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SALON LOISITSCHEK«. 11 page

»Geben Se mer meine Uhr zorück.«

Weib

Wo nur Charousek blieb?

Beinahe 24 Stunden waren vergangen, und noch immer ließ er sich nicht blicken.

Sollte er das Zeichen vergessen haben, das wir verabredet hatten? Oder sah er es vielleicht nicht?

Ich ging ans Fenster und richtete den Spiegel so, daß der Sonnenstrahl, der darauf schien, genau auf das vergitterte Guckloch seiner Kellerwohnung fiel.

Das Eingreifen Hillels – gestern – hatte mich ziemlich beruhigt. Bestimmt würde er mich gewarnt haben, wenn eine Gefahr im Anzug wäre.

Überdies: Wassertrum konnte nichts von Belang mehr unternommen haben; gleich, nachdem er mich verlassen hatte, war er in seinen Laden zurückgekehrt, – ich warf einen Blick hinunter: richtig, da lehnte er unbeweglich hinter seinen Herdplatten, genau so, wie ich ihn schon frühmorgens gesehen – – –

Unerträglich, das ewige Warten!

Die milde Frühlingsluft, die durch das offene Fenster aus dem Nebenzimmer hereinströmte, machte mich krank vor Sehnsucht.

Dies schmelzende Tropfen von den Dächern! Und wie die feinen Wasserschnüre im Sonnenlicht glänzten!

Es zog mich hinaus an unsichtbaren Fäden. Voll Ungeduld ging ich in der Stube auf und ab. Warf mich in einen Sessel. Stand wieder auf.

Dieses süchtige Keimen einer Ungewissen Verliebtheit in meiner Brust, es wollte nicht weichen.

Die ganze Nacht über hatte es mich gequält. Einmal war es Angelina gewesen, die sich an mich geschmiegt, dann wieder sprach ich scheinbar ganz harmlos mit Mirjam, und kaum hatte ich das Bild zerrissen, kam abermals Angelina und küßte mich; ich roch den Duft ihres Haares, und ihr weicher Zobelpelz kitzelte mich am Hals, rutschte von ihren entblößten Schultern – und sie wurde zu Rosina, die mit trunkenen, halbgeschlossenen Augen tanzte – im Frack – nackt; – – – und alles in einem Halbschlaf, der doch genau so gewesen war wie Wachsein. Wie ein süßes, verzehrendes, dämmeriges Wachsein.

Gegen Morgen stand dann mein Doppelgänger an meinem Bett, der schattenhafte Habal Garmin, »der Hauch der Knochen«, von dem Hillel gesprochen, – und ich sah ihm an den Augen an: er war in meiner Macht, mußte mir jede Frage beantworten, die ich ihm stellen würde nach irdischen oder jenseitigen Dingen, und er wartete nur darauf, aber der Durst nach dem Geheimnisvollen konnte nicht an gegen die Schwüle meines Blutes und versickerte im dürren Erdreich meines Verstandes. – Ich schickte das Phantom weg, es solle zum Spiegelbild Angelinas werden, und es schrumpfte zusammen zu dem Buchstaben »Aleph«, wuchs wieder empor, stand da als das Koloßweib, splitternackt, wie ich es einstens im Buche Ibbur gesehen, mit dem Pulse gleich einem Erdbeben, und beugte sich über mich, und ich atmete den betäubenden Geruch ihres heißen Fleisches ein.

Kam denn Charousek immer noch nicht? – Die Glocken sangen von den Kirchtürmen.



Eine Viertelstunde wollte ich noch warten – dann aber hinaus! Durch belebte Straßen voll festtägig gekleideter Menschen schlendern, mich in das frohe Gewimmel mischen in den Stadtteilen der Reichen, schöne Frauen sehen mit koketten Gesichtern und schmalen Händen und Füßen.

Vielleicht begegnete ich dabei Charousek zufällig, entschuldigte ich mich vor mir selbst.

Ich holte das altertümliche Tarockspiel vom Bücherbord, um mir die Zeit rascher zu vertreiben. –

Vielleicht ließ sich aus den Bildern Anregung schöpfen zum Entwurf einer Kamee?

Ich suchte nach dem Pagad.

Nicht zu finden. Wo konnte er hingeraten sein?

Ich blätterte noch einmal die Karten durch und verlor mich in Nachdenken über ihren verborgenen Sinn. Besonders der »Gehenkte«, – was konnte er nur bedeuten?:

Ein Mann hängt an einem Seil zwischen Himmel und Erde, den Kopf nach abwärts, die Arme auf den Rücken gebunden, den rechten Unterschenkel über das linke Bein verschränkt, daß es aussieht wie ein Kreuz über einem verkehrten Dreieck?

Unverständliches Gleichnis.

Da! – Endlich! Charousek kam.

Oder doch nicht?

Freudige Überraschung, es war Mirjam.

»Wissen Sie, Mirjam, daß ich soeben zu Ihnen hinuntergehen wollte und Sie bitten, eine Spazierfahrt mit mir zu machen?« Es war nicht ganz die Wahrheit, aber ich machte mir weiter keine Gedanken darüber. – »Nicht wahr, Sie schlagen es mir nicht ab?! Ich bin heute so unendlich froh im Herzen, daß Sie, gerade Sie, Mirjam, meiner Freude die Krone aufsetzen müssen.«

»– spazierenfahren?«, wiederholte sie derart verblüfft, daß ich laut auflachen mußte.

»Ist denn der Vorschlag gar so wunderbar?«

»Nein, nein, aber – –,« sie suchte nach Worten, »unerhört merkwürdig. Spazierenfahren!«

»Durchaus nicht merkwürdig, wenn Sie sich vorhalten, daß es Hunderttausende von Menschen tun – eigentlich ihr ganzes Leben nichts anderes tun.«

»Ja, andere Menschen!« gab sie, immer noch vollständig überrumpelt, zu.

Ich faßte ihre beiden Hände:

»Was andere Menschen an Freude erleben dürfen, möchte ich, daß Sie, Mirjam, in noch unendlich viel reicherem Maße genießen.«

Sie wurde plötzlich leichenblaß, und ich sah an der starren Taubheit ihres Blickes, woran sie dachte. Es gab mir einen Stich.

»Sie dürfen es nicht immer mit sich herumtragen, Mirjam,« redete ich ihr zu, »das – das Wunder. Wollen Sie mir das nicht versprechen – aus – aus Freundschaft?«

Sie hörte die Angst aus meinen Worten und blickte mich erstaunt an.

»Wenn es Sie nicht so angriffe, könnte ich mich mit Ihnen freuen, aber so? Wissen Sie, daß ich tief besorgt bin um Sie, Mirjam? – Um – um – wie soll ich nur sagen? – um Ihre seelische Gesundheit! Fassen Sie es nicht wörtlich auf, aber –: ich wollte, das Wunder wäre nie geschehen.«

Ich erwartete, sie würde mir widersprechen, aber sie nickte nur in Gedanken versunken.

»Es verzehrt Sie. Habe ich nicht recht, Mirjam?« Sie raffte sich auf:

»Manchmal möchte ich beinahe auch, es wäre nicht geschehen.«

Es klang wie ein Hoffnungsstrahl für mich. – »Wenn ich mir denken soll,« sie sprach ganz langsam und traumverloren, »daß Zeiten kommen könnten, wo ich ohne solche Wunder leben müßte – – –.«

»Sie können doch über Nacht reich werden und brauchen dann nicht mehr –,« fuhr ich ihr unbedacht in die Rede, hielt aber rasch inne, als ich das Entsetzen in ihrem Gesicht bemerkte, – »ich meine: Sie können plötzlich auf natürliche Weise Ihrer Sorgen enthoben werden, und die Wunder, die Sie dann erleben, würden geistiger Art sein: – innere Erlebnisse.«

Sie schüttelte den Kopf und sagte hart: »Innere Erlebnisse sind keine Wunder. Erstaunlich genug, daß es Menschen zu geben scheint, die überhaupt keine haben. – Seit meiner Kindheit, Tag für Tag, Nacht für Nacht, erlebe ich –« (sie brach mit einem Ruck ab, und ich erriet, daß noch etwas anderes in ihr war, von dem sie mir nie gesprochen hatte, vielleicht das Weben unsichtbarer Geschehnisse, ähnlich den meinigen) – »aber das gehört nicht hierher. Selbst, wenn einer aufstünde und machte Kranke gesund durch Handauflegen, ich könnte es kein Wunder nennen. Erst, wenn der leblose Stoff – die Erde – beseelt wird vom Geist und die Gesetze der Natur zerbrechen, dann ist das geschehen, wonach ich mich sehne, seit ich denken kann. – Mir hat einmal mein Vater gesagt: es gäbe zwei Seiten der Kabbala: eine magische und eine abstrakte, die sich niemals zur Deckung bringen ließen. Wohl könne die magische die abstrakte an sich ziehen, aber nie und nimmer umgekehrt. Die magische ist ein Geschenk, die andere kann errungen werden, wenn auch nur mit Hilfe eines Führers.« Sie nahm den ersten Faden wieder auf: »Das Geschenk ist es, nach dem ich dürste; was ich mir erringen kann, ist mir gleichgültig und wertlos wie Staub. Wenn ich mir denken soll, es könnten Zeiten kommen, sagte ich vorhin, wo ich wieder ohne diese Wunder leben müßte,« – ich sah, wie sich ihre Finger krampften und Reue und Jammer zerfleischten mich, – »ich glaube, ich sterbe jetzt schon angesichts der bloßen Möglichkeit.«

»Ist das der Grund, weshalb auch Sie wünschten, das Wunder wäre nie geschehen?«, forschte ich.

»Nur zum Teil. Es ist noch etwas anderes da. Ich – ich – «, sie dachte einen Augenblick nach, »war noch nicht reif dazu, ein Wunder in dieser Form zu erleben. Das ist es. Wie soll ich es Ihnen erklären? Nehmen Sie einmal an, bloß als Beispiel, ich hätte seit Jahren jede Nacht ein und denselben Traum, der sich immer weiter fortspinnt und in dem mich jemand – sagen wir: ein Bewohner einer andern Welt – belehrt und mir nicht nur an einem Spiegelbilde von mir selbst und seinen allmählichen Veränderungen zeigt, wie weit ich von der magischen Reife, ein ›Wunder‹ erleben zu können, entfernt bin, sondern: mir auch in Verstandesfragen, wie sie mich einmal tagsüber beschäftigen, derart Aufschluß gibt, daß ich es jederzeit nachprüfen kann. Sie werden mich verstehen: Ein solches Wesen ersetzt einem an Glück alles, was sich auf Erden ausdenken läßt; es ist für mich die Brücke, die mich mit dem ›Drüben‹ verbindet, ist die Jakobsleiter, auf der ich mich über die Dunkelheit des Alltags erheben kann ins Licht, – ist mir Führer und Freund, und alle meine Zuversicht, daß ich mich auf den dunkeln Wegen, die meine Seele geht, nicht verirren kann in Wahnsinn und Finsternis, setze ich auf ›ihn‹, der mich noch nie belogen hat. – Da mit einem Mal, entgegen allem, was er mir gesagt hat, kreuzt ein ›Wunder‹ mein Leben! Wem soll ich jetzt glauben? War das, was mich die vielen Jahre über ununterbrochen erfüllt hat, eine Täuschung? Wenn ich daran zweifeln müßte, ich stürzte kopfüber in einen bodenlosen Abgrund. – Und doch ist das Wunder geschehen! Ich würde aufjauchzen vor Freude, wenn –«

»Wenn – – –?« unterbrach ich sie atemlos. Vielleicht sprach sie selbst das erlösende Wort, und ich konnte ihr alles eingestehen.

»– wenn ich erführe, daß ich mich geirrt habe, – daß es gar kein Wunder war! Aber ich weiß so genau, wie ich weiß, daß ich hier sitze, ich ginge zugrunde daran«; (mir blieb das Herz stehen) – »zurückgerissen werden, vom Himmel wieder herab müssen auf die Erde? Glauben Sie, daß das ein Mensch ertragen kann?«

»Bitten Sie doch Ihren Vater um Hilfe«, sagte ich ratlos vor Angst.

»Meinen Vater? Um Hilfe?« – sie blickte mich verständnislos an – »wo es nur zwei Wege für mich gibt, kann er da einen dritten finden? – – Wissen Sie, was die einzige Rettung für mich wäre? Wenn mir das geschähe, was Ihnen geschehen ist. Wenn ich in dieser Minute alles, was hinter mir liegt: mein ganzes Leben bis zum heutigen Tag – vergessen könnte. – Ist es nicht merkwürdig: was Sie als Unglück empfinden, wäre für mich das höchste Glück!«

Wir schwiegen beide noch eine lange Zeit. Dann ergriff sie plötzlich meine Hand und lächelte. Beinahe fröhlich.

»Ich will nicht, daß Sie sich meinetwegen grämen;« – (sie tröstete mich – mich!) – »vorhin waren Sie so voll Freude und Glück über den Frühling draußen, und jetzt sind Sie die Betrübnis selbst. Ich hätte Ihnen überhaupt nichts sagen sollen. Reißen Sie es aus Ihrem Gedächtnis und denken Sie wieder so heiter wie vorhin! – Ich bin ja so froh –«

»Sie? Froh? Mirjam?«, unterbrach ich sie bitter.

Sie machte ein überzeugtes Gesicht: »Ja! Wirklich! Froh! Als ich zu Ihnen heraufging, war ich so unbeschreiblich ängstlich, – ich weiß nicht warum: ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß Sie in einer großen Gefahr schweben«, – ich horchte auf – »aber, statt mich darüber zu freuen, Sie gesund und wohlauf zu treffen, habe ich Sie angeunkt und – –«

Ich zwang mich zur Lustigkeit: »und das können Sie nur gutmachen, wenn Sie mit mir ausfahren.« (Ich bemühte mich, so viel Übermut wie möglich in meine Stimme zu legen:) »Ich möchte doch einmal sehen, Mirjam, ob es mir nicht gelingt, Ihnen die trüben Gedanken zu verscheuchen. Sagen Sie, was Sie wollen: Sie sind noch lange kein ägyptischer Zauberer, sondern vorläufig nur ein junges Mädchen, dem der Tauwind noch manchen bösen Streich spielen kann.«

Sie wurde plötzlich ganz lustig:

»Ja, was ist denn das heute mit Ihnen, Herr Pernath? So hab' ich Sie noch nie gesehen! – Übrigens ›Tauwind‹: bei uns Judenmädchen lenken bekanntlich die Eltern den Tauwind, und wir haben nur zu gehorchen. Tuen es natürlich auch. Es steckt uns schon so im Blut. – Mir ja nicht«, setzte sie ernsthafter hinzu, »meine Mutter hat bös gestreikt, als sie den gräßlichen Aaron Wassertrum heiraten sollte.«

»Was? Ihre Mutter? Den Trödler da unten?«

Mirjam nickte. »Gott sei Dank ist es nicht zustande gekommen. – Für den armen Menschen freilich war es ein vernichtender Schlag.«

»Armer Mensch, sagen Sie?« fuhr ich auf. »Der Kerl ist ein Verbrecher.«

Sie wiegte nachdenklich den Kopf: »Gewiß, er ist ein Verbrecher. Aber wer in einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muß ein Prophet sein.«

Ich rückte neugierig näher;

»Wissen Sie Genaueres über ihn? Mich interessiert das. Aus ganz besonderen – –«

»Wenn Sie einmal seinen Laden von innen gesehen hätten, Herr Pernath, wüßten Sie sofort, wie es in seiner Seele ausschaut. Ich sage das, weil ich als Kind sehr oft drin war. – Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ist denn das so merkwürdig? – Gegen mich war er immer freundlich und gütig. Einmal sogar, erinnere ich mich, schenkte er mir einen großen blitzenden Stein, der mir besonders unter seinen Sachen gefallen hatte. Meine Mutter sagte, es sei ein Brillant, und ich mußte ihn natürlich sofort zurücktragen.

Erst wollte er ihn lange nicht wiedernehmen, aber dann riß er ihn mir aus der Hand und warf ihn voll Wut weit von sich. Ich habe aber dennoch gesehen, wie ihm dabei die Tränen aus den Augen stürzten; ich konnte auch damals schon genug Hebräisch, um zu verstehen, was er murmelte: ›Alles ist verflucht, was meine Hand berührt.‹ – – Es war das letzte Mal, daß ich ihn besuchen durfte. Nie wieder hat er mich seitdem aufgefordert, zu ihm zu kommen. Ich weiß auch warum: Hätte ich ihn nicht zu trösten versucht, wäre alles beim alten geblieben, so aber, weil er mir unendlich leid tat und ich es ihm sagte, wollte er mich nicht mehr sehen. – – – Sie verstehen das nicht, Herr Pernath? Es ist doch so einfach: er ist ein Besessener, – ein Mensch, der sofort mißtrauisch, unheilbar mißtrauisch wird, wenn jemand an sein Herz rührt. Er hält sich für noch viel häßlicher, als er in Wirklichkeit ist, – wenn das überhaupt möglich sein kann, und darin wurzelt sein ganzes Denken und Handeln. Man sagt, seine Frau hätte ihn gern gehabt, vielleicht war es mehr Mitleid als Liebe, aber immerhin glaubten es sehr viele Leute. Der einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen war, war er. Überall wittert er Verrat und Haß.

Nur bei seinem Sohn machte er eine Ausnahme. Ob es daher kam, daß er ihn vom Säuglingsalter an hatte heranwachsen sehen, also das Keimen jeder Eigenschaft von Urbeginn in dem Kinde sozusagen miterlebte und daher nie zu einem Punkte gelangte, wo sein Mißtrauen hätte einsetzen können, oder ob es im jüdischen Blute lag: alles, was an Liebesfähigkeit in ihm lebte, auf seinen Nachkommen auszugießen – in jener instinktiven Furcht unserer Rasse: wir könnten aussterben und eine Mission nicht erfüllen, die wir vergessen haben, die aber dunkel in uns fortlebt, – wer kann das wissen!

Mit einer Umsicht, die beinahe an Weisheit grenzte, und bei einem unbelesenen Menschen, wie er, wunderbar ist, leitete er die Erziehung seines Sohnes. Mit dem Scharfsinn eines Psychologen räumte er dem Kinde jedes Erlebnis aus dem Wege, das zur Entwicklung der Gewissenstätigkeit hätte beitragen können, um ihm künftige seelische Leiden zu ersparen.

Er hielt ihm als Lehrer einen hervorragenden Gelehrten, der die Ansicht verfocht, die Tiere seien empfindungslos und ihre Schmerzäußerung ein mechanischer Reflex.

Aus jedem Geschöpf so viel Freude und Genuß für sich selbst herauspressen, wie nur irgend möglich, und dann die Schale sofort als nutzlos wegzuwerfen: das war ungefähr das Abc seines weitblickenden Erziehungssystems.

Daß das Geld als Standarte und Schlüssel zur ›Macht‹ dabei eine erste Rolle spielte, können Sie sich denken, Herr Pernath. Und so wie er selbst den eigenen Reichtum sorgsam geheim hält, um die Grenzen seines Einflusses in Dunkel zu hüllen, so ersann er sich ein Mittel, seinem Sohn Ähnliches zu ermöglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines scheinbar ärmlichen Lebens zu ersparen: er durchtränkte ihn mit der infernalischen Lüge von der ›Schönheit‹, brachte ihm die äußere und innere Gebärde der Ästhetik bei, lehrte ihn äußerlich: die Lilie auf dem Felde heucheln und innerlich ein Aasgeier sein.

Natürlich war das mit der ›Schönheit‹ wohl kaum eigene Erfindung von ihm – vermutlich die ›Verbesserung‹ eines Ratschlags, den ihm ein Gebildeter gegeben hatte.

Daß ihn sein Sohn später verleugnete, wo und wann er nur konnte, nahm er niemals übel. Im Gegenteil, er machte es ihm zur Pflicht: denn seine Liebe war selbstlos, und wie ich es schon einmal von meinem Vater sagte: – von der Art, die übers Grab hinausgeht.«

Mirjam schwieg einen Augenblick und ich sah ihr an, wie sie ihre Gedanken stumm weiterspann, hörte es an dem veränderten Klang ihrer Stimme, als sie sagte:

»Seltsame Früchte wachsen auf dem Baume des Judentums.«

»Sagen Sie, Mirjam,« fragte ich, »haben Sie nie davon gehört, daß Wassertrum eine Wachsfigur in seinem Laden stehen hat? Ich weiß nicht mehr, wer es mir erzählt hat, – es war vielleicht nur ein Traum – –«

»Nein, nein, es ist schon richtig, Herr Pernath: eine lebensgroße Wachsfigur steht in der Ecke, in der er, mitten unter dem tollsten Gerümpel, auf seinem Strohsack schläft. Er hat sie vor Jahren einem Schaubudenbesitzer abgewuchert, heißt es, bloß weil sie einem Mädchen – einer Christin – ähnlich sah, die angeblich einmal seine Geliebte gewesen sein soll.«

»Charouseks Mutter!« drängte es sich mir auf.

»Ihren Namen wissen Sie nicht, Mirjam?«

Mirjam schüttelte den Kopf. »Wenn Ihnen daran liegt, – soll ich mich erkundigen?«

»Ach Gott, nein, Mirjam; es ist mir vollkommen gleichgültig«, (ich sah an ihren blitzenden Augen, daß sie sich in Eifer geredet hatte. Sie durfte nicht wieder zu sich kommen, nahm ich mir vor), »aber was mich viel mehr interessiert, ist das Gebiet, von dem Sie vorhin flüchtig sprachen. Ich meine das ›vom Tauwind‹. – Ihr Vater würde Ihnen doch gewiß nicht vorschreiben, wen Sie heiraten sollen?«

Sie lachte lustig auf. »Mein Vater? Wo denken Sie hin!«

»Nun, das ist ein großes Glück für mich.«

»Wieso?« fragte sie arglos.

»Weil ich dann noch Chancen habe.«

Es war nur ein Scherz, und sie nahm es auch nicht anders hin, aber doch sprang sie rasch auf und ging ans Fenster, um mich nicht sehen zu lassen, daß sie rot wurde.

Ich lenkte ein, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen:

»Das eine bitte ich mir aus als alter Freund: Mich müssen Sie einweihen, wenn's einmal so weit ist. – Oder gedenken Sie überhaupt ledig zu bleiben?«

»Nein! nein! nein!« – sie wehrte so entschlossen ab, daß ich unwillkürlich lächelte – »einmal muß ich ja doch heiraten.«

»Natürlich! Selbstverständlich!«

Sie wurde nervös wie ein Backfisch.

»Können Sie denn nicht eine Minute ernsthaft bleiben, Herr Pernath?« – Ich machte gehorsam ein Lehrergesicht, und sie setzte sich wieder. – »Also: wenn ich sage, ich muß doch einmal heiraten, so meine ich damit, daß ich mir zwar bis jetzt den Kopfüber die näheren Umstände nicht zerbrochen habe, den Sinn des Lebens aber gewiß nicht verstünde, wenn ich annehmen würde, ich sei als Weib auf die Welt gekommen, um kinderlos zu bleiben.«

Das erste Mal, seit ich sie kannte, sah ich das Frauenhafte in ihren Zügen.

»Es gehört mit zu meinen Träumen«, fuhr sie leise fort, »mir vorzustellen, daß es ein Endziel sei, wenn zwei Wesen zu einem verschmelzen, – zu dem, was – – haben Sie nie von dem ägyptischen Osiriskult gehört? – zu dem verschmelzen, was der ›Hermaphrodit‹ als Symbol bedeuten mag.«

Ich horchte gespannt auf: »Der Hermaphrodit –?«

»Ich meine: Die magische Vereinigung von männlich und weiblich im Menschengeschlecht zu einem Halbgott. Als Endziel! – Nein, nicht als Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist – kein Ende hat.«

»Und hoffen Sie, dereinst denjenigen zu finden,« fragte ich erschüttert, »den Sie suchen? – Kann es nicht sein, daß er in einem fernen Land lebt, vielleicht gar nicht auf Erden ist?«

»Davon weiß ich nichts«; sagte sie einfach, »ich kann nur warten. Wenn er durch Zeit und Raum von mir getrennt ist, – was ich nicht glaube, weshalb wäre ich dann hier im Getto angebunden? – oder durch die Klüfte gegenseitigen Nichterkennens – und ich finde ihn nicht, dann hat mein Leben keinen Zweck gehabt und war das gedankenlose Spiel eines idiotischen Dämons. – Aber, bitte, bitte, reden wir nicht mehr davon,« flehte sie, »wenn man den Gedanken nur ausspricht, bekommt er schon einen häßlichen, irdischen Beigeschmack, und ich möchte nicht –«

Sie brach plötzlich ab.

»Was möchten Sie nicht, Mirjam?«

Sie hob die Hand. Stand rasch auf und sagte:

»Sie bekommen Besuch, Herr Pernath!«

Seidenkleider raschelten auf dem Gang.

Ungestümes Klopfen. Dann:

Angelina!

Mirjam wollte gehen; ich hielt sie zurück:

»Darf ich vorstellen: die Tochter eines lieben Freundes – Frau Gräfin –«

»Nicht einmal vorfahren kann man mehr. Überall das Pflaster aufgerissen. Wann werden Sie einmal in eine menschenwürdige Gegend siedeln, Meister Pernath? Draußen schmilzt der Schnee und der Himmel jubelt, daß es einem die Brust zersprengt, und Sie hocken hier in Ihrer Tropfsteingrotte wie ein alter Frosch, – – übrigens wissen Sie, daß ich gestern bei meinem Juwelier war und er gesagt hat: Sie seien der größte Künstler, der feinste Gemmenschneider, den es heute gibt, wenn nicht einer der größten, die je gelebt haben?!« – Angelina plauderte wie ein Wasserfall, und ich war verzaubert. Sah nur mehr ihre strahlenden, blauen Augen, die kleinen Füße in den winzigen Lackstiefeln, sah das kapriziöse Gesicht aus dem Wust von Pelzwerk leuchten und die rosigen Ohrläppchen.

Sie ließ sich kaum Zeit auszuatmen.

»An der Ecke steht mein Wagen. Ich hatte schon Angst, Sie nicht zu Hause zu treffen. Sie haben doch hoffentlich noch nicht zu Mittag gegessen? Wir fahren zuerst – ja, wohin fahren wir zuerst? Wir fahren zuerst einmal – warten Sie – – ja: vielleicht in den Baumgarten, oder kurz: irgendwohin ins Freie, wo man so recht das Keimen und heimliche Sprossen in der Luft ahnt. Kommen Sie, kommen Sie, nehmen Sie Ihren Hut; und dann essen Sie bei mir, – und dann schwätzen wir bis abends. Nehmen Sie doch Ihren Hut! Worauf warten Sie denn? – Eine warme, ganz weiche Decke ist unten: da wickeln wir uns ein bis an die Ohren und kuscheln uns zusammen, bis uns siedheiß wird.«

Was sollte ich nur sagen?! »Soeben habe ich mit der Tochter meines Freundes eine Spazierfahrt verabredet – –«

Mirjam hatte sich bereits hastig von Angelina verabschiedet, noch ehe ich aussprechen konnte.

Ich begleitete sie bis vor die Tür, obschon sie mich freundlich abwehren wollte.

»Hören Sie mich an, Mirjam, ich kann es Ihnen hier auf der Treppe nicht so sagen, wie ich an Ihnen hänge – – und daß ich tausendmal lieber mit Ihnen – –«

»Sie dürfen die Dame nicht warten lassen, Herr Pernath,« drängte sie, »adieu und viel Vergnügen!«

Sie sagte es voll Herzlichkeit und unverstellt und echt, aber ich sah, daß der Glanz in ihren Augen erloschen war.

Sie eilte die Treppe hinunter, und das Leid schnürte mir die Kehle zusammen.

Mir war, als hätte ich eine Welt verloren.

Wie im Rausch saß ich an Angelinas Seite. Wir fuhren in rasendem Trab durch die menschenüberfüllten Straßen.

Eine Brandung des Lebens rings um mich, daß ich, halb betäubt, nur noch die kleinen Lichtflecke in dem Bilde, das an mir vorüberhuschte, unterscheiden konnte: blitzende Juwelen in Ohrringen und Muffketten, blanke Zylinderhüte, weiße Damenhandschuhe, einen Pudel mit rosa Halsschleife, der kläffend in die Räder beißen wollte, schäumende Rappen, die uns entgegensausten in silbernen Geschirren, ein Ladenfenster, drin schimmernde Schalen voll Perlschnüren und funkelnden Geschmeiden, – Seidenglanz um schlanke Mädchenhüften.

Der scharfe Wind, der uns ins Gesicht schnitt, ließ mich die Wärme von Angelinas Körper doppelt sinnverwirrend empfinden.

Die Schutzleute an den Kreuzungen sprangen respektvoll zur Seite, wenn wir an ihnen vorüberjagten.

Dann ging's im Schritt über das Quai, das eine einzige Wagenreihe war, an der eingestürzten steinernen Brücke vorbei, umstaut vom Gewühl gaffender Gesichter.

Ich blickte kaum hin: – das kleinste Wort aus dem Munde Angelinas, ihre Wimpern, das eilige Spiel ihrer Lippen, – alles, alles war mir unendlich viel wichtiger, als zuzusehen, wie die Felstrümmer dort unten den antaumelnden Eisschollen die Schultern entgegenstemmten. –

Parkwege. Dann – gestampfte, elastische Erde. Dann Laubrascheln unter den Hufen der Pferde, nasse Luft, blätterlose Baumriesen voll von Krähennestern, totes Wiesengrün mit weißlichen Inseln schwindenden Schnees, alles zog an mir vorbei wie geträumt.

Nur mit ein paar kurzen Worten, fast gleichgültig, kam Angelina auf Dr. Savioli zu sprechen.

»Jetzt, wo die Gefahr vorüber ist«, sagte sie mit entzückender, kindlicher Unbefangenheit, »und ich weiß, daß es ihm auch wieder besser geht, kommt mir alles das, was ich mitgemacht habe, so gräßlich langweilig vor. – Ich will mich endlich einmal wieder freuen, die Augen zumachen und untertauchen in dem glitzernden Schaum des Lebens. Ich glaube, alle Frauen sind so. Sie gestehen es bloß nicht ein. Oder sie sind so dumm, daß sie es selbst nicht wissen. Meinen Sie nicht auch?« Sie hörte gar nicht hin, was ich darauf antwortete. »Übrigens sind mir die Frauen vollständig uninteressant. Sie dürfen es natürlich nicht als Schmeichelei auffassen: aber – wahrhaftig, die bloße Nähe eines sympathischen Mannes ist mir im kleinen Finger lieber als das anregendste Gespräch mit einer noch so gescheiten Frau. Es ist ja schließlich doch alles dummes Zeug, was man da zusammenschwätzt. – Höchstens: das bißchen Putz – na und! Die Moden wechseln ja nicht gar so häufig. – – Nicht wahr, ich bin leichtsinnig?«, fragte sie plötzlich kokett, daß ich mich, bestrickt von ihrem Reiz, zusammennehmen mußte, nicht ihr Köpfchen zwischen meine Hände zu nehmen und sie in den Nacken zu küssen, – »sagen Sie, daß ich leichtsinnig bin!«

Sie schmiegte sich noch dichter an und hängte sich in mich ein.

Wir fuhren aus der Allee heraus an Bosketts entlang mit strohumwickelten Zierstauden, die aussahen in ihren Hüllen wie Rümpfe von Ungeheuern mit abgehauenen Gliedern und Häuptern.

Leute saßen auf Bänken in der Sonne und blickten hinter uns drein und steckten die Köpfe zusammen.

Wir schwiegen eine Weile und hingen unseren Gedanken nach. Wie war Angelina doch so vollständig anders, als sie bisher in meiner Einbildung gelebt hatte! – Als sei sie erst heute für mich in die Gegenwart gerückt!


Date: 2015-12-18; view: 588


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