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Die funktionalistischen Ansätze

3.1 Der Ansatz von A. Shtromas

Als erster funktionalistischer Ansatz wird das 1977[77] geschaffene theoretische Konstrukt von A. Shtromas betrachtet.

Als wichtigste Grundannahme seines Ansatzes gilt die Festlegung des Dissenses als die tief in den breiten Schichten der sowjetischen Bevölkerung verwurzelte Missachtung des sowjetischen Systems. Diese Missachtung spiegelt sich beiderseits der von Regime festgestellten und regulierenden Rahmen in zwei Arten des Dissenses wider, und zwar im infrastrukturellen Dissens und extrastrukturellen Dissens.[78]

A. Shtromas geht davon aus, dass sich im infrastrukturellen Dissens die genuinen Motive, Zwecke und Bestrebungen des Volkes immer im von der Regierung gestatteten Rahmen reflektieren und ihn dadurch nähren und schaffen.[79] Den extrastrukturellen Dissens soll man als die abweichenden Aktivitäten vom gestellten Rahmen verstehen.[80] Diese Arten des Dissenses sind als die voneinander unabhängigen und gleichberechtigten Erscheinungen nicht zu begreifen. So soll der extrastrukturelle Dissens als eine extrem seltene Abweichung und Ableitung vom infrastrukturellen Dissens bezeichnet werden und darf nicht als quasi mit dem infrastrukturellen Dissens gleichberechtigte Ausdrucksform des potentiellen Dissenses verstanden werden.[81]

Der infrastrukturelle Dissens kann als die einzige Ausdrucksform oder das Ventil des potentiellen Dissenses der sowjetischen Gesellschaft definiert werden, unter dem man die ganze Menge der Unzufriedenheit und der Empörung der Gesellschaft versteht, deren ganzes Ausmaß wegen des herrschenden Konsenses zwischen der Regierung und der Bevölkerung aber nicht festlegbar ist. Bis das Regime die Voraussetzungen dieses Konsenses berücksichtigt, bleibt der infrastrukturelle Dissens seine einzige Ausdrucksform und die Unruhen und die Aufstände der Chruščows-Zeiten haben wenige Chancen zustande zu kommen.[82]

A. Shtromas teilt den infrastrukturellen Dissens in zwei Typen bzw. in den negativen und in den positiven Dissens. Der negative infrastrukturelle Dissens lässt sich als die Ausnutzung des Sowjetsystems von der Bevölkerung für das Erlangen eigennütziger Zwecke definieren, was durch die Ersetzung der bolschewistischen Ideologie durch die „offiziell-patrimoniale“ Ideologie zustande kam und deren Hüter und Verfechter die oberste vereinte „Superbürokratie“ ist bzw. eine oberste Führungsspitze, die das ganze System zusammenhält und die letzte Entscheidung trifft. A. Shtromas zufolge übersehen die westlichen Forscher die Existenz dieser „Superbürokratie“ und verstehen das sowjetische System als die Vielzahl der bürokratischen Gruppen mit den konfligierenden Interessen. Diese „Superbürokratie“ muss den negativen infrastrukturellen Dissens als die soziale Sabotage und wirtschaftliche Delinquenz der fast gesamten sowjetischen Bürger, die entweder selber delinquent oder die Auftraggeber der delinquenten Mitbürger sind, tolerieren, da dieser tatsächlich das einzige Mittel der Befriedigung des Konsum- und Leistungshungers in der Sowjetunion ist. Dessen ernsthafte Beseitigung würde entweder den Übergang des potentiellen Dissenses in die Unruhen und die Aufstände, oder den Abbau des ganzen Systems heißen. Aber andererseits setzt die Tolerierung des negativen Dissenses die subversive Einwirkung auf das ganze System voraus und verletzt die Integration und die Repräsentierung der sozialen Interessen durch den Staat.[83]



Der positive infrastrukturelle Dissens, der weniger offensichtlich als der negative ist und vielmehr nützlich für die Auslösung politischen Wandels gelten kann, ist auf die Verfolgung der konstruktiven politischen, sozialen und kulturellen Ziele gerichtet und dessen Vertreter ihre offiziellen Stellen und Kontakte für die Vorlegung und Verwirklichung der Verbesserungsvorschläge einzusetzen und auszunutzen versuchen. A. Shtromas bezeichnet denjenigen Professionellen oder Angestellten als einen positiven Dissidenten, der die Bedeutung der aus seiner Stelle hervorgehenden sozialen Aufgaben begreift und sich um deren Ausübung zu kümmern beginnt.[84] Diese Art des Dissenses ist verschiedenartig und setzt sich aus vier Gruppen zusammen bzw. aus der technokratischen Intelligenz, den weniger die professionellen Interessen verfolgenden, sondern sich auf die generellen Werte stützenden Zivildissidenten, nationalen und religiösen Dissidenten.[85]

Die technokratische Intelligenz geht von vier Maximen aus, bzw. vom Vorrang der Effizienz, Qualität und Produktivität, dem Vorrang der nationalen Interessen bei Festlegung und der Aufbringung der politischen und sozialen Aufgaben und Kapazitäten, dem Vorrang der beruflichen Verantwortung, die die persönliche Initiative und die Entscheidungsbefugnis impliziert und dem Vorrang der persönlichen Eigenschaften und Kenntnissen bei der Besetzung verschiedener Ämter.[86] A. Shtromas bezeichnet die Koexistenz zwischen dem Regime und der technokratischen Intelligenz als relativ friedlich, da das erste die sozialen und wirtschaftlichen Kapazitäten der letzten braucht, um das ganze System weiter durch die Ausnutzung der sozial billigen Innovationen zusammenhalten zu können. Als die Kehrseite dieses Zusammenhangs ist der immer wachsende Einfluss der technokratischen Intelligenz auf das Regime festzustellen.[87]

Obwohl die sich Zivildissidenten auch an die Ideologie der wirtschaftlichen Effizienz und Leistungsfähigkeit der technokratischen Intelligenz halten, sind sie eher um die globalen Probleme der sowjetischen Gesellschaft und der Welt, wie das politische und soziale System, kulturelle Entwicklung, die Informationsfreiheit, die Rechte des Individuums und der Gesellschaft, Ideologie, Weltordnung und der Platz der Sowjetunion in der Welt besorgt. Sie nennen sich Sozialisten oder kritische Kommunisten und streben den liberalen Wandel des existierenden Systems an.[88] A. Shtromas macht einen Unterschied zwischen den nicht-russischen und russischen Nationaldissidenten, die aber zum positiven Dissens gehören, indem die Bewahrung der nationalen und staatlichen Identität für sie das langfristige Ziel ist, bzw. der Kampf für die eigene Nation von A. Shtromas als ein Merkmal des positiven Dissenses wahrgenommen wird. Der Forscher schließt auch, dass jede die sich selbst nicht-russisch wahrnehmende Nation ein potentieller positiver kollektiver Dissident ist und sogar die meisten Vertreter des russischen nationalen Dissenses, für die das sowjetische Regime, sei es schlecht oder gut, die nationale Regierung ist, seine Abschaffung und Etablierung der adäquaten nationalen Staatlichkeit durch eine echte russische Regierung befürworten.[89] Und alle der in der Sowjetunion vertretenen Religionen gehörenden Gläubigen bezeichnet A. Shtromas als potentiellen Dissidenten, da jede Religion durch das Vorhandensein der alternativen Weltanschauung der kommunistischen Ideologie als gefährlicher Konkurrent gegenübersteht.[90]

Der die Toleranzgrenze des Regimes überschrittene und von ihm in die extrastrukturelle Position verdrängte ehemalige infrastrukturelle Dissens wird in die zwei Formen geteilt, und zwar in den offenen extrastrukturellen Dissens und den verborgenen, der durch die geheimen konspirativen Verschwörungsgruppen vertreten ist. Ausgehend von dieser Definition aus ist der extrastrukturelle Dissens die abweichende Form des infrastrukturellen, wodurch seine Vertreter gezwungen waren, extrastrukturelle Aktivitäten zu betreiben.[91] So bezeichnet A. Shtromas A. Solženizyn und A. Sacharow als die typischen Vertreter des offenen extrastrukturellen Dissenses, die aber heftig allen Versuchen des Regimes widerstanden, sie aus ihren privilegierten Stellen bzw. aus dem Verband der sowjetischen Schriftsteller und dem Institut der Nuklearen Physik zu verdrängen, um die Möglichkeiten der Einflussausübung auf die Beschlussfassung zu bewahren.[92]

Obwohl es zwei Meinungen gibt, die die Einflussmöglichkeiten des offenen extrastrukturellen Dissenses für unwesentlich halten[93], erkennt A. Shtromas seine Verdienste an, und zwar die ideologische Seite, indem die extrastrukturellen Dissidenten alles öffentlich ausdrücken, woran die sowjetischen Bürger schweigend denken und ihnen dadurch helfen, ihre politischen Haltungen, Ziele und Forderungen eher logisch, als emotional zu formulieren; die Kommunikationsförderung, indem die Dissidenten der Bevölkerung den Zugang zur alternativen Informationen ermöglichen; das Beispiel der moralischen Stärke und die Repräsentation der ganzen sowjetischen Bevölkerung im Ausland, da die Außenwelt nur den extrastrukturellen Dissens bemerken und beobachten kann.[94]

Das Zusammenspiel zwischen dem infrastrukturellen Dissens und extrastrukturellen Dissens betrachtet A. Shtromas als eine einzige Möglichkeit den globalen politischen Wandel in der UdSSR zu betreiben und bezeichnet den Sturz N. Chruščows als ein einziges erfolgreiches Ergebnis dieses Zusammenspiels.[95]

3.2 Der Ansatz von W.D. Connor

In diesem Unterkapitel wird der Ansatz betrachtet, dessen Autor im Unterschied zu A. Shtromas den sowjetischen Dissens nicht nur als den soziologisch bedingten globalen Bestandteil der sowjetischen Gesellschaft wahrzunehmen tendiert, sondern ihn auch als Ergebnis der viel komplexerer und globalerer gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu erklären versucht.

Als Grundvoraussetzung seines Ansatzes bezeichnet W.D. Connor die Forschung und die Wahrnehmung des sowjetischen politischen Dissenses als ein Symptom soziallökonomischen Wandels, der sich viel früher zu vollziehen begonnen hatte, als die Anfänge des politischen Dissenses noch nicht offensichtlich wurden. Dieser sozialökonomische Wandel kam zustande durch das Zusammenspiel der zwei globalen Transformationsprozesse, und zwar durch die strukturelle Differenzierung, als die Modernisierung die multifunktionalen Einheiten der traditionellen Gesellschaft abgelöst und sie durch die hoch differenzierten und spezialisierten Einheiten ersetzt hatte, und die soziale Integration, als sich die Notwendigkeit der Verschmelzung dieser hoch differenzierten und spezialisierten Einheiten in eine moderne industrielle Nation erwies.

Es musste eine bestimmte Integrationsstrategie ausgewählt werden. Die Auswahl der Varianten der Integrationsstrategie hing von drei Faktoren ab, und zwar vom Grad der Gesellschaftsdifferenzierung, vom Inhalt und der relativen Vitalität der vorherigen politischen Kultur und den Zwecken der Modernisierung selbst.[96]

W.D. Connor geht davon aus, dass die russische Gesellschaft 1917 viel reifer als 30 Jahre zuvor und viele andere Gesellschaften Afrikas und Asiens nach dem Zweiten Weltkrieg war, aber auf der Grundlage von der engstirnigen obrigkeitsdenkenden politischen Kultur der Bevölkerung und der Zielsetzung der Bolschewiki, die Modernisierung in erster Linie für die Verteidigungszwecke einzusetzen und zu instrumentalisieren, kam das totalitäte Modell sozialer Integration in der UdSSR zustande. W. D. Connor geht davon aus, dass dieses Modell sowohl bis zum Tod J. Stalins, als auch, obwohl der Massenterror abgeschaffen worden war, nach seinem Tod unantastbar blieb, als gleichzeitig die sowjetische Gesellschaft ihre Reife erreichte.[97]

Hinsichtlich des Widerspruchs zwischen dem weiteren Bestehen der totalitären Integrationsstrategie und der erreichten Reife der Gesellschaft stellt sich die Frage der weiteren Anwendbarkeit der ersten.[98] Dies produziert den sowjetischen politischen Dissens, der also als Produkt und Symptom der tiefen strukturellen Modernisierung und die Erwiderung auf die Integrationsprobleme zustande kam[99] oder sich als Ergebnis des Zusammenhangs zwischen der wachsenden Gesellschaftskomplexität und der politischen Rückständigkeit des Regimes definieren lässt[100]. W.D. Connor hebt auch hervor, dass sich der sowjetische politische Dissens durch die Spezifik dieser Integrationsprobleme in der UdSSR vom politischen Dissens im Westen gründlich unterscheidet.[101] Damit stimmt er im gewissen Grade mit dem berühmten Satz von G. Sartori überein, man müsse zumindest unterscheiden zwischen dem demokratischen Ideal ohne ein demokratisches System und dem demokratischen Ideal im Rahmen einer Demokratie.[102]

Das Übergewicht des Kommandos auf dem Kontrakt darf als der Bestandteil der sowjetischen Integrationsstrategie verstanden werden und die dadurch zustande kommende Beengtheit bringt zwei verschiedene aber miteinander verbundene Arten des Dissenses, und zwar den Dissens der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz und den Dissens der künstlerischen Intelligenz, der nationalen und der religiösen Minderheiten.[103]

Die technische Intelligenz bekennt sich zum Effizienzgrundsatz, widersteht sich den Einmischungen der Bürokratie in den Wirtschaftsbereich und fordert nach größerer Mitbestimmung. Im Unterschied zu den zum positiven infrastrukturellen Dissens gehörenden Technokraten von A. Shtromas zieht W.D. Connor die Trennungslinie zwischen der technischen Intelligenz und den Managern, die seiner Meinung nach dem Parteiapparat zu nah sind und bei einem westorientierten grundlegenden Wandel uneffektiv werden würden. Darüber hinaus sind sie an der Stabilität des Systems interessiert. Der technischen Intelligenz, der W.D. Connor auch A. Sacharow zuzählt, sind die ideologischen Hürden fremd und sie würde sich in den neuen Verhältnissen umbauen können.[104]

W.D. Connor bezeichnet das feste Streben des Regimes, die monolithische Einheit der Gesellschaft auf der Grundlage von den von ihm diktierten Basiswerten und Denkmuster zu bewahren, als Ursache der Aufbringung des Dissenses der künstlerischen Intelligenz und der nationalen und religiösen Minderheiten. W. D. Connor betont, dass sich die soziale Komplexität auch in der Vielfalt der Ausdrucksformen des Dissenses, seiner Zielen und Methoden, widerspiegelt.[105] Im Unterschied zum Dissens der technischen und der künstlerischen Intelligenz verfügen der religiöse und der Nationaldissens über den Keim einer Massenbewegung, an die sich auch die Vertreter der Intelligenz würden anschließen können.[106] Den Zustand und die Aussichten des religiösen und des Nationaldissenses betrachtet der Forscher im engen Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen der UdSSR und China, was insbesondere die Situation in den zentralasiatischen Republiken angeht.[107]

Die Unduldsamkeit des Regimes in Bezug auf die Dissensgruppen erklärt W.D. Connor als einen Zug des gesamten Systems, der durch die Verzerrung der Modernisierungspotentiale der UdSSR durch die Herrschaftsspezifik zustande kam und sich als Deformation der Interessenartikulation widerspiegelt. Das Regime kann nur die institutionelle Interessenvertretungsgruppen bzw. die Armee, die Wirtschaft usw. zulassen und toleriert keine assoziativen Interessenvertretungsgruppen, zu denen sich auch die Dissidenten gehören.[108]

W.D. Connor hält fest, dass nicht nur diese Verfolgungen die Entfaltung des Dissenses eindämmen, sondern auch die Art der vorhandenen politischen Kultur, die die Bevölkerung viel enger an das Regime bindet, als an die Dissidenten.[109] Der Inhalt dieser These stimmt mit dem obengenannten Leitsatz von A. Shtromas überein, dass es einen Konsens zwischen der Elite und der Bevölkerung gibt. W.D. Connor zufolge schlägt sich die jeweilige politische Kultur der Bevölkerung im Fehlen der Forderungen an Legalität, Freiheit und repräsentative Institutionen nieder. Die Bedürfnisse der Bevölkerung beschränken sich nur auf die Konsumwaren, Nahrung und Vorhandensein eigener Wohnungen, auch wenn sie nur im Rahmen einer Wartelisteunterbringung nach einiger Zeit zugänglich werden. In Bezug auf die Dissidenten drückt die Bevölkerung Unverständnis oder sogar Feindlichkeit aus.[110] So resümiert der Autor:

„ Dissent and dissenters may be a natural product of over fifty years of Soviet history, but just as natural is their failure to strike a responsive chord among the masses. The interest in freedom and the rule of law is not broad enough, is not sufficiently a ‘mass’ interest, to make its accommodation critical.“[111]

Den Chancen der reformdenkenden institutionellen Interessenvertretungsgruppen oder neuer liberalerer denkenden Generation der Parteiführung bzw. die Wahrscheinlichkeit des Parteidissenses, einen politischen Wandel auszulösen und zu vollziehen, steht W.D. Connor skeptisch gegenüber. Die institutionellen Interessenvertretungsgruppen und sogar ihre Gönner aus der obersten Parteiführung werden geduldet, solange ihre Haltung dem herrschenden konservativen Mainstream loyal gegenübersteht, und wenn das nicht der Fall ist, können zuerst die ersten gesäubert und danach die zweiten degradiert werden.[112] Und die Rekrutierung der jüngeren Parteielite vollzieht sich am meistens aus denjenigen, deren liberales Denken W.D. Connor bezweifelt. Entgegen der obengenannten Meinung von B. Lewytzkyj neigt W.D. Connor zur Prognose, dass die jüngere Generation der Parteiführung die Dissidenten genauso verfolgen wird, da sie der Verteidigung ihrer Ämter und Stellung anstreben wird. [113]

3.3 Der Ansatz von T. Friedgut

Der Ansatz von T. Friedgut hebt sich besonders von den zwei obengenannten funktionalistischen Ansätzen ab, indem der Autor die Sozialbasis des sowjetischen Dissenses als Hauptquell dessen Analyse in den Schwerpunkt seiner Forschung versetzt. Auf der Grundlage der Selbstwahrnehmung der zu nah dem sowjetischen Dissens stehenden Auskunftspersonen betrachtet er die Aspekte und die Probleme des sowjetischen Dissenses, sie mit den Haltungen der westlichen Forscher des sowjetischen Dissenses u.a. P. Reddaway vergleicht und die Folgerungen zieht.

T. Friedgut legt als Hauptproblem der Forschung des sowjetischen Dissenses aus soziologischer Sicht die Schwierigkeit fest, die latenten demokratisch gesinnten Anhänger von den passiven Sympathisanten zu unterscheiden, und strebt die Erklärung dieser störenden Faktoren und die Mechanismen der Verbreitung der demokratischen Bewegung und die Reaktionen des Regimes darauf an, um die Aussichten des sowjetischen Dissenses in der Zukunft bewerten zu können.[114]

Die zu analysierende Selbstwahrnehmung der 40 ausgewanderten sowjetischen Staatsbürger, die am meisten Studenten sind[115], wird von Forschern in fünf Aspekten geteilt, und zwar in die Feststellung des Wesens der demokratischen Bewegung, die programmatischen Probleme, die Zahl und Lokalisierung der sowjetischen Dissidenten, die Reaktion des Regimes auf sie und das Verhältnis zwischen den Dissidenten und der gesamten Gesellschaft.

T. Friedgut betont die Haltung der meisten Auskunftspersonen, dass abgesehen vom Sacharow-Tschalidse-Twerdochlebow-Menschenrechtskomitee es sich eher um die formell nicht organisierten demokratischen Gruppen, als die „Demokratische Opposition“ handeln sollte, da die totalitäre Macht jegliche formelle Strukturierung einer demokratischen Gruppe als Zeichen des Auftauchens der organisierten Opposition wahrnehmen und sie im Keim zu ersticken anstreben würde. Die Taktik der sowjetischen Dissidenten durch das gute Gesetzwissen, die Willkür der polizeilichen Maßnahme einzudämmen und das Bekennen der Macht zu ihren wirklichen Pflichten anzuspornen, schätzen die Auskunftspersonen besonders hoch.[116]

Als noch einen Grund des Fehlens an die formelle Struktur und Organisation erkennen die Auskunftspersonen die große programmtische Zersplitterung der Dissidenten an. Die Furcht vor der Rückkehr des Stalinismus bezeichnen sie als den einzigen Faktor, der die sowjetischen Dissidenten zusammenhält. Die sowohl programmatische, als auch Organisationszersplitterung des sowjetischen Dissidentums versucht der Autor durch die von den Auskunftspersonen vorgenommene Differenzierung der Dissidenten nach dem Kriterium des Entsprechens eines oder anderen prominenten Dissidenten der Demokratiegrundsätze zu betonen. So z.B. wurde A. Solženizyn von einigen Auskunftspersonen als „Neoslawophil“ und unechter Demokrat bezeichnet. Und als Schlussfolgerung der Zersplitterung des sowjetischen Dissenses bringen die Auskunftspersonen ihre fehlende Bereitschaft zum Ausdruck, sich an der „demokratischen Bewegung“ aktiv beteiligen zu wollen. Aber die Möglichkeit, eine vereinigte Front der Dissidenten zu schaffen, halten sie durch das Einsetzen einer charismatischen Person, die den Abstand zwischen den verschiedenen Gruppen verringern könnte, für möglich und nennen die Person von P. Jakir, der das hätte verwirklichen können, bevor er mit dem Regime zu kollaborieren entschied.[117]

T. Friedgut hält fest, dass die Auskunftspersonen nicht geneigt waren, die Ideenströmungen des Dissenses aus drei Gründen zu kategorisieren. Sie erkannten an, dass der ständige politische Wandel des politischen Klimas eine große Instabilität und Schwankung ihrer eigenen Weltanschauung veranlasst. Zweitens, die aus der Furcht vor den Repressalien herausgehende Äsopische Sprache vieler Samisdat-Dokumenten lässt die konkreten Vorschläge politischer Reformen nicht nachvollziehen. Und drittens, man kann sich auf Echtheit vieler Samisdat-Dokumenten nicht verlassen, da es zu viele Schriften gibt, die nicht von den demokratischen Kreisen hergestellt worden waren.[118]

T. Friedgut verweist auch auf die tief in allen Auskunftspersonen eingewurzelten Furcht vor dem russischen Nationaldissens bzw. dem Neoslawophilismus, den sie als großrussischen Chauvinismus und ihren größten Alptraum bezeichneten und die sie erschreckende Tendenz der zunehmenden Popularität dieser Ideenströmung in den Reihen der russischen Intelligenz als einen Ersatz des immer fallenden Einflusses der marxistischen Ideologie hervorhoben. Den möglichen Sieg des Neoslawophilismus bewerteten sie als eine Katastrophe für die ganze sowjetische Gesellschaft.[119] Interessanterweise taucht das Problem des russischen Nationaldissenses kurz auch im Ansatz von W.D. Connor auf, der ihm beim ganz anderen Schwerpunkt die starken Elemente des aggressiven Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus zuschreibt[120] und durch seine alarmierende Bewertung mit Auskunftspersonen von T. Friedgut übereinstimmt.

Den Auskunftspersonen zufolge wird auch die interessante programmatische Inkompatibilität zwischen dem Mainstreamdissens und den national ausgerichteten Gruppen beobachtet. Während A. Sacharow und P. Grigorenko die nationalen Bestrebungen verschiedener Gruppen des Nationaldissenses heftig und aufrichtig unterstützen, gibt es zu wenig Sympathisanten unter den Nationaldissidenten gegenüber dem Mainstreamdissidenten und ihren Programmpunkten.[121] Diese Position deckt sich mit der These von A. Shtromas, der auch weiter behauptet, dass die Probleme des Zivildissenses für die Nationaldissidenten von zweitrangiger Bedeutung sind, weil sie glauben, dass die Lösung ihrer Nationalprobleme bzw. das Erlangen der nationalen und staatlichen Unabhängigkeit diese für den Zivil- oder Mainstreamdissens wichtigen Problem automatisch beilegen kann.[122].

Die Auskunftspersonen behaupteten, dass die Zahl der aktiven Demokraten nicht nur im Vergleich mit der gesamten Sowjetbevölkerung dünn ist, sondern auch der kleinste Teil der technischen, künstlerischen und administrativen Intelligenz vertritt. Dieses Zahlenverhältnis verschlechterte sich noch dadurch schlechter wurde, dass seit dem Höhepunkt der Dissensaktivitäten 1968 das Regime zu den harten Repressalien gegriffen hatte.[123] T. Friedgut zufolge widerlegen die Auskunftspersonen damit die positive These von P. Reddaway über die Stärke des Dissenses und bewerten die sowjetischen Dissidenten als eine kleine und schrumpfende Bevölkerungsschicht.[124]

Die Zentren des sowjetischen Dissenses nannten die Auskunftspersonen Moskau und Kiew. Den Informationsaustausch zwischen den Zentren und der Provinz fanden sie einseitig, da die Information aus den Hauptstädten die Provinz relativ schnell erreicht, aber der Informationsstrom aus der Provinz zu schwach blieb.[125] Allerdings muss der Begriff „die Haustädte des Dissenses“ nicht täuschen, da den meisten institutionellen Organisationen der technischen und der künstlerischen Intelligenz die Attraktivität des Dissenses fremd bleibt und darüber hinaus können nur die einzigen dieser Organisationen fähig sein, gegenüber den demokratischen Ideen empfänglich zu werden, wie z.B. das Moskauer Institut für Forschung der Völker Afrikas und Asiens[126] oder das Akademgorodok in Nowosibirsk[127]. Darüber hinaus leitet T. Friedgut das Paradox der Tätigkeit der sowjetischen Demokraten ab, und zwar die Tatsache, dass sie nur dann Erfolg erreichen können, wenn sie geheim agieren, da jegliches öffentliche Auftreten die unausweichliche Unterdrückung seitens des Regimes heiße.[128]

Aber abgesehen von Anerkennung und Begründung der Schwäche des sowjetischen Dissenses behaupteten die Auskunftspersonen, dass dessen Einfluss potentiell viel größer als die Zahl der Dissidenten ist und der Ausdruck der demokratischen Ideen viel stärker wird, wenn sich der Druck des Regimes verringert.[129] Man dürfte vermuten, dass es ihnen um das ging, was A. Shtromas den potentiellen Dissens nennt.

Genauso skeptisch wie W.D. Connor bewerten die Auskunftspersonen die Möglichkeit und Aussicht einer Kopplung der sowjetischen Dissidenten an die breiten Massen, sowie die reformdenkenden Parteikreise. Sie betonen die Instrumentalisierung der Arbeiterklasse von Regime für die Bekämpfung der Demokraten in Form von freiwilligen Kampftruppen („družiniki“) und, dass es tatsächlich keine gemeinsamen Werte bei Dissidenten und Arbeiterklasse gibt. Noch mehr rechtfertigten einige Auskunftspersonen die Notwendigkeit ihrer Isolierung von Arbeiterklasse damit, dass die demokratischen Ideen „rein“ bleiben müssen. T. Friedgut zufolge sprach sich nur eine einzige Auskunftsperson für die Knüpfung der Kontakte an die führende ausgebildete Schicht der Arbeiterschaft aus.[130]

Die meisten Auskunftspersonen widerholten fast wörtlich die Haltung von W.D. Connor in Bezug auf die Perspektivlosigkeit des Reformdenkens der jüngeren Generation der Parteiführung, denn die die Parteimitgliedschaft anstrebende Person ist vom System völlig absorbiert und darüber hinaus sind Reformbestrebungen von ihm kaum zu erwarten.[131] Die Auskunftspersonen hoben auch hervor, dass die Taktik des KGB mit der Übernahme dessen Führung durch J. Andropow immer raffinierter wird, was besonders durch seine Aussage, die jüngeren Intellektuellen als KGB-Angestellte für die intellektuelle Bekämpfung des Dissenses haben zu wollen, zum Ausdruck gebracht worden war.[132] Die Geschicklichkeit des neuen Vorsitzenden des KGB wird auch von A. Borcke betont, indem die Autorin behauptet, J. Andropow sei aufrichtiger Anhänger der Entspannungspolitik und keine Gefahr in ihr sehe, da er tief davon überzeugt sei, alle möglichen innenpolitischen demokratischen Folgen der Entspannungspolitik bekämpfen zu können.[133]

Als Fazit zu den Überlegungen der Auskunftspersonen bringt T. Friedgut ihre Bewertung der künftigen Entwicklung des Dissenses in der UdSSR zum Ausdruck. Ihm zufolge verschoben die meisten Auskunftspersonen die Aussicht des wesentlichen Erfolges des sowjetischen Dissenses auf die weiteren übernächsten Generationen, die nach dem Aussterben der jetzigen Parteiführer noch nicht kommen werden.[134] Mit dieser Bewertung stimmt der auf der Grundlage der Überlegungen der sowjetischen demokratisch gesinnten Auskunftspersonen gebaute Ansatz von T. Friedgut mit der negativen Prognose der Reformfähigkeit nächster Generation der Parteiführung von W.D. Connor überein und widerspricht der positiven Prognose von A. Shtromas.

3.4 Fazit

Fasst man den Ansatz von A. Shtromas zusammen, dürfte man schließen, dass der Forscher die ähnlichen Gruppen der sowjetischen Dissidenten so definiert, wie es bei den Vertretern der klassischen Ansätze der Fall war. Der Unterschied besteht darin, dass A. Shtromas sie auf die globaleren soziologisch bedingten Strukturen bezieht, die miteinander ungleichartig korrelieren; und darüber hinaus tritt auch die andere Korrelation zwischen diesen Gruppen in Erscheinung. Soziologisch bedingt sind diese Gruppen von verschiedener Bedeutung und führen unterschiedliche soziale Funktionen aus.

Lässt sich den Ansatz von W.D. Connor zusammenfassen, dürfte man behaupten, dass der Autor der einzige in diese Arbeit einbezogene Forscher ist, der in den Vordergrund der Forschung des sowjetischen Dissenses seinen globalen soziologischen Hintergrund versetzte und die sowjetischen Dissidenten als Produkt der komplexen gesellschaftlichen Prozessen darstellte. Deshalb stand der Schwerpunkt seines Ansatzes nicht in der detaillierten Differenzierung der sowjetischen Dissidenten nach dem ideologischen Kriterium der Vertreter der klassischen Ansätze und dem Kriterium der Rahmendbedingungen des Handelns von A. Shtromas, was aber die Verdienste seines Ansatzes bzw. die gezeigte Kopplung des Dissenses an die sozialökonomische Dynamik der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft nicht verringert.

Fasst man den Ansatz von T. Friedgut zusammen, ist schwer festzustellen, in welchem Grade die persönliche Wahrnehmung dieses westlichen Wissenschaftlers mit den Meinungen der sowjetischen Auskunftspersonen übereinstimmt. Die Hauptsache ist aber, dass sich T. Friedgut als einziger westlicher Forscher erwies, der die Struktur und Aspekte des sowjetischen Dissenses auf der Grundlage der Überlegungen der sowjetischen demokratisch gesinnten Bürger analysiert. Und die Tatsache, dass T. Friedgut die von ihm herausgehenden Perspektiven und Tendenzen des sowjetischen Dissenses am Ende seines Aufsatzes auf der Grundlage dieser Überlegungen zum Ausdruck bringt, dürfte vielleicht davon zeugen, dass einer der westlichen Autoren beanspruchte, als Basis seiner Analyse und Wahrnehmung der sowjetischen Dissidenten nicht nur ihre programmatische Schriften oder abgehackten Nachrichten aus der UdSSR einzusetzen, sondern sie selbst oder die ihnen nahstehenden Personen. Ausgehend von der Spezifik dieses Ansatzes wurden auch viele Vergleichungen seiner Schlussfolgerungen mit den Leitsätzen der obengenannten funktionalistischen Ansätze eingeführt und eingesetzt.

Zusammenfassung

Man dürfte davon ausgehen, dass das Forschungsziel bzw. die Erklärung des Wesens der wissenschaftlichen Wahrnehmung des sowjetischen Dissenses im Westen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre durch Zweiteilung der dafür eingesetzten wissenschaftlichen Ansätze nach ihrem Schwerpunkt in die klassische und funktionalistische Gruppe im wesentlichen erreicht wurde.

Die künstlich vorgenommene Schaffung und die Einführung in die Forschung der drei Aspekte ließen nicht nur die Meinungen der Autoren der jeweiligen klassischen Ansätze wie P. Reddaway, A. Brumberg, B, Lewytzkyj usw. besser im Ausdruck bringen, sondern auch deren verschiedenen Schwerpunkte systematisieren. Darüber hinaus konnte die klassische Ansatzgruppe mehr als ein abstrakter Ausgangspunkt für die weitere deduktive Erörterung der einzelnen Ansätze dargestellt werden. Die Erörterung der einzelnen Ansätze durch deren Systematisierung nach den drei Aspekten gestaltete die klassische Ansatzgruppe als induktive Kategorie und als einen greifbaren Bestandteil der wissenschaftlichen Wahrnehmung des sowjetischen Dissenses.

Die Systematisierung der funktionalistischen Ansätze und die dadurch induktiv zustande gekommene Herausbildung der funktionalistischen Ansatzgruppe wurden durch die Betrachtung jedes einzelnen Ansatzes vorgenommen. Als das diese Systematisierung fördernde Mittel wurde der jeden funktionalistischen Ansatz nach ähnlichem Schema erklärende und beschreibende logische Mechanismus in die Forschung eingeführt. Die Möglichkeit, jeden funktionalistischen Ansatz durch diesen logischen Mechanismus auf die gleiche Weise analysieren zu können, dürfte vielleicht als das eine einziger Bindeglied der ganzen funktionalistischen Gruppe gelten. Obwohl die Systematisierung der jeweiligen funktionalistischen Ansätze technisch möglich gewesen wäre, hätte dieses Verfahren im Unterschied zur klassischen Ansatzgruppe der inhaltlichen Einheitlichkeit der funktionalistischen den großen Schaden zugefügt. Im Vergleich mit den Autoren der klassischen Ansätze sind die Grundannahmen und die Argumentationsmuster der Ansätze von A. Shtromas, W.D. Connor und T. Friedgut zu unterschiedlich, um nach den jeweiligen Aspekten zerteilt zu werden. Jeder funktionalistische Ansatz wurde als inhaltliche Ganzheit wahrgenommen und durch den bindenden logischen Mechanismus mit anderen Ansätzen zur funktionalistischen Ansatzgruppe zusammengeschlossen, was ihre Struktur nachvollziehbar machte und sie als zweiten greifbaren Teil der wissenschaftlichen Wahrnehmung des sowjetischen Dissenses im Westen verstehen lässt.

Man darf aber diese Kategorien nicht erschöpfend und fix geschaffen wahrnehmen, da die Auslese der Haupt- und Sekundärausätze als Grundlage der Forschung äußerst repräsentativ war. Trotzdem wurden es die ausführlichsten und die gründlichsten Quellen eingesetzt, die im Zuge der Herausbildung und Erläuterung der jeweiligen Ansatzgruppen ihnen ihren inhaltlichen Reichtum und die mit ihm einhergehende Argumentationsstärke verliehen konnten.


Date: 2015-12-11; view: 656


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