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SALON LOISITSCHEK«. 12 page

War das wirklich dieselbe Frau, die ich damals in der Domkirche getröstet hatte?

Ich konnte den Blick nicht wenden von ihrem halboffenen Mund.

Sie sprach noch immer kein Wort. Schien im Geiste ein Bild zu sehen.

Der Wagen bog über eine feuchte Wiese.

Es roch nach erwachender Erde.

»Wissen Sie, – – Frau – –?«

»Nennen Sie mich doch Angelina«, unterbrach sie mich leise.

»Wissen Sie, Angelina, daß – daß ich heute die ganze Nacht von Ihnen geträumt habe?«, stieß ich gepreßt hervor.

Sie machte eine kleine rasche Bewegung, als wolle sie ihren Arm aus meinem ziehen, und sah mich groß an. »Merkwürdig! Und ich von Ihnen! – Und in diesem Moment habe ich dasselbe gedacht.«

Wieder stockte das Gespräch, und beide errieten wir, daß wir auch dasselbe geträumt hatten.

Ich fühlte es an dem Beben ihres Blutes. Ihr Arm zitterte kaum merklich an meiner Brust. Sie blickte krampfhaft von mir weg aus dem Wagen hinaus. – – –

Langsam zog ich ihre Hand an meine Lippen, streifte den weißen, duftenden Handschuh zurück, hörte, wie ihr Atem heftig wurde, und preßte toll vor Liebe meine Zähne in ihren Handballen.

– – Stunden später ging ich wie ein Trunkener durch den Abendnebel hinab der Stadt zu. Planlos wählte ich die Straßen und ging lange, ohne es zu wissen, im Kreise herum.

Dann stand ich am Fluß über eisernes Geländer gebeugt und starrte hinab in die tosenden Wellen.

Noch immer fühlte ich Angelinas Arme um meinen Nacken, sah das steinerne Becken des Springbrunnens, an dem wir schon einmal Abschied voneinander genommen vor vielen Jahren, vor mir, mit den faulenden Ulmenblättern darin, und sie wanderte wieder mit mir, wie soeben erst vor kurzem, den Kopf an meine Schulter gelehnt, stumm durch den frösteldnen, dämmrigen Park ihres Schlosses.

Ich setzte mich auf eine Bank und zog den Hut tief ins Gesicht, um zu träumen.

Die Wasser brausten über das Wehr und ihr Rauschen verschlang die letzten, aufmurrenden Geräusche der schlafengehenden Stadt.

Wenn ich von Zeit zu Zeit meinen Mantel fester um mich zog und aufblickte, lag der Fluß in immer tieferen Schatten, bis er endlich, von der schweren Nacht erdrückt, schwarzgrau dahinströmte und der Gischt des Staudamms als weißer, blendender Streifen schräg hinüber zum andern Ufer lief.

Mich schauderte bei dem Gedanken, wieder zurück zu müssen in mein trauriges Haus.

Der Glanz eines kurzen Nachmittags hatte mich für immer zum Fremdling in meiner Wohnstätte gemacht.

Eine Spanne von wenigen Wochen, vielleicht nur von Tagen, dann mußte das Glück vorüber sein – und nichts blieb davon als eine wehe, schöne Erinnerung.

Und dann?

Dann war ich heimatlos hier und drüben, diesseits und jenseits des Flusses.

Ich stand auf! Wollte noch durch das Parkgitter einen Blick auf das Schloß werfen, hinter dessen Fenstern sie schlief, ehe ich in das finstere Getto ging. – – – Ich schlug die Richtung ein, aus der ich gekommen war, tappte mich durch den dichten Nebel an Häuserreihen entlang und über schlummernde Plätze, sah schwarze Monumente drohend auftauchen und einsame Schilderhäuser und die Schnörkel von Barockfassaden. Der matte Schimmer einer Laterne wuchs zu riesigen, phantastischen Ringen in verblichenen Regenbogenfarben aus dem Dunst heraus, wurde zum fahlgelben, stechenden Auge und zerging hinter mir in der Luft.



Mein Fuß tastete breite, steinerne Stufenflächen, mit Kies bestreut. Wo war ich? Ein Hohlweg, der steil aufwärts führt?

Glatte Gartenmauern links und rechts? Die kahlen Äste eines Baumes hängen herüber. Sie kommen vom Himmel herunter: der Stamm verbirgt sich hinter der Nebelwand. –

Ein paar morsche, dünne Zweige brechen krachend ab, wie mein Hut sie streift, und fallen an meinem Mantel hinab in den nebligen grauen Abgrund, der mir meine Füße verbirgt.

Dann ein strahlender Punkt: ein einsames Licht in der Ferne – irgendwo – rätselhaft – zwischen Himmel und Erde. – – –

Ich mußte fehlgegangen sein. Es konnte nur die »alte Schloßstiege« sein neben den Hängen der Fürstenbergschen Gärten – – –

Dann lange Strecken lehmiger Erde. – Ein gepflasterter Weg.

Ein massiger Schatten ragt hoch auf, den Kopf in einer schwarzen, steifen Zipfelmütze: »die Daliborka« = der Hungerturm, in dem Menschen einst verschmachteten, derweilen Könige unten im »Hirschgraben« das Wild hetzten.

Ein schmales, gewundenes Gäßchen mit Schießscharten, ein Schneckengang, kaum breit genug, die Schultern durchzulassen – und ich stand vor einer Reihe von Häuschen, keines höher als ich.

Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich auf die Dächer greifen.

Ich war in die »Goldmachergasse« geraten, wo im Mittelalter die alchimistischen Adepten den Stein der Weisen geglüht und die Mondstrahlen vergiftet haben.

Es rührte kein anderer Weg hinaus als der, den ich gekommen war.

Aber ich fand die Mauerlücke nicht mehr, die mich eingelassen, – stieß an ein Holzgatter.

Es nützt nichts, ich muß jemand wecken, damit man mir den Weg zeigt, sagte ich mir. Sonderbar, daß hier ein Haus die Gasse abschließt – größer als die andern und anscheinend wohnlich? Ich kann mich nicht entsinnen, es je bemerkt zu haben.

Es muß wohl weiß getüncht sein, daß es so hell aus dem Nebel leuchtet?

Ich gehe durch das Gatter über den schmalen Gartenstreif, drücke das Gesicht an die Scheiben: – alles finster. Ich klopfe ans Fenster. – Da geht drinnen ein steinalter Mann, eine brennende Kerze in der Hand, durch eine Tür mit greisenhaft wankenden Schritten bis mitten in die Stube, bleibt stehen, dreht langsam den Kopf nach den verstaubten alchimistischen Retorten und Kolben an der Wand, starrt nachdenklich auf die riesigen Spinnweben in den Ecken und richtet dann seinen Blick unverwandt auf mich.

Der Schatten seiner Backenknochen fällt ihm auf die Augenhöhlen, daß es aussieht, als seien sie leer wie die einer Mumie.

Er sieht mich offenbar nicht.

Ich klopfe ans Glas.

Er hört mich nicht. Geht lautlos wie ein Schlafwandler wieder aus dem Zimmer.

Ich warte vergebens.

Klopfe ans Haustor: niemand öffnet. – – –

Es blieb mir nichts übrig, als so lange zu suchen, bis ich den Ausgang aus der Gasse endlich fand.

Ob es nicht am besten wäre, ich ginge noch unter Menschen, überlegte ich. – Zu meinen Freunden: Zwakh, Prokop und Vrieslander ins »alte Ungelt«, wo sie bestimmt sein würden –, um meine verzehrende Sehnsucht nach Angelinas Küssen wenigstens für ein paar Stunden zu übertäuben? Rasch mache ich mich auf den Weg.

Wie ein Trifolium von Toten hockten sie um den wurmstichigen, alten Tisch herum, – alle drei: weiße dünnstielige Tonpfeifen zwischen den Zähnen, und das Zimmer voll Rauch.

Man konnte kaum ihre Gesichtszüge unterscheiden, so schluckten die dunkelbraunen Wände das spärliche Licht der altmodischen Hängelampe ein.

In der Ecke die spindeldürre, wortkarge, verwitterte Kellnerin mit ihrem ewigen Strickstrumpf, dem farblosen Blick und der gelben Entenschnabelnase!

Mattrote Decken hingen vor den geschlossenen Türen, so daß die Stimmen der Gäste im Nebenzimmer nur wie das leise Summen eines Bienenschwarms herüberdrangen.

Vrieslander, seinen kegelförmigen Hut mit der geraden Krempe auf dem Kopf, mit seinem Knebelbart, der bleigrauen Gesichtsfarbe und der Narbe unter dem Auge, sah aus wie ein ertrunkener Holländer aus einem vergessenen Jahrhundert.

Josua Prokop hatte sich eine Gabel quer durch die Musikerlocken gesteckt, klapperte unaufhörlich mit seinen gespenstisch langen Knochenfingern und sah bewundernd zu, wie sich Zwakh abmühte, der bauchigen Arakflasche das Purpurmäntelchen einer Marionette umzuhängen.

»Das wird Babinski«, erklärte mir Vrieslander mit tiefem Ernst. »Sie wissen nicht, wer Babinski war? Zwakh, erzählen Sie Pernath rasch, wer Babinski war!«

»Babinski war«, begann Zwakh sofort, ohne auch nur eine Sekunde von seiner Arbeit aufzusehen, »einst ein berühmter Raubmörder in Prag. – Viele Jahre betrieb er sein schändliches Handwerk, ohne daß es jemand bemerkt hätte. Nach und nach jedoch fiel es in den besseren Familien auf, daß bald dieses, bald jenes Mitglied der Sippe beim Essen fehlte und sich nie wieder blicken ließ. Wenn man auch anfangs nichts sagte, da die Sache gewissermaßen ihre guten Seiten hatte, indem man weniger zu kochen brauchte, so durfte wiederum nicht außer acht gelassen werden, daß das Ansehen in der Gesellschaft leicht darunter leiden und man ins Gerede kommen konnte.

Besonders, wenn es sich um das spurlose Verschwinden mannbarer Töchter handelte.

Überdies verlangte die Hochachtung vor sich selbst, daß man auf ein bürgerliches Zusammenleben in der Familie nach außen hin das nötige Gewicht legte.

Die Zeitungsrubriken: »Kehre zurück, alles ist verziehen« wuchsen immer mehr und mehr, – ein Umstand, den Babinski, leichtsinnig wie die meisten Berufsmörder, in seine Berechnungen nicht einbezogen hatte, – und erregten schließlich die allgemeine Aufmerksamkeit.

In dem lieblichen Dörfchen Krtsch bei Prag hatte sich Babinski, der innerlich ein ausgesprochen idyllischer Charakter war, mit der Zeit durch seine unverdrossene Tätigkeit ein kleines, aber trautes Heim geschaffen. Ein Häuschen, blitzend vor Sauberkeit, und ein Gärtchen davor mit blühenden Geranien.

Da es ihm seine Einkünfte nicht gestatteten, sich zu vergrößern, sah er sich genötigt, um die Leichen seiner Opfer unauffällig bestatten zu können, statt eines Blumenbeetes – wie er es gern gesehen hätte – einen grasbewachsenen und schlichten, aber, den Umständen angemessen: zweckmäßigen Grabhügel anzulegen, der sich mühelos verlängern ließ, wenn es der Betrieb oder die Saison erforderte.

Auf dieser Weihestätte pflegte Babinski allabendlich nach des Tages Last und Mühen in den Strahlen der untergehenden Sonne zu sitzen und auf seiner Flöte allerlei schwermütige Weisen zu blasen.« – –

»Halt!« unterbrach Josua Prokop rauh, zog einen Hausschlüssel aus der Tasche, hielt ihn wie eine Klarinette an den Mund und sang:

»Zimzerlim zambusla – deh.«

»Waren Sie denn dabei, daß Sie die Melodie so genau kennen?«, fragte Vrieslander erstaunt.

Prokop warf ihm einen bitterbösen Blick zu: »Nein. Dazu hat Babinski zu früh gelebt. Aber was er gespielt haben kann, muß ich als Komponist doch am besten wissen. Ihnen steht darüber kein Urteil zu: Sie sind nicht musikalisch. – – Zimzerlim – zambusla – busla – deh.«

Zwakh hörte ergriffen zu, bis Prokop seinen Hausschlüssel wieder einsteckte, und fuhr dann fort:

»Das beständige Wachsen des Hügels erweckte allmählich Verdacht bei den Anrainern, und einem Polizeimann aus der Vorstadt Zizkov, der gelegentlich von weitem zusah, wie Babinski gerade eine alte Dame der guten Gesellschaft erwürgte, gebührt das Verdienst, dem selbstsüchtigen Treiben des Unholdes ein für allemal Schranken gesetzt zu haben:

Man verhaftete Babinski in seinem Tuskulum.

Der Gerichtshof verurteilte ihn unter Zubilligung des mildernden Umstandes eines ansonsten trefflichen Leumundes zum Tode durch den Strang und beauftragte zugleich die Firma Gebrüder Leipen – Seilwaren en gros und en detail – die nötigen Hinrichtungsutensilien, soweit diese in ihre Branche fielen, unter Anrechnung ziviler Preise einem hohen Staatsärar gegen Quittung auszuhändigen.

Nun fügte es sich aber, daß der Strick riß und Babinski zu lebenslänglichem Gefängnis begnadigt wurde.

Zwanzig Jahre verbüßte der Raubmörder hinter den Mauern von Sankt Pankraz, ohne daß je ein Vorwurf über seine Lippen gekommen wäre; – noch heute ist der Beamtenstab des Institutes voll Lob über seine vorbildliche Aufführung, ja, man gestattete ihm sogar, an den Geburtstagen unseres Allerhöchsten Landesherrn ab und zu die Flöte zu blasen; –«

Prokop suchte sofort wieder nach seinem Hausschlüssel, aber Zwakh wehrte ihm.

»– infolge allgemeiner Amnestie wurde dem Babinski der Rest der Strafe nachgesehen, und er bekam die Stelle eines Pförtners im Kloster der ›Barmherzigen Schwestern‹.

Die leichte Gartenarbeit, die er nebenbei mit zu versehen hatte, ging ihm dank der großen, während seines früheren Wirkungskreises erworbenen Geschicklichkeit im Gebrauch des Spatens hurtig von der Hand, so daß ihm hinlänglich Muße blieb, Herz und Geist an guter, sorgfältig ausgewählter Lektüre zu läutern.

Die daraus resultierenden Folgen waren hocherfreulich.

Sooft ihn die Oberin Samstagabends ins Wirtshaus schickte, damit er sein Gemüt ein wenig erheitere, jedesmal kam er pünktlich vor Anbruch der Nacht nach Hause mit dem Hinweis, der Verfall der allgemeinen Moral stimme ihn trübe und soviel lichtscheues Gesindel schlimmster Sorte mache die Landstraße unsicher, daß es für jeden Friedliebenden ein Gebot der Klugheit sei, rechtzeitig die Schritte heimwärts zu lenken.

Es war nun damaliger Zeit in Prag bei den Wachsziehern die Unsitte eingerissen, kleine Figürchen feilzuhalten, die ein rotes Manterle umhängen hatten und den Raubmörder Babinski darstellten.

Wohl in keiner der leidtragenden Familien fehlte ein solches.

Gewöhnlich aber standen sie in den Läden unter Glasstürzen, und über nichts konnte sich Babinski so empören, als wenn er eines derartigen Wachsbildes ansichtig wurde.

›Es ist im höchsten Grade unwürdig und zeugt von einer Gemütsroheit sondersgleichen, einem Menschen beständig die Verfehlungen seiner Jugendzeit vor Augen zu führen,‹ pflegte Babinski in solchen Fällen zu sagen ›und es ist tief zu bedauern, daß von Seiten der Obrigkeit nichts geschieht, so offenkundigem Unfug zu steuern.‹

Noch auf dem Totenbette äußerte er sich in ähnlichem Sinne.

Nicht vergebens, denn bald darauf verfügte die Behörde die Einstellung des Handels mit den ärgerniserregenden Babinskischen Statuetten.« – – –

– – – Zwakh tat einen mächtigen Schluck aus seinem Grogglas und alle drei grinsten wie die Teufel, dann wandte er vorsichtig den Kopf nach der farblosen Kellnerin, und ich sah, wie sie eine Träne im Auge zerdrückte.

– »Na, und Sie geben nichts zum besten, außer – natürlich – daß Sie aus Dankbarkeit für den überstandenen Kunstgenuß die Zeche berappen, wertgeschätzter Kollege und Gemmenschneider?«, fragte mich Vrieslander nach einer langen Pause allgemeinen Tiefsinnes.

Ich erzählte ihnen meine Wanderung durch den Nebel.

Als ich in der Schilderung zu der Stelle kam, wo ich das weiße Haus erblickt hatte, nahmen alle drei vor Spannung die Pfeifen aus den Zähnen, und als ich schloß, schlug Prokop mit der Faust auf den Tisch und rief:

»Das ist doch rein – –! Alle Sagen, die es gibt, erlebt dieser Pernath am eigenen Kadaver. – A propos, der Golem von damals – Sie wissen: die Sache hat sich aufgeklärt.«

»Wieso aufgeklärt?« fragte ich baff.

»Sie kennen doch den verrückten jüdischen Bettler ›Haschile‹? Nein? Nun also: dieser Haschile war der Golem.«

»Ein Bettler der Golem?«

»Jawohl, der Haschile war der Golem. Heute nachmittag ging das Gespenst seelenvergnügt bei hellichtem Sonnenschein in seinem berüchtigten altmodischen Anzug aus dem XVII. Jahrhundert durch die Salnitergasse spazieren, und da hat es der Schinder mit einer Hundeschlinge glücklich eingefangen.«

»Was soll das heißen? Ich verstehe kein Wort!« fuhr ich auf.

»Ich sage Ihnen doch: der Haschile war es! Er hat die Kleider, höre ich, vor längerer Zeit hinter einem Haustor gefunden. – Übrigens, um auf das weiße Haus auf der Kleinseite zurückzukommen: die Sache ist furchtbar interessant. Es geht nämlich eine alte Sage, daß dort oben in der Alchimistengasse ein Haus steht, das nur bei Nebel sichtbar wird, und auch da bloß ›Sonntagskindern‹. Man nennt es ›die Mauer zur letzten Laterne‹. Wer bei Tag hinaufgeht, sieht dort nur einen großen, grauen Stein, – dahinter stürzt es jäh ab in die Tiefe in den Hirschgraben, und Sie können von Glück sagen, Pernath, daß Sie keinen Schritt weiter gemacht haben: Sie wären unfehlbar hinuntergefallen und hätten sämtliche Knochen gebrochen.

Unter dem Stein, heißt es, ruht ein riesiger Schatz, und er soll von dem Orden der ›Asiatischen Brüder‹, die angeblich Prag gegründet haben, als Grundstein für ein Haus gelegt worden sein, das dereinst am Ende der Tage ein Mensch bewohnen wird – besser gesagt ein Hermaphrodit – ein Geschöpf, das sich aus Mann und Weib zusammensetzt. Und der wird das Bild eines Hasen im Wappen tragen, – nebenbei: der Hase war das Symbol des Osiris, und daher stammt wohl die Sitte mit dem Osterhasen.

Bis die Zeit gekommen ist, heißt es, hält Methusalem in eigener Person Wache an dem Ort, damit Satan nicht den Stein beflattert und einen Sohn mit ihm zeugt: den sogenannten Armilos. – Haben Sie noch nie von diesem Armilos erzählen hören? – Sogar wie er aussehen würde, weiß man – das heißt, die alten Rabbiner wissen es; – wenn er auf die Welt käme: Haare aus Gold würde er haben, rückwärts zum Schopf gebunden, dann: zwei Scheitel, sichelförmige Augen und Arme bis herunter zu den Füßen.«

»Dieses Ehrengigerl sollte man aufzeichnen«, brummte Vrieslander und suchte nach einem Bleistift.

»Also: Pernath, wenn Sie einmal das Glück haben sollten, ein Hermaphrodit zu werden und en passant den vergrabenen Schatz zu finden,« schloß Prokop, »dann vergessen Sie nicht, daß ich stets Ihr bester Freund gewesen bin!«

– Mir war nicht zum Spaßmachen zumute, und ich fühlte ein leises Weh im Herzen.

Zwakh mochte es mir ansehen, wenn er auch den Grund nicht wußte, denn er kam mir rasch zu Hilfe:

»Jedenfalls ist es höchst merkwürdig, fast unheimlich, daß Pernath gerade eine Vision an jener Stelle hatte, die mit einer uralten Sage so eng verknüpft ist. – Da sind Zusammenhänge, aus deren Umklammerung sich ein Mensch anscheinend nicht befreien kann, wenn seine Seele die Fähigkeit hat, Formen zu sehen, die dem Tastsinn vorenthalten sind. – Ich kann mir nicht helfen: das Übersinnliche ist doch das Reizvollste! – Was meint ihr?«

Vrieslander und Prokop waren ernst geworden, und jeder von uns hielt eine Antwort für überflüssig.

»Was meinen Sie, Eulalia?« wiederholte Zwakh, zurückgewendet, seine Frage.

Die alte Kellnerin kratzte sich mit der Stricknadel am Kopf, seufzte, errötete und sagte:

»Aber gähn' Sie! Sie sind mir ein Schlimmer.«

»Eine verdammt gespannte Luft war heute den ganzen Tag über«, fing Vrieslander an, nachdem sich unser Heiterkeitsausbruch gelegt hatte, »nicht einen Pinselstrich hab' ich fertiggebracht. Fortwährend hab' ich an die Rosina denken müssen, wie sie im Frack getanzt hat.«

»Ist sie wieder aufgefunden worden?«, fragte ich.

»›Aufgefunden‹ ist gut. Die Sittenpolizei hat sie doch für ein längeres Engagement gewonnen! – Vielleicht hat sie dem Herrn Kommissär – damals ›beim Loisitschek‹, ins Auge gestochen? Jedenfalls ist sie jetzt – fieberhaft tätig und trägt wesentlich zur Hebung des Fremdenverkehrs in der Judenstadt bei. Ein verflucht dralles Mensch ist sie übrigens schon geworden in der kurzen Zeit.«

»Wenn man bedenkt, was ein Weib aus einem Mann machen kann bloß dadurch, daß sie ihn verliebt sein läßt in sich: es ist zum Staunen«, warf Zwakh hin. »Um das Geld aufzubringen, zu ihr gehen zu können, ist der arme Bursche, der Jaromir, über Nacht Künstler geworden. Er geht in den Wirtshäusern herum und schneidet Silhouetten für Gäste aus, die sich auf diese Art porträtieren lassen.«

Prokop, der den Schluß überhört hatte, schmatzte mit den Lippen:

»Wirklich? Ist sie so hübsch geworden, die Rosina? – Haben Sie ihr schon ein Küßchen geraubt, Vrieslander?«

Die Kellnerin sprang sofort auf und verließ indigniert das Zimmer.

»Das Suppenhuhn! Die hat's wahrhaftig nötig, – Tugendanfälle! Pah!«, brummte Prokop ärgerlich hinter ihr drein.

»Was wollen Sie, sie ist doch bei der unrichtigen Stelle abgegangen. Und außerdem war der Strumpf gerade fertig«, beschwichtigte ihn Zwakh.

Der Wirt brachte neuen Grog und die Gespräche fingen allmählich an, eine schwüle Richtung zu nehmen. Zu schwül, als daß sie mir nicht ins Blut gegangen wären bei meiner fiebrigen Stimmung.

Ich sträubte mich dagegen, aber je mehr ich mich innerlich abschloß und an Angelina zurückdachte, um so heißer brauste es mir in den Ohren.

Ziemlich unvermittelt verabschiedete ich mich.

Der Nebel war durchsichtiger geworden, sprühte feine Eisnadeln auf mich, war aber immer noch so dicht, daß ich die Straßentafeln nicht lesen konnte und von meinem Heimweg um ein geringes abkam.

Ich war in eine andere Gasse geraten und wollte eben umkehren, da hörte ich meinen Namen rufen:

»Herr Pernath! Herr Pernath!«

Ich blickte um mich, in die Höhe:

Niemand!

Ein offenes Haustor, darüber diskret eine kleine, rote Laterne, gähnte neben mir auf, und eine helle Gestalt – schien mir – stand tief im Flur darin.

Wieder: »Herr Pernath! Herr Pernath!« Im Flüsterton.

Ich trat erstaunt in den Gang, – da schlangen sich warme Frauenarme um meinen Hals, und ich sah bei dem Lichtstrahl, der aus einem sich langsam öffnenden Türspalt fiel, daß es Rosina war, die sich heiß an mich preßte.

List

Ein grauer, blinder Tag.

Bis tief in den Morgen hinein hatte ich geschlafen, traumlos, bewußtlos, wie ein Scheintoter.

Meine alte Bedienerin war ausgeblieben oder hatte vergessen einzuheizen.

Kalte Asche lag im Ofen.

Staub auf den Möbeln.

Der Fußboden nicht gekehrt.

Fröstelnd ging ich auf und ab.

Widerwärtiger Geruch nach ausgeatmetem Fusel lag im Zimmer. Mein Mantel, meine Kleider stanken nach altem Tabakrauch.

Ich riß das Fenster auf, schloß es wieder: – der kalte, schmutzige Hauch von der Straße war unerträglich.

Spatzen mit durchnäßtem Gefieder hockten regungslos draußen auf den Dachrinnen.

Wohin ich blickte, mißfarbene Verdrossenheit. Alles in mir war zerrissen, zerfetzt.

Das Sitzpolster auf dem Lehnstuhl – wie fadenscheinig es war! Die Roßhaare quollen hervor aus den Rändern.

Man mußte es zum Tapezierer schicken – – ach was, sollte es so bleiben – noch ein ödes Menschenleben hindurch, bis alles zu Gerumpel zerfiel!

Und dort, welch geschmackloser, zweckwidriger Plunder, diese Zwirnlappen an den Fenstern!

Warum drehte ich sie nicht zu einem Strick und erhenkte mich daran?!

Dann brauchte ich diese augenverletzenden Dinge wenigstens nie mehr zu sehen, und der ganze graue, zermürbende Jammer war vorüber – ein für allemal.

Ja! Das war das gescheiteste! Ein Ende machen.

Heute noch.

Jetzt noch – vormittags. Gar nicht erst zum Essen gehen. – Ein ekelhafter Gedanke, mit vollem Magen sich aus der Welt zu schaffen! In der nassen Erde liegen und unverdaute, verfaulende Speisen in sich zu haben.

Wenn nur nie wieder die Sonne scheinen wollte und ihre freche Lüge von der Freude des Daseins einem ins Herz funkeln.

Nein! ich ließ mich nicht mehr narren, wollte nicht länger der Spielball sein eines täppischen, zwecklosen Schicksals, das mich emporhob und dann wieder in Pfützen stieß, bloß damit ich die Vergänglichkeit alles Irdischen einsehen sollte, etwas, was ich längst wußte, was jedes Kind weiß, jeder Hund auf der Straße weiß.

Arme, arme Mirjam! Wenn ich ihr wenigstens helfen könnte.

Es hieß, einen Entschluß fassen, einen ernsten, unabänderlichen Beschluß, bevor der verfluchte Trieb zum Dasein wieder in mir erwachen konnte und mir neue Trugbilder vorgaukeln.

Wozu hatten sie mir denn gedient: alle diese Botschaften aus dem Reich des Unverweslichen?

Zu nichts, zu gar, gar nichts.

Nur dazu vielleicht, daß ich im Kreis herumgetaumelt war und jetzt die Erde als unmögliche Qual empfand.

Da gab es nur noch eins.

Ich rechnete im Kopf zusammen, wieviel Geld ich auf der Bank liegen hatte.

Ja, nur so ging es. Das war noch das Einzige, Winzige, was von meinen nichtigen Taten im Leben irgendeinen Wert haben konnte!

Alles, was ich besaß – die paar Edelsteine in der Schublade dazu, – zusammenschnüren in ein Paket und es Mirjam schicken. Ein paar Jahre wenigstens würde es die Sorge ums tägliche Leben von ihr nehmen. Und einen Brief an Hillel schreiben, in dem ich ihm sagte, wie es um sie stand mit dem »Wunder«.

Er allein konnte ihr helfen.

Ich fühlte: ja, er würde Rat wissen für sie.

Ich suchte die Steine zusammen, steckte sie ein, sah auf die Uhr: wenn ich jetzt auf die Bank ging – in einer Stunde konnte alles in Ordnung gebracht sein.

Und dann noch einen Strauß roter Rosen kaufen für Angelina! – – – – es schrie auf in mir vor Weh und wilder Sehnsucht. – Nur noch einen Tag, einen einzigen Tag möchte ich leben!

Um dann abermals dieselbe würgende Verzweiflung mitmachen zu müssen?

Nein, nicht eine einzige Minute mehr warten! Es kam wie Befriedigung über mich, daß ich mir nicht nachgegeben hatte.

Ich blickte umher. Blieb mir noch etwas zu tun?

Richtig: die Feile dort. Ich steckte sie in die Tasche, – wollte sie fortwerfen irgendwo auf der Gasse, wie ich es mir neulich schon vorgenommen.

Ich haßte die Feile! Wieviel hatte gefehlt, und ich wäre zum Mörder geworden durch sie.

Wer kam mich denn da wieder stören?

Es war der Trödler.

»Nur en Augenblick, Herr von Pernath«, bat er fassungslos, als ich ihm bedeutete, daß ich keine Zeit hätte. »Nur en ganz en kurzen Augenblick. Nur ä paar Worte.«

Der Schweiß lief ihm übers Gesicht, und er zitterte vor Aufregung.

»Kann man hier auch ungestört mit Ihnen sprechen, Herr von Pernath? Ich möcht' nicht, daß der – der Hillel wieder hereinkommt. Sperren Sie doch lieber die Tür ab, oder geh'mer besser ins Nebenzimmer«, – er zog mich in seiner gewohnten, heftigen Art hinter sich drein.

Dann sah er sich ein paarmal scheu um und flüsterte heiser:

»Ich hab mir's überlegt, wissen Sie, – das von neilich. Es is besser so. Es kommt nix hereaus dabei. Gut. Vorüber is vorüber.«

Ich suchte in seinen Augen zu lesen.

Er hielt meinen Blick aus, krampfte aber die Hand in die Stuhllehne, solche Anstrengung kostete es ihn.

»Das freut mich, Herr Wassertrum,« sagte ich, so freundlich ich konnte, »das Leben ist zu trüb, als daß man es sich gegenseitig noch mit Haß verbittern sollte.«

»Rein, als ob man ein gedrücktes Buch reden hört,« grunzte er erleichtert, wühlte in seinen Hosentaschen und zog wieder die goldene Uhr mit den verbogenen Sprungdeckeln hervor, »und damit Sie sehen, ich mein's ehrlich, müssen Sie die Kleinigkeit da von mir annehmen. Als Geschenk.«

»Was fällt Ihnen denn ein,« wehrte ich ab, »Sie werden doch wohl nicht glauben –«, da fiel mir ein, was Mirjam über ihn gesagt hatte, und ich streckte ihm die Hand hin, um ihn nicht zu kränken.

Er achtete nicht darauf, wurde plötzlich weiß wie die Wand, lauschte und röchelte:

»Da! Da! Hab' ich's doch gewußt. Schon wieder der Hillel! Er klopft.«

Ich horchte, ging ins andere Zimmer zurück und zog zu seiner Beruhigung die Verbindungstür hinter mir halb zu.


Date: 2015-12-18; view: 632


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