dir wußte. Ich hätte ja keine Ruhe gehabt. Helfen hätte ich dir auch nicht kön­nen.“ Er saß lange stumm neben ihr. Unsicher durch ihr stand­haftes Schweigen fragte er: „Soll ich gehn?“ Sie schüttelte unmerklich den Kopf.

Die Gesellschaft am Sprungturm brach auf. Wolzow sah im Vorbeigehen auf das Mädchen, dann verlor sich der Stim­menlärm auf der Liegewiese. Sie blieben allein auf dem Floß zurück. Die Abendsonne stand tief über den Bergen jenseits des Flusses und wärmte nicht mehr. Er fragte: „Ich weiß noch gar nicht, wie du heißt.“

„Gundel. Eigentlich Gundula.“ Er horchte auf ihre Stimme, eine dunkle, etwas brüchige Stimme. Er wiederholte: „Gun­del ...“ Sie wandte ihm das Gesicht zu. „Und mit Familien­namen?“ – „Thieß.“ Ihre Stimme gefiel ihm. „Wird dir nicht kalt?“ Sie sagte statt einer Antwort: „Die andern werden böse sein, wenn du nicht mitgehst. Es sind doch deine Freun­de.“ – „Gilbert und Sepp“, sagte er, „die andern gehn mich nichts an.“

Sie lächelte. Er sah zwischen den Lippen die blanken Zähne schimmern. „Woran denkst du?“ Das Lächeln vertiefte sich. Sie sagte: „Ich möcht wissen, was du gestern gedacht hast.“ – „Ich?“ Die Frage verblüffte ihn. „Ich hab dir nachgeschaut. Zuerst fiel mir eine Zeile aus einem Gedicht ein... Da stand das Kind am Wege...“ Sie neigte den Kopf zu ihm hin. „Und wie geht’s weiter?“ Er überlegte angestrengt. „Da stand das Kind am Wege ... und winkte ihn nach Haus... Es ist von Storm, glaub ich.“ Er sah, daß sich ihre Lippen beweg­ten; sie wiederholte für sich die beiden Verszeilen. „Und du?“ forschte er. „Was hast du gedacht?“ Da stieg ihr wieder die, Röte ins Gesicht, und sie stand auf. Er war einen halben Kopf größer als sie. Er sah ihr nach, dann rannte er über die Liege­wiese zu seiner Kabine und fuhr in die Uniform. Er wartete am Ausgang.

Sie trug wieder das verschossene bunte Kleid. Er lief wort­los neben ihr durch die Parkanlagen zur Stadt. Als hinter der Brücke die Straße nach links zum Fischerviertel abzweigte, blieb sie stehen und sagte: „Nicht... Es ist besser, wenn sie dich nicht sehen.“

„Gehst du morgen wieder baden?“ Sie nickte. Dann, als sei dies schon zuviel gewesen, ging sie davon, die enge, schat­tige Gasse entlang.

Holt besuchte am anderen Morgen Gomulka. Wolzow schlief noch. Auf dem Tisch lag ein Stoß schwarzer, in Wachs­tuch gebundener Hefte, in denen Wolzow die halbe Nacht ge­lesen hatte, die Tagebücher seines Vaters. Holt schrieb einen Zettel: „Bin bei Sepp. Sehen uns vielleicht beim Baden.“ Als sein Blick auf Wolzow fiel, der im Schlafe leise schnarchte, hatte er Lust, ihm ins Gesicht zu brüllen: Gefechtsschaltung! Sollst mal sehen, wie er hochkommt!

Gomulkas bewohnten ein Haus am Stadtrand. Im Vorgarten blühten Gladiolen und Astern. Gomulka öffnete im Bademan­tel und führte Holt durch die Diele in ein helles Speisezim­mer. Aus dem angrenzenden Raum drang das Gespräch meh­rerer Frauenstimmen. Gomulka erläuterte: „Wir haben Ver­wandtenbesuch.“

Sein Zimmer war einfach möbliert. Hier herrschte eine pein­liche, fast pedantische Ordnung und Sauberkeit. Als Gomulka den Schrank öffnete, sah Holt die Wäschestücke auf die gleiche Breite gefaltet, exakt aufeinandergestapelt, die Schuhe in Reih und Glied und die Kleidungsstücke sauber gebürstet auf den Bügeln. Er dachte an die Unordnung bei Wolzow. Sie suchten sich im Garten einen schattigen Platz. Die Apri­kosenbäume hingen voll reifer Früchte. Gomulka meinte: „Heuer ist ein gutes Aprikosenjahr. Wir lassen sie ganz reif werden, überreif, da kann man sie ohne Zucker zu Marmelade kochen.“ Holt hob ein paar der herumliegenden Früchte auf, aß und warf die Kerne ins Gebüsch. Träge und zufrieden legte er sich unter einen Baum. Gomulka fragte: „Was machst du am Nachmittag?“ – „Ich bin verabredet.“ Go­mulka fragte vorsichtig: „Stimmt es, daß sie... nicht ganz richtig ist?“

„Das ist ein verdammter Quatsch, Sepp! Das ist typisch für die Küchler, diese Ziege!“ Holt fuhr ruhiger fort: „Ich weiß auch nicht, warum ich so eine Wut auf die hab. Wenn ich sie seh, dann wird mir schon ganz kribblig ...“ Er dachte: Sie ist das weibliche Gegenstück zu Ziesche und Branzner und all denen. „Sag mal, Sepp“, fragte er nachdenklich, „warum ha­ben wir eigentlich immer gegen die etwas, die begeistert sind, von der... nationalsozialistischen Idee durchdrungen? Wenn einer kommt, irgendein Fremder, da denkt man: Sympathischer Kerl! Kaum macht er den Mund auf, da geht’s los: Herren­rasse, unbedingte Gläubigkeit, fanatischer Wille, eben das übliche. Sofort denk ich: Lieber Gott, das ist ja auch so einer. Eigentlich sollten die doch unser Vorbild sein, Leute wie Ziesche, in ihrem ... gläubigen Fanatismus.“

„Mir persönlich“, sagte Gomulka bedächtig, „ist Fanatis­mus ... na, unheimlich will ich’s nennen. Warum? Mit einem Fanatiker kann man nicht reden. Der Inbegriff des Fanatismus ist für mich eine wütende Bulldogge. Lach nicht, Werner, es ist wirklich so!“

„Aber gerade Fanatismus wird doch von uns gefordert!“ rief Holt. „Und gerade, weil ich dazu neige, alles zu zergrübeln, zu zergliedern, beneide ich diejenigen, die fanatisch glauben können. Ich geb mir wer weiß was für Mühe, fanatisch zu sein! Man hätte es viel einfacher. Das Nachdenken und Grü­beln, das macht einen fertig, Sepp! Ich wünschte, ich war ein Fanatiker.“ Gomulka richtete sich auf. „Da könnte ich nicht dein Freund sein. Stell dir vor, ich sag etwas, da springst du auf, mit fun­kelnden Augen, und machst Meldung ... Es ist ja sowieso un­möglich, ganz aufrichtig zu sein!“ Er ließ sich wieder ins Gras sinken. „Das Nachdenken“, sagte er mit ungewöhnlichem Ernst, „das macht dich nicht fertig, nur das sinnlose Nach­denken! Suchen ist richtig, nur nicht sinnlos suchen, gewisser­maßen mit verbundenen Augen, im dunklen Zimmer...“

Mit verbundenen Augen im dunklen Zimmer, dachte Holt, ja, ein gutes Gleichnis, oft ist es tatsächlich so, als tappe man im Finstern umher, dann denk ich: Das versteh ich nicht, und das werde ich nie verstehen... Was hab ich nicht alles her­untergeschluckt in diesem einen Jahr. Barnims hier sind alle verhaftet, der alte Ziesche macht im Generalgouvernement eine unbeschreiblich dreckige Arbeit, die Juden, die stillschweigend verschwunden sind, werden mit... wie hieß es doch, Chlorkohlensäuremethylester oder so, das hat Vater gesagt, und gelogen hat er noch nie! Aber da darf ich über­haupt nicht daran denken! Denn wie soll ich durchkommen, ohne Sicherheit, ohne Halt? Was ist denn überhaupt noch sicher auf dieser Welt?

„Vielleicht verstehen wir diese Zeit nicht“, sagte er. „Aber jetzt, wo die Russen vor Ostpreußen stehen, bleibt da nicht wenigstens eins: daß wir für Deutschland kämpfen? Haben wir bisher nicht für Frauen und Kinder in Essen und Gelsen­kirchen gekämpft? Vielleicht hat es nicht viel genützt, aber daran hab ich mich immer festgehalten: wir schützen Frauen und Kinder!“

„Die anderen aber doch auch“, sagte Gomulka. „Wenn du damit anfängst, dann gibt es überhaupt keine Klarheit mehr. Was meinst du denn, wofür die Russen kämpfen? Laß dir mal erzählen, wie die SS von Anfang an in Rußland gehaust hat, die Feldgendarmerie und die Wehrmacht! Der Ziesche hätte dir genau erklärt, daß wir ein Recht haben, die Russen auszu­rotten, weil ’s Bolschewiken sind. Nun versetz dich mal in so einen Bolschewisten hinein, dem vielleicht die ganze Familie erschossen oder nach Deutschland zur Zwangsarbeit gebracht worden ist. Kämpft der nicht für Frau und Kinder?“

„Sepp ... Du sagst das so einfach!“ rief Holt. „Du nimmst diesen Widerspruch einfach hin! Und was gibt dir Halt?“ – „Mir?“ sagte Gomulka gedehnt und ausweichend. „Das ist schwer zu sagen, sehr schwer...“

Holt dachte unvermittelt an das fremde Mädchen. Ein Mensch wird mir Halt sein, dachte er. Vielleicht hätte es Utasein können, aber ich Idiot bin zu Gertie Ziesche gelaufen, und statt Halt zu finden und Sicherheit hab ich erleben müs­sen, wie mir ein Mensch immer gleichgültiger wurde, so schauerlich gleichgültig, daß mich heut noch friert, wenn ich daran denke.

„Komm essen“, sagte Gomulka.

Auf der Veranda war der Mittagstisch mit unübersehbarem Aufwand an Porzellan und Silber für acht Personen ge­deckt. Gomulka stellte vor: „Mein Freund Werner Holt.“ Seine Mutter war eine stattliche Frau, blond und blauäugig. Holt hörte Namen von Tanten und Nichten. Rechtsanwalt Doktor Gomulka war ein Mann von fünfzig Jahren, mit schüt­terem grauem Haar und einer dunklen Brille, dennoch wie ein Doppelgänger seines Sohnes anzusehen. Er sagte höflich: „Ich freue mich wirklich sehr, Herr Holt!“ Er pflegte verschiedene Wörter seiner Rede über Gebühr zu betonen.

Man aß eine Aprikosenkaltschale, dann Aprikosenauflauf, Aprikosenkompott, und statt des Kaffees gab es einen sehr dün­nen, aber echten Tee, dazu Aprikosenkuchen. „Sie sehen“, sagte Frau Gomulka, „der Garten ernährt seinen Mann.“ Das Tisch­gespräch bestritten fast ausschließlich Gomulka und sein Vater. Es dauerte nicht lange, bis Holt die leise Gereiztheit heraus­hörte, die im Gespräch zwischen Vater und Sohn mitschwang. Aus Höflichkeit beantwortete er dann und wann eine Frage; der ungeduldige Wunsch, mit sich allein zu sein, verstummte erst, als sie im engeren Kreise am Tisch sitzen blieben. Die Verwandtschaft zog sich zurück.

„Wir hätten Sie gern schon früher einmal bei uns gesehen“, begann der Rechtsanwalt in einem Ton, als sage er: Herr Prä­sident, meine Herren Geschworenen! „Lassen Sie uns ein paar offene Worte sprechen. Ihre Klasse hat Verluste gehabt, drei­zehn Tote, wenn ich recht informiert bin... Wie schätzen Sie ihre weiteren Aussichten ein?“

„Wir haben Glück gehabt“, antwortete Holt. „Gilbert Wolzow meint immer, der Himmel verläßt die alten Krieger nicht.“ – „Ein zweckoptimistisches Wort“, entgegnete der Rechtsanwalt, „finden Sie nicht? Rauchen Sie? Bitte. Danke, ich bediene mich selbst.“ Er setzte eine Shagpfeife in Brand.

Frau Gomulka sagte, die Teetasse in der Hand: „Jede Mut­ter möchte ihren Sohn wiederhaben.“ Gomulka rief heftig: „Mama! Du wolltest nicht wieder davon anfangen!“ Sie wies ihn zurecht: „Ich glaubte dich besser erzogen zu haben, als daß du dir einen solchen Ton erlauben dürftest.“ Der Wort­wechsel erfüllte Holt mit Mißbehagen.

„Ihr Vater“, begann der Anwalt wieder, während er seine Brille abnahm, „wenn ich recht unterrichtet bin, so ist er gemaßregelt worden ... Sie gestatten, daß ich davon spreche? Hat er sich nie mit Ihnen über die weitere Perspektive unter­halten? Haben Sie nicht gewisse Grundsätze für eine zweck­entsprechende Verhaltensweise vereinbart?“ Ehe er Holt an­sah, setzte er seine Brille wieder auf.

Gewisse Grundsätze? Zweckentsprechende Verhaltens­weise? Holt sagte abwehrend: „Mein Vater ist ein Sonderling, er hat keinen Sinn fürs Praktische .. . Sepp und ich, wir ha­ben uns natürlich mal überlegt, wie wir uns verhalten wollen. Aber es kommt doch immer ganz anders. Zum Beispiel die endlose Fehde mit den Hamburgern, da sind wir hineingeraten, ohne es gewollt zu haben.“

Der Rechtsanwalt sog unzufrieden an seiner Pfeife. „Damit Sie mich recht verstehen: ich bin ein Gegner der Handlungsnormen. Ich bin überhaupt gegen jede Norm. Sie sollen durch­aus kein Schema suchen. Es gibt da zum Beispiel Soldaten, deren Gedanken in das Schema gepreßt sind: Nie freiwillig melden! Dieses wie jedes Schema ist unbedingt falsch. Der Mensch bedarf der Elastizität. Ich wünschte, ihr Jungen be­säßet diese Elastizität. Die heutige Zeit, oder besser: die Ge­genwart ... unsere Epoche jedenfalls neigt zur Überbewer­tung des starren Prinzips und setzt es über die Entscheidung des einzelnen.“

Holt hatte das Gefühl, der Anwalt schleiche mit seinen Wor­ten um ihn herum wie die Katze um den heißen Brei. Holt suchte keine Antwort, er suchte den Widerspruch, er wußte nicht, warum; es ging ihm ähnlich wie Weihnachten bei seinem Vater. „Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich weiß nicht, ob das stimmt, was Sie sagen. Während der diesjähri­gen russischen Angriffe im Mittelabschnitt, da wurde die Rolle des Einzelkämpfers besonders hervorgehoben, eines Kämp­fers also, der auf die persönliche Initiative und die Freiheit seiner Entscheidung angewiesen ist.“

„Zweifellos!“ sagte der Anwalt sarkastisch. „Wobei diese Handlungsfreiheit ebenso unbeabsichtigt erteilt als auch von vornherein eingeengt worden ist.“ – „Eingeengt? Wodurch?“ fragte Holt nervös. – „Nun... Durch die totale Ausrichtung des einzelnen. Eben durch das, was ich die heute gültigen Nor­men nenne. Kampf bis zur Selbstaufopferung zum Beispiel, Ehrlosigkeit jeder Kapitulation. Und so weiter.“

„Ohne zwingenden Grund“, sagte Holt herausfordernd, „halte ich Kapitulation allerdings für unehrenhaft.“ Er war davon durchaus nicht überzeugt. Hatte nicht Sepp erzählt: Der Oberst Barnim soll mit seinem Regiment kapituliert ha­ben ...?

Der Rechtsanwalt sah Holt mit einem forschenden Blick an, ehe er die Brille abnahm. „Persaepe accidit, ut utilitas cum honestate certet“, sagte er bedächtig. „Sehen wir davon ab, den Ehrbegriff zu erläutern, den Sie da ins Feld führen. Gut, gut... Sie haben recht, ich habe ihn ins Feld geführt. Es genüge vielmehr die Frage, ob Sie sich in der Lage fühlen, zu beurteilen, wann denn der ,zwingende Grund’ gegeben sei. Aber lassen wir das.“

Gilbert müßte hier sein, dachte Holt verärgert, er würde ihm schon erklären, unter welchen Umständen eine Kapitulation gerechtfertigt ist! Das Gespräch war ihm zuwider. Gomulka mischte sich ein. „Entschuldige, Papa. Das Gerede führt zu nichts. Damit ist uns nicht gedient. Solche Spitzfindigkeiten“, sagte er mit erhobener Stimme, „würzen vielleicht ein Tisch­gespräch, aber sie geben uns keinen Halt.“

„Nein, nein“, entgegnete der Anwalt, „ganz recht, gewiß nicht... Aber es gibt erst recht keinen Halt, wenn man sich über tiefgehende innere Zerwürfnisse hinwegsetzt.“

„Wobei es wahrscheinlich ist“, rief Gomulka geradezu ver­bittert, „daß sich gewisse Zerwürfnisse, die ich lange mit an­sehen mußte, erst recht demoralisierend ausgewirkt haben!“

Der Rechtsanwalt sog an seiner Pfeife. Er furchte die Stim. Frau Gomulka hob den Blick und sagte kühl: „Ich glaube, im letzten Jahr haben sich ganz andere Dinge demoralisierend auf dich ausgewirkt.“ Gomulka war erregt. „Wofür ihr nicht das geringste Verständnis habt!“

Der Rechtsanwalt nahm die Pfeife aus dem Mund. „In entscheidenden Fragen“, sagte er ruhig, wenn auch tadelnd, „hast du deine Eltern niemals anders als einmütig gesehen. Deine Anspielung auf gewisse Zerwürfnisse verdient also äußerst taktlos genannt zu werden, noch dazu in Gegenwart eines Gastes. Est adulescentis maiores natu vereri.” Diese Phrase schien Gomulka noch mehr zu verbittern, denn er rief: „Stultus es... qui facta infecta facere verbis cupias! Laß doch die weisen Sprüche, Papa, dein Latein imponiert mir ja nun weiß Gott nicht!“ – „Und was unser angebliches Un­verständnis für deine Erlebnisse im Ruhrgebiet anbelangt“, fuhr der Anwalt mit unerschütterlicher Ruhe fort, „so wollen wir mit ihrer Hilfe lediglich deinen Gesichtskreis erweitern. Lassen wir das. Ich habe diese Differenzen vorausgesehen und nehme dir nichts übel. Denn wo anders als zu Hause vermöch­test du auch, deinem jugendlichen Oppositionsdrang ungestraft nachzugehen?“


Date: 2015-12-24; view: 1016


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