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Abreise von Gleis neundreiviertel

 

Harrys letzter Monat bei den Dursleys war nicht besonders lustig. Gewiss, Dudley hatte nun so viel Angst vor Harry, dass er nicht im selben Zimmer mit ihm bleiben wollte, und Tante Petunia und Onkel Vernon schlossen Harry nicht mehr in den Schrank ein, zwangen ihn zu nichts und schrien ihn nicht an - in Wahrheit sprachen sie kein Wort mit ihm. Halb entsetzt, halb wütend taten sie, als ob der Stuhl, auf dem Harry saß, leer wäre. So ging es ihm in mancher Hinsicht besser als zuvor, doch mit der Zeit wurde er ein wenig niedergeschlagen.

Harry blieb gerne in seinem Zimmer in Gesellschaft seiner Eule. Er hatte beschlossen, sie Hedwig zu nennen, ein Name, den er in der Geschichte der Zauberei gefunden hatte. Seine Schulbücher waren sehr interessant. Er lag auf dem Bett und las bis spät in die Nacht, während Hedwig durchs offene Fenster hinaus - oder hereinflatterte, wie es ihr gefiel. Ein Glück, dass Tante Petunia nicht mehr mit dem Staubsauger hereinkam, denn andauernd brachte Hedwig tote Mäuse mit. Harry hatte einen Monatskalender an die Wand geheftet, und Jede Nacht, bevor er einschlief, hakte er einen weiteren Tag ab.

Am letzten Augusttag fiel ihm ein, dass er wohl mit Onkel und Tante darüber reden müsse, wie er am nächsten Tag zum Bahnhof King's Cross kommen sollte. Er ging hinunter ins Wohnzimmer, wo sie sich ein Fernsehquiz ansahen. Als er sich räusperte, um auf sich auf-


 

 

merksam zu machen, schrie Dudley auf und rannte davon.

»Ahm - Onkel Vernon?«

Onkel Vernon grunzte zum Zeichen, dass er hörte.

»Ähm - ich muss morgen nach King's Cross, um ... um nach Hogwarts zu fahren.«

Onkel Vernon grunzte erneut.

»Würde es dir etwas ausmachen, mich hinzufahren?« Ein Brummen. Harry nahm an, dass es Ja hieß.

»Danke.«

Er war schon auf dem Weg zur Treppe, als Onkel Vernon tatsächlich den Mund aufmachte.

»Komische Art, zu einer Zaubererschule zu kommen, mit dem Zug. Die fliegenden Teppiche haben wohl alle Löcher, was?«

Harry schwieg.

»Wo ist diese Schule überhaupt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Harry, selbst davon überrascht. Er zog die Fahrkarte, die Hagrid ihm gegeben hatte, aus der Tasche. Ich nehme einfach den Zug um elf Uhr von Gleis neun-

dreiviertel«, las er laut.

Tante und Onkel starrten ihn an.

»Gleis wie viel?«

»Neundreiviertel.«

»Red keinen Stuss«, sagte Onkel Vernon, »es gibt kein Gleis neundreiviertel.«

»Es steht auf meiner Fahrkarte.«

»Total verrückt«, sagte Onkel Vernon, »vollkommen übergeschnappt, das ganze Pack. Du wirst sehen. Wart's nur ab. Gut, wir fahren dich nach King's Cross. Wir müssen morgen ohnehin nach London, sonst würd ich mir die Mühe Ja nicht machen.«

 


 

 

»Warum fahrt ihr nach London?«, fragte Harry, um das Gespräch ein wenig freundlich zu gestalten.

»Wir bringen Dudley ins Krankenhaus«, knurrte Onkel Vernon. »Bevor er nach Smeltings kommt, muss dieser ver- maledeite Schwanz weg.«



 

Am nächsten Morgen wachte Harry um fünf Uhr auf viel zu aufgeregt und nervös, um wieder einschlafen zu können. Er stieg aus dem Bett und zog seine Jeans an, weil er nicht in seinem Zaubererumhang auf dem Bahnhof erscheinen wollte - er würde sich dann im Zug umziehen. Noch einmal ging er die Liste für Hogwarts durch, um sich zu vergewissern, dass er alles Nötige dabei hatte, und schloss Hedwig in ihren Käfig ein. Dann ging er im Zimmer auf und ab, darauf wartend, dass die Dursleys aufstanden. Zwei Stunden später war Harrys riesiger, schwerer Koffer im Wagen der Dursleys verstaut, Tante Petunia hatte Dudley überredet, sich neben Harry zu setzen, und los ging die Fahrt.

Sie erreichten King's Cross um halb elf. Onkel Vernon packte Harrys Koffer auf einen Gepäckwagen und schob ihn in den Bahnhof Harry fand dies ungewöhnlich freundlich von ihm, bis Onkel Vernon mit einem hässlichen Grinsen auf dem Gesicht vor den Bahnsteigen Halt machte.

»Nun, das war's, Junge. Gleis neun - Gleis zehn. Dein Gleis sollte irgendwo dazwischen liegen, aber sie haben es wohl noch nicht gebaut, oder?«

Natürlich hatte er vollkommen Recht. Über dem Bahnsteig hing auf der einen Seite die große Plastikziffer 9, über der anderen die große Plastikziffer 10, und dazwischen war nichts.

»Na dann, ein gutes Schuljahr«, sagte Onkel Vernon mit einem noch hässlicheren Grinsen. Er verschwand ohne ein

 


 

 

weiteres Wort zu sagen. Harry wandte sich um und sah die Dursleys wegfahren. Alle drei lachten. Harrys Mund wurde ganz trocken. Was um Himmels willen sollte er tun? Schon richteten sich viele erstaunte Blicke auf ihn - wegen Hedwig. Er musste Jemanden fragen.

Er sprach einen vorbeigehenden Wachmann an, wagte es aber nicht, Gleis neundreiviertel zu erwähnen. Der Wachmann hatte nie von Hogwarts gehört, und als Harry ihm nicht einmal sagen konnte, in welchem Teil des Landes die Schule lag, wurde er zusehends ärgerlich, als ob Harry sich absichtlich dumm anstellen würde. Schon ganz verzweifelt fragte Harry nach dem Zug, der um elf Uhr ging, doch der Wachmann meinte, es gebe keinen. Eine mürrische Bemerkung über Zeitverschwender auf den Lippen ging er schließlich davon. Harry versuchte mit aller Macht, ruhig Blut zu bewahren. Der großen Uhr über der Ankunfttafel nach hatte er noch zehn Minuten, um in den Zug nach Hogwarts zu steigen, und er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Da stand er nun, verloren mitten auf einem Bahnhof, mit einem Koffer, den er kaum vom -Boden heben konnte, einer Tasche voller Zauberergeld und einer großen Eule.

Hagrid musste vergessen haben, ihm zu sagen, dass er etwas Bestimmtes tun sollte, so wie man auf den dritten Backstein zur Linken klopfen musste, um auf die Winkelgasse zu kommen. Sollte er vielleicht seinen Zauberstab herausholen und auf den Fahrkartenschalter zwischen Gleis neun und Gleis zehn klopfen?

In diesem Augenblick ging eine Gruppe von Menschen dicht hinter ihm vorbei und er schnappte ein paar Worte ihrer Unterhaltung auf.

»... voller Muggel, natürlich ...«

Harry wandte sich rasch um. Gesprochen hatte eine ku- 102


 

 

gelrunde Frau, um sie herum vier Jungen, allesamt mit flammend rotem Haar. Jeder der vier schob einen Koffer, so groß wie der Harrys, vor sich her - und sie hatten eine Eule dabei.

Mit klopfendem Herzen schob Harry seinen Gepäckwagen hinter ihnen her. Sie hielten an, und auch Harry blieb stehen, dicht genug hinter ihnen, um sie zu hören.

»So, welches Gleis war es noch mal?«, fragte die Mutter der Jungen.

»Neundreiviertel«, piepste ein kleines Mädchen an ihrer Hand, das ebenfalls rote Haare hatte. »Mammi, kann ich nicht mitgehen ...«

»Du bist noch zu klein, Ginny, und Jetzt sei still. Percy, du gehst zuerst.«

Der offenbar älteste Junge machte sich auf den Weg in Richtung Bahnsteig neun und zehn. Harry beobachtete ihn, angestrengt darauf achtend, nicht zu blinzeln, damit ihm nichts entginge - doch gerade als der Junge die Absperrung zwischen den beiden Gleisen erreichte, schwärmte eine große Truppe Touristen an ihm vorbei, und als der letzte Rucksack sich verzogen hatte, war der Junge verschwunden.

»Fred, du bist dran«, sagte die rundliche Frau.

»Ich bin nicht Fred, ich bin George«, sagte der Junge.

»Ehrlich mal, gute Frau, du nennst dich unsere Mutter? Kannst du nicht sehen, dass ich George bin?«

»Tut mir Leid, George, mein Liebling.«

»War nur'n Witz, ich bin Fred«, sagte der Junge, und fort war er. Sein Zwillingsbruder rief ihm hinterher, er solle sich beeilen, und das musste er getan haben, denn eine Sekunde später war er verschwunden - doch wie hatte er es geschafft?

Nun schritt der dritte Bruder zügig auf die Bahnsteig- absperrung zu - er war schon fast dort -, und dann, ganz plötzlich, war er nicht mehr zu sehen.

 


 

 

Er war spurlos verschwunden.

»Entschuldigen Sie«, sagte Harry zu der rundlichen Frau.

»Hallo, mein Junge«, sagte sie. »Das erste Mal nach Hog- warts? Ron ist auch neu.«

Sie deutete auf den letzten und Jüngsten ihrer Söhne. Er war hoch gewachsen, dünn und schlaksig, hatte Sommersprossen, große Hände und Füße und eine kräftige Nase.

»Ja«, sagte Harry. »Die Sache ist die ... ist nämlich die, ich weiß nicht, wie ich ...«

»Wie du zum Gleis kommen sollst?«, sagte sie freundlich, und Harry nickte.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Du läufst einfach schnurstracks auf die Absperrung vor dem Bahnsteig für die Gleise neun und zehn zu. Halt nicht an und hab keine Angst, du könntest dagegen knallen, das ist sehr wichtig. Wenn du nervös bist, dann renn lieber ein bisschen. Nun geh, noch vor Ron.«

»Ähm -ja«, sagte Harry.

Er drehte seinen Gepäckwagen herum und blickte auf die Absperrung. Sie machte einen sehr stabilen Eindruck.

Langsam ging er auf sie zu. Menschen auf dem Weg zu den Gleisen neun oder zehn rempelten ihn an. Harry beschleunigte seine Schritte. Er würde direkt in diesen Fahrkartenschalter knallen, und dann hätte er ein echtes Problem. Er lehnte sich, auf den Wagen gestützt, nach vorn und stürzte nun schwer atmend los - die Absperrung kam immer näher - anhalten konnte er nun nicht mehr -der Gepäckkarren war außer Kontrolle - noch ein halber Meter - er schloss die Augen, bereit zum Aufprall -

Nichts geschah ... Harry rannte weiter ... er öffnete die Augen.

Eine scharlachrote Dampflok stand an einem Bahnsteig bereit, die Waggons voller Menschen. Auf einem Schild

 

über der Lok stand Hogwarts-Express, 11 Uhr. Harry warf einen Blick über die Schulter und sah an der Stelle, wo der Fahrkartenschalter gestanden hatte, ein schmiedeeisernes Tor


 

 

und darauf die Worte Gleis neundreiviertel. Er hatte es geschafft.

Die Lok blies Dampf über die Köpfe der schnatternden Menge hinweg, während sich hie und da Katzen in allen Farben zwischen den Beinen der Leute hindurchschlängelten. Durch das Geschnatter der Wartenden und das Kratzen der schweren Koffer schrien sich Eulen gegenseitig etwas mürrisch an.

Die ersten Waggons waren schon dicht mit Schülern besetzt. Einige lehnten sich aus den Fenstern und sprachen mit ihren Eltern und Geschwistern, andere stritten sich um Sitzplätze. Auf der Suche nach einem freien Platz schob Harry seinen Gepäckwagen weiter den Bahnsteig hinunter. Er kam an einem Jungen mit rundem Gesicht vorbei und hörte ihn klagen: »Oma, ich hab schon wieder meine Kröte verloren.«

»Ach, Neville«, hörte er die alte Frau seufzen.

Ein kleiner Auflauf hatte sich um einen Jungen mit Ras- talocken gebildet.

»Lass uns nur einmal gucken, Lee, komm schon«

Der Junge hob den Deckel einer Schachtel, die er in den Armen hielt, und die Umstehenden kreischten und schrien auf, als ein langes, haariges Bein zum Vorschein kam.

Harry schob sich weiter durch die Menge, bis er fast am Ende des Zuges ein leeres Abteil fand. Dort stellte er erst einmal Hedwig ab, dann begann er seinen Koffer in Richtung Waggontür zu wuchten. Er versuchte ihn die Stufen hochzuhieven, doch er konnte den Koffer kaum auch nur an einer Seite anheben. Zweimal fiel er ihm auf die Füße und das tat weh.

 


 

 

»Brauchst du Hilfe?« Das war einer der rothaarigen Zwillinge, denen er durch den Fahrkartenschalter gefolgt war.

»Ja, bitte«, keuchte Harry«

»Hallo, Fred! Pack mal mit an!«

Mit Hilfe der Zwillinge verstaute er seinen Koffer schließlich in einer Ecke des Abteils.

»Danke«, sagte Harry und wischte sich die schweißnassen Haare aus der Stirn.

»Was ist denn das?«, rief einer der Zwillinge plötzlich und deutete auf Harrys Blitznarbe.

»Mensch!«, sagte der andere Zwilling. »Bist du -?«

»Er ist es«, sagte der erste Zwilling. »Oder etwa nicht?«, fügte er an Harry gewandt hinzu.

»Wer?«, sagte Harry.

»Harry Potter«, riefen die Zwillinge im Chor.

»oh, der«, sagte Harry. »Ja, allerdings, der bin ich.«

Die beiden Jungen starrten ihn mit offenen Mündern an, und Harry spürte, wie er rot wurde. Dann kam, zu seiner Erleichterung, eine Stimme durch die offene Waggontür hereingeschwebt.

»Fred? George? Seid ihr dadrin?«

»Wir kommen, Mum.«

Mit einem letzten Blick auf Harry sprangen die Zwillinge aus dem Zug.

Harry setzte sich ans Fenster, wo er, halb verdeckt, die rothaarige Familie auf dem Bahnsteig beobachten und ihrem Gespräch lauschen konnte. Die Mutter hatte soeben ein Taschentuch hervorgezogen.

»Ron, du hast was an der Nase.«

Der Jüngste versuchte sich loszureißen, doch sie packte ihn und fing an seine Nase zu Putzen.

»Mum - hör auf,« Er wand sich los.

 


 

 

»Aaah, hat Ronniespätzchen etwas an der Nase?«, sagte einer der Zwillinge.

»Halt den Mund«, sagte Ron.

»Wo ist Percy?«, fragte die Mutter.

»Da kommt er.«

Der älteste Junge kam angeschritten. Er hatte bereits seinen wogenden schwarzen Hogwarts-Umhang angezogen, und Harry bemerkte ein schimmerndes Silberabzeichen mit dem Buchstaben V auf seiner Brust.

»Kann nicht lange bleiben, Mutter«, sagte er. »Ich bin ganz vorn, die Vertrauensschüler haben zwei Abteile für sich.«

»Oh, du bist Vertrauensschüler, Percy?«, sagte einer der Zwillinge und tat ganz überrascht. »Hättest du doch etwas gesagt, wir wussten Ja gar nichts davon.«

»Warte, mir ist, als hätte er mal was erwähnt«, sagte der andere Zwilling. »Einmal -«

»Oder auch zweimal -«

»So nebenbei -«

»Den ganzen Sommer über -«

»Ach, hört auf«, sagte Percy der Vertrauensschüler.

»Warum hat Percy eigentlich einen neuen Umhang?«, fragte einer der Zwillinge.

»Weil er ein Vertrauensschüler ist«, sagte die Mutter ver- gnügt. »Nun gut, mein Schatz, ich wünsch dir ein gutes Schuljahr - und schick mir eine Eule, wenn du angekommen bist.«

Sie küsste Percy auf die Wange und er verabschiedete sich.

Dann wandte sie sich den Zwillingen zu.

»Und Jetzt zu euch beiden. Dieses Jahr benehmt ihr euch. Wenn ich noch einmal eine Eule bekomme, die mir sagt, dass ihr

- dass ihr ein Klo in die Luft gejagt habt oder -«

 


 

 

»Ein Klo in die Luft gejagt? Wir haben noch nie ein Klo in die Luft gejagt.«

»Ist aber eine klasse Idee, danke, Mum.«

»Das ist nicht lustig. Und passt auf Ron auf.«

»Keine Sorge, Ronniespätzchen ist sicher mit uns.«

»Haltet den Mund«, sagte Ron erneut. Er war schon fast so groß wie die Zwillinge, und seine Nase war dort, wo die Mutter sie geputzt hatte, immer noch rosa.

»He, Mum, weißt du was? Rate mal, wen wir im Zug ge- troffen haben!«

Harry lehnte sich rasch zurück, damit sie nicht sehen konnten, dass er sie beobachtete.

»Weißt du noch, dieser schwarzhaarige Junge, der im Bahnhof neben uns stand? Weißt du, wer das ist?«

»Wer?«

»Harry Potter!«

Harry hörte die Stimme des kleinen Mädchens.

»Oh, Mum, kann ich in den Zug gehen und ihn sehen? Mum, bitte .. .«

»Du hast ihn schon gesehen, Ginny, und der arme Junge ist kein Tier, das man sich anguckt wie im Zoo. Ist er es wirklich, Fred? Woher weißt du das?«

»Hab ihn gefragt. Hab seine Narbe gesehen. Es gibt sie wirklich - sieht aus wie ein Blitz.«

»Der Arme - kein Wunder, dass er allein war. Er hat Ja so höflich gefragt, wie er auf den Bahnsteig kommen soll.«

»Schon gut, aber glaubst du, er erinnert sich daran, wie Du-weißt-schon-wer aussieht?«

Ihre Mutter wurde plötzlich sehr ernst.

»Ich verbiete dir, ihn danach zu fragen, Fred. Wag es Ja nicht. Das hat ihm gerade noch gefehlt, dass er an seinem ersten Schultag daran erinnert wird.«

»Schon gut, reg dich ab.«

 


 

 

Ein Pfiff gellte über den Bahnsteig.

»Beeilt euch«, sagte die Mutter, und die drei Jungen stiegen in den Zug. Sie lehnten sich aus dem Fenster für einen Abschiedskuss, und ihre kleine Schwester begann zu weinen.

»Nicht doch, Ginny, wir senden dir kistenweise Eulen.«

»Wir schicken dir eine Klobrille aus Hogwarts.«

»George!«

»War nur 'n Witz, Mum.«

Mit einem Ruck fuhr der Zug an. Harry sah die Mutter der Jungen und die kleine Schwester halb lachend, halb weinend zum Abschied winken. Sie rannten mit, bis der Zug zu schnell wurde, dann blieben sie stehen und winkten.

Der Zug ging in eine Kurve und Harry verlor das Mädchen und seine Mutter aus den Augen. Vor dem Fenster zogen Häuser vorbei. Plötzlich war Harry ganz aufgeregt. Er wusste nicht, was ihn erwartete - doch besser als das, was er zurückließ, musste es allemal sein.

Die Abteiltür glitt auf und der Jüngste der Rotschöpfe kam herein.

»Sitzt da Jemand?«, fragte er und deutete auf den Sitz ge- genüber von Harry. »Der ganze Zug ist nämlich voll.«

Harry schüttelte den Kopf und der Junge setzte sich. Er warf Harry einen schnellen Blick zu und sah dann schweigend aus dem Fenster. Harry sah, dass er immer noch einen schwarzen Fleck auf der Nase hatte.

»He, Ron.«

Da waren die Zwillinge wieder.

»Hör mal, wir gehen weiter in die Mitte. Lee Jordan hat eine riesige Tarantel.«

»Macht nur«, murmelte Ron.

»Harry«, sagte der andere Zwilling, »haben wir uns ei-

 


 

 

gentlich schon vorgestellt? Fred und George Weasley. Und das hier ist Ron, unser Bruder. Bis später dann.«

»Tschau«, sagten Harry und Ron. Die Zwillinge schoben die Abteiltür hinter sich zu.

»Bist du wirklich Harry Potter?«, kam es aus Ron hervor- gesprudelt.

Harry nickte.

»Aah, gut, ich dachte, es wäre vielleicht wieder so ein Scherz von Fred und George«, sagte Ron. »Und hast du wirklich

... du weißt schon ...« Er deutete auf Harrys Stirn.

Harry strich sich die Haare aus dem Gesicht und zeigte ihm die Blitznarbe. Ron machte große Augen.

»Also hier hat Du-weißt-schon-wer ...«

»Ja«, sagte Harry, »aber ich kann mich nicht daran erin- nern.«

»An nichts?«, fragte Ron netigienig.

»Naja, ich erinnere mich noch, dass überall grünes Licht war, aber an sonst nichts.«

»Mensch«, sagte Ron. Er saß da, starrte Harry einige Zeit lang an und dann, als sei ihm plötzlich klar geworden, was er da tat, wandte er seine Augen rasch wieder aus dem Fenster.

»Sind alle in eurer Familie Zauberer?«, fragte Harry, der Ron genauso interessant fand wie Ron ihn.

»Ähm - ja, ich denke schon«, sagte Ron. »Ich glaube, Mum hat noch einen zweiten Vetter, der Buchhalter ist, aber wir reden nie über ihn.«

»Dann musst du schon viel vom Zaubern verstehen.«

Die Weasleys waren offensichtlich eine dieser alten Zau- bererfamilien, von denen der blasse Junge in der Winkelgasse gesprochen hatte.

»Ich hab gehört, dass du bei den Muggeln gelebt hast«, sagte Ron. »Wie sind die?«

 


 

 

»Fürchterlich - naja, nicht alle. Meine Tante, mein Onkel und mein Vetter Jedenfalls. Ich wünschte, ich hätte auch drei Zaubererbrüder.«

»Fünf«, sagte Ron. Aus irgendeinem Grund verdüsterte sich seine Miene. »Ich bin der sechste in unserer Familie, der nach Hogwarts geht. Und das heißt, in mich setzt man hohe Erwartungen. Bill und Charlie sind schon nicht mehr dort - Bill war Schulsprecher und Charlie war Kapitän der Quidditch-Mannschaft. Und Percy ist jetzt Vertrauensschüler. Fred und George machen zwar eine Menge Unsinn, aber sie haben trotzdem ganz gute Noten und sind beliebt. Alle erwarten von mir, dass ich so gut bin wie die andern, aber wenn ich es schaffe, ist es keine große Sache, weil sie es schon vorgernacht haben. Außerdem kriegst du nie etwas Neues, wenn du fünf Brüder hast. Ich habe den alten Umhang von Bill, den alten Zauberstab von Charlie und die alte Ratte von Percy.«

Ron schob die Hand in die Jacke und zog eine fette, graue, schlafende Ratte hervor.

»Ihr Name ist Krätze und sie ist nutzlos, sie pennt immer. Percy hat von meinem Dad eine Eule bekommen, weil er Vertrauensschüler wurde, aber sie konnten sich keine - ich meine, ich habe stattdessen Krätze bekommen.«

Rons Ohren färbten sich rosa. Offenbar glaubte er, er habe jetzt zu viel gesagt, denn er sah jetzt wieder aus dem Fenster.

Harry fand es überhaupt nicht schlimm, wenn jemand sich keine Eule leisten konnte. Schließlich hatte er bis vor einem Monat keinen Penny gehabt, und er erzählte Ron auch, dass er immer Dudleys alte Klamotten tragen musste und nie ein richtiges Geburtstagsgeschenk bekommen hatte. Das schien Ron ein wenig aufzumuntern.

 


 

 

»... und bis Hagrid es mir gesagt hat, wusste ich überhaupt nicht, dass ich ein Zauberer bin, und auch nichts von meinen Eltern und Voldemort.«

Ron stockte der Atem.

»Was ist?«, fragte Harry.

»Du hast Du-weißt-schon-wer beim Namen genannt!«, sagte Ron, entsetzt und beeindruckt zugleich. »Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du -«

»Ich möchte nicht so tun, als ob ich besonders mutig wäre, wenn ich den Namen sage«, antwortete Harry. »Ich habe einfach nie gewusst, dass man es nicht tun sollte. Verstehst du? Ich hab noch eine Menge zu lernen ... Ich wette«, fuhr er fort und redete sich etwas von der Seele, das ihm seit kurzem viel Sorge bereitete, »ich wette, ich bin der Schlechteste in der Klasse.«

»Das glaube ich nicht. Es gibt eine Menge Leute aus Muggelfamilien und sie lernen trotzdem schnell.«

Während sie sich unterhielten, hatte der Zug London hinter sich gelassen. Wiesen mit Kühen und Schafen zogen nun schnell an ihnen vorbei. Eine Weile schwiegen sie und schauten hinaus auf Felder und Wege.

Um halb zwölf drang vom Gang ein lautes Geklirre und Geklapper herein, und eine Frau mit Grübchen in den Wangen schob die Tür auf und sagte lächelnd: »Eine Kleinigkeit vom Wagen gefällig, ihr Süßen?«

Harry, der nicht gefrühstückt hatte, sprang auf, doch Rons Ohren liefen wieder rosa an. Er habe Stullen dabei, nuschelte er. Harry trat hinaus in den Gang.

Bei den Dursleys hatte er nie Geld für Süßigkeiten gehabt, und nun, mit den Taschen voll klimpernder Gold- und Silbermünzen, hatte er große Lust, so viele Schokoriegel zu kaufen, wie er nur tragen konnte, doch die Frau hatte keine Schokoriegel. Es gab Bertie Botts Bohnen in al-


 

 

len Geschmacksrichtungen, Bubbels Besten Blaskaugummi, Schokofrösche, Kürbispasteten, Kesselkuchen, Lakritz-Zau- berstäbe und einige andere seltsame Dinge, die Harry noch nie gesehen hatte. Damit ihm auch nichts entginge, nahm er von allem etwas und zahlte der Frau elf Silbersickel und sieben Bronzeknuts.

Ron machte große Augen, als Harry mit all den Sachen ins Abteil zurückkam und sie auf einen leeren Sitz fallen ließ.

»Bist wohl ziemlich hungrig?«

»Ich verhungere gleich«, sagte Harry und nahm einen großen Bissen von einer Kürbispastete.

Ron hatte ein klobiges Papierbündel herausgeholt und es aufgewickelt. Drin waren vier belegte Brote. Er zog eins davon auseinander und sagte: »Sie vergisst immer, dass ich kein Corned Beef inag.«

»Ich tausch es für eine hiervon«, sagte Harry und hielt eine Pastete hoch. »Na los -«

»Das Brot magst du sicher nicht, es ist ganz trocken«, sagte Ron. »Sie hat nicht viel Zeit«, fügte er rasch hinzu, »mit gleich fünfen von uns, du weißt ja.«

»Ach, komm schon, nimm dir eine Pastete«, sagte Harry, der noch nie etwas zu teilen gehabt hatte oder auch nur jemanden, mit dem er etwas hätte teilen können. Es war ein gutes Gefühl, hier mit Ron zu sitzen und sich durch all seine Pasteten und Kuchen zu futtern (die Stullen hatten sie längst vergessen).

»Was ist das?«, fragte Harry und hielt eine Schachtel Scho- kofrösche hoch. »Das sind keine echten Frösche, oder?« All- mählich hatte er das Gefühl, dass ihn nichts mehr überraschen vrürde.

»Nein«, sagte Ron. »Aber schau nach, was auf der Karte ist, mir fehlt noch Agrippa.«

»Was?«


 

 

»Ach, das weißt du natürlich nicht! In den Schokofröscheu sind Bildkarten von berühmten Hexen und Zauberern zum Sammeln. Ich habe über fünfhundert, aber mir fehlen noch Agrippa und Ptolemäus.«

Harry wickelte den Schokofrosch aus und entnahm die Karte. Sie zeigte das Gesicht eines Mannes. Er trug eine Lesebrille, hatte eine lange, krumme Nase, wehendes Silberhaar und einen mächtigen Vollbart. Unter dem Bild stand der Name Albus Dumbledore.

»Das ist also Dumbledore«, rief Harry.

»Sag bloß, du hast noch nie von Dumbledore gehört!«, rief Ron. »Kann ich einen Frosch haben? Vielleicht ist Agrippa drin. - Danke.«

Harry drehte seine Karte um und las:

 

Albus Dumbledore, gegenwärtig Schulleiter von Hogwarts. Gilt bei vielen als der größte Zauberer derjüngeren Ge-

schichte.

Durnbledores Ruhm beruht vor allem auf seinem Sieg über den schwarzen Magier Grindelwald imjahre 1945, auf der Entdeckung der sechs Anwendungen für Drachenmilch und auf seinem Werk über Alchernie, verfasst zusammen mit seinem Partner Nicolas Flamel. In seiner Freizeit hört Professor Dumbledore mit Vorliebe Kammermusik und spielt Bowling.

 

Harry drehte die Karte wieder um und stellte verblüfft fest, dass Durnbledores Gesicht verschwunden war.

»Er ist weg!«

»Tja, du kannst nicht erwarten, dass er den ganzen Tag hier rumhängt«, sagte Ron. »Er wird schon wieder kommen. Ach nein, ich hab schon wieder Morgana; von der

 


 

 

hab ich doch schon sechs Stück ... willst du Sie? Du könntest anfangen zu sammeln.«

Rons Augen wanderten hinüber zu dem Haufen Schoko- frösche, die nur darauf warteten, ausgewickelt zu werden.

»Bedien dich«, sagte Harry. »Aber in der ... in der Mug- gelwelt bleiben die Leute einfach sichtbar.«

»Wirklich? Soll das heißen, sie bewegen sich überhaupt nicht?« Ron klang verblüfft. »Komisch!«

Harry machte große Augen, als Dumbledore wieder ins Bild auf seiner Karte huschte und ihn kaum merklich anlächelte. Ron war mehr daran interessiert, die Frösche zu verspeisen, als die Karten mit den berühmten Hexen und Zauberern zu betrachten, doch Harry konnte seine Augen nicht von ihnen abwenden. Bald besaß er nicht nur Dumbledore und Morgana, sondern auch Hengis von Woodcroft, Alberich Grunnion, Circe, Paracelsus und Merlin. Schließlich wandte er mit Mühe die Augen von der Druidin Cliodna ab, die sich gerade an der Nase kratzte, und öffnete eine Tüte Bertie Botts Bohnen aller Geschmacks- richtungen.

»Sei bloß vorsichtig mit denen«, warnte ihn Ron. »Wenn sie sagen jede Geschmacksrichtung, dann meinen sie es auch. - Du kriegst zwar alle gewöhnlichen wie Schokolade und Pfefferminz und Erdbeere, aber auch Spinat und Leber und Kutteln. George meint, er habe mal eine mit Popelgeschmack gehabt.«

Ron nahm sich eine grüne Bohne, studierte sie sorgfältig und biss sich ein Stück ab.

»Ääähhh - siehst du? Sprösslinge.«

Die Bohnen jeder Geschmacksrichtung zu essen machte ihnen Spaß. Harry hatte Toast, Kokosnuss, gebackene Bohnen, Erdbeere, Curry, Gras, Kaffee und Sardine und war sogar kühn genug, um das Ende einer merkwürdigen grauen

 


 

 

Bohne anzuknabbern, die Ron nicht einmal anfassen wollte. Sie schmeckte nach Pfeffer.

Die Landschaft, die nun am Fenster vorbeiflog, wurde zunehmend wilder. Die ordentlich bestellten Felder waren verschwunden. Jetzt sahen sie Wälder, verschlungene Flüsse und dunkelgrüne Hügel.

An der Abteiltür klopfte es, und derjunge mit dem runden Gesicht, an dem Harry auf dem Bahnsteig vorbeigegangen war, kam herein. Er sah ganz verweint aus.

»Tut mir Leid«, sagte er, »aber habt ihr vielleicht eine Kröte gesehen?«

Als sie die Köpfe schüttelten, fing er an zu klagen: »Ich hab sie verloren. Immer haut sie ab!«

»Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte Harry.

»Ja«, sagte derjunge verzweifelt. »Gut, falls ihr sie seht ... Er verschwand wieder.

»Weiß nicht, warum er sich so aufregt«, sagte Ron. »Wenn ich eine Kröte mitgebracht hätte, dann wär ich sie so schnell wie möglich losgeworden. Doch was soll's, hab ja Krätze mitgebracht, ich sollte also lieber den Mund halten.«

Die Ratte döste immer noch auf Rons Schoß.

»Sie könnte inwischen gestorben sein, ohne dass ich es gemerkt hätte«, sagte Ron voller Abscheu. »Gestern hab ich versucht, sie gelb zu färben, damit sie interessanter aussieht, aber der Spruch hat nicht gewirkt. Ich zeig's dir, schau mal ...«

Er stöberte in seinem Koffer herum und zog einen arg in Mitleidenschaft genommenen Zauberstab hervor. An manchen Stellen war er angeschnitten und etwas Weißes glitzerte an der Spitze.

»Das Einhornhaar kommt schon fast raus. Egal -«

Gerade hatte er seinen Zauberstab erhoben, als die Abteiltür erneut aufgeschoben wurde. Wieder war es der krö-

 


 

 

tenlose Junge, doch diesmal war ein Mädchen bei ihm. Sie trug schon jetzt ihren neuen Hogwarts-Umhang.

»Hat jemand eine Kröte gesehen? Neville hat seine ver- loren«, sagte sie mit gebieterischer Stimme. Sie hatte einen üppigen braunen Haarschopf und recht lange Vorderzähne.

»Wir haben ihm schon gesagt, dass wir sie nicht gesehen haben«, erklärte Ron. Doch das Mädchen hörte nicht zu, sondern betrachtete den Zauberstab in seiner Hand.

»Aha, du bist gerade am Zaubern? Dann lass mal sehen.« Sie setzte sich. Ron sah verlegen aus.

»Ähm - na gut.« Er räusperte sich.

»Eidotter, Gänsekraut und Sonnenschein, Gelb soll diese fette Ratte sein.«

Er wedelte mit dem Zauberstab durch die Luft, doch nichts passierte. Krätze blieb bei seiner grauen Farbe und schlief munter weiter.

»Bist du sicher, dass das ein richtiger Zauberspruch ist?«, sagte das Mädchen. »Jedenfalls ist er nicht besonders gut. Ich hab selbst ein paar einfache Sprüche probiert, nur zum Üben, und bei mir hat's immer geklappt. Keiner in meiner Familie ist magisch, es war ja so eine Überraschung, als ich meinen Brief bekommen hab, aber ich hab mich unglaublich darüber gefreut, es ist nun einmal die beste Schule für Zauberei, die es gibt, wie ich gehört hab - ich hab natürlich alle unsere Schulbücher auswendig gelernt, ich hoffe nur, das reicht. Übrigens, ich bin Hermine Granger, und wer seid ihr?«

Das alles sprudelte in atemberaubender Geschwindigkeit aus ihr heraus.

Harry sah Ron an und war erleichtert, in seinem verblüfften Gesicht ablesen zu können, dass auch er nicht alle Schulbücher auswendig gelernt hatte.

 


 

 

»Ich bin Ron Weasley«, murmelte Ron.

»Harry Potter«, sagte Harry.

»Ach tatsächlich?«, sagte Hermine. »Natürlich weiß ich alles über dich, ich hab noch ein paar andere Bücher, als Hintergrundlektüre, und du stehst in der Geschichte der mo- dernen Magie, im Aufstieg und Niedergang der dunklen Künste und in der Großen Chronik der Zauberei des zwanzigstenjahr- hunderts.«

»Nicht zu fassen«, sagte Harry, etwas schwurbelig im Kopf

»Meine Güte, hast du das nicht gewusst, ich jedenfalls hätte alles über mich rausgefunden, wenn ich du gewesen wäre«, sagte Hermine. »Wisst ihr eigentlich schon, in welches Haus ihr kommt? Ich hab herumgefragt und hoffentlich komme ich nach Gryffindor, da hört man das Beste, es heißt, Dumbledore selber war dort, aber ich denke, Ravenclaw wär auch nicht schlecht ... Gut denn, wir suchen jetzt besser weiter nach Nevilles Kröte. Übrigens, ihr beide solltet euch lieber umziehen, ich glaube, wir sind bald da.«

Den krötenlosen Jungen im Schlepptau zog sie von dannen.

»Egal, in welches Haus ich komme, Hauptsache, die ist woanders«, sagte Ron. Er warf seinen Zauberstab in den Koffer zurück. »Blöder Spruch, ich hab ihn von George. Wette, er hat gewusst, dass es ein Blindgänger ist.«

»In welchem Haus sind deine Brüder?«, fragte Harry.

»Gryffindor«, sagte Ron. Wieder schienen ihn düstere Gedanken gefangen zu nehmen. »Mum und Dad waren auch dort. Ich weiß nicht, was sie sagen werden, wenn ich woanders hinkomme. Ravenclaw wäre sicher nicht allzu schlecht, aber stell dir vor, sie stecken mich nach Slytherin.«

 


 

 

»Das ist das Haus, in dem Vol-, ich meine, Du-weißt- schon-wer war?«

»Ja«, sagte Ron. Er ließ sich mit trübseliger Miene in seinen Sitz zurückfallen.

»Weißt du was, mir kommen die Spitzen von Krätzes Schnurrhaaren doch etwas heller vor«, sagte Harry, um Ron abzulenken. »Und was machen jetzt eigentlich deine älteren Brüder, wo sie aus der Schule sind?«

Harry war neugierig, was ein Zauberer wohl nach der Schule anstellen mochte.

»Charlie ist in Rumänien und erforscht Drachen und Bill ist in Afrika und erledigt etwas für Gringotts«, sagte Ron. »Hast du von Gringotts gehört? Es kam ganz groß im Tagespropheten, aber den kriegst du wohl nicht bei den Muggeln: Jemand hat versucht ein Hochsicherheitsverlies auszurauben.«

Harry starrte ihn an. »Wirklich? Und weiter?«

»Nichts, darum hat die Sache ja Schlagzeilen gemacht. Man hat sie nicht erwischt. Mein Dad sagt, es muss ein mächtiger schwarzer Magier gewesen sein, wenn er bei Gringotts eindringen konnte, aber sie glauben nicht, dass sie etwas mitgenommen haben, und das ist das Merkwürdige daran. Natürlich kriegen es alle mit der Angst zu tun, wenn so etwas passiert, es könnte Ja Du-weißt-schon-wer dahinter stecken.«

Harry dachte über diese Neuigkeit nach. Inzwischen spürte er immer ein wenig Angst in sich hochkribbeln, wenn der Name von Du-weißt-schon-wer fiel. Das gehörte wohl dazu, wenn man in die Welt der Zauberer eintrat, doch es war viel einfacher gewesen, »Voldemort« zu sagen, ohne sich deswegen zu beunruhigen.

»Für welche Quidditch-Mannschaft bist du eigentlich?«, fragte Ron.

 


 

 

»Ähm - ich kenne gar keine«, gestand Harry.

»Was?« Ron sah ihn verdutzt an. »Ach, wart's nur ab, das ist das beste Spiel der Welt -« Und dann legte er los und erklärte alles über die vier Bälle und die Positionen der sieben Spieler, beschrieb berühmte Spiele, die er mit seinen Brüdern besucht hatte, und den Besen, den er gerne kaufen würde, wenn er das Geld dazu hätte. Gerade war er dabei, Harry in die raffinierteren Züge des Spiels einzuführen, als die Abteiltür wieder aufging. Doch diesmal waren es weder Neville, der krötenlose Junge, noch Hermine Granger.

Drei Jungen traten ein und Harry erkannte sofort den mittleren von ihnen: Es war der blasse Junge aus Madam Malkins Laden. Er musterte Harry nun viel interessierter als in der Winkelgasse.

»Stimmt es?«, sagte er. »Im ganzen Zug sagen sie, dass Harry Potter in diesem Abteil ist. Also du bist es?«

»Ja«, sagte Harry. Er sah die anderen Jungen an. Beide waren stämmig und wirkten ziemlich fies. Wie sie da zur Rechten und zur Linken des blassenjungen standen, sahen sie aus wie seine Leibwächter.

»Oh, das ist Crabbe und das ist Goyle«, bemerkte der blasse Junge lässig, als er Harrys Blick folgte. »Und mein Name ist Malfoy. Draco Malfoy.«

Von Ron kam ein leichtes Husten, das sich anhörte wie ein verdruckstes Kichern.

Draco Malfoy sah ihn an.

»Meinst wohl, mein Name ist komisch, was? Wer du bist, muss man ja nicht erst fragen. Mein Vater hat mir gesagt, alle Weasleys haben rotes Haar, Sommersprossen und mehr Kinder, als sie sich leisten können.«

Er wandte sich wieder Harry zu.

»Du wirst bald feststellen, dass einige Zaubererfamillen viel besser sind als andere, Potter. Und du wirst dich doch

 


 

 

nicht etwa mit der falschen Sorte abgeben. Ich könnte dir behilflich sein.«

Er streckte die Hand aus, doch Harry machte keine Anstalten, ihm die seine zu reichen.

»Ich denke, ich kann sehr gut selber entscheiden, wer zur falschen Sorte gehört«, sagte er kühl.

Draco Malfoy wurde nicht rot, doch ein Hauch Rosa erschien auf seinen blassen Wangen.

»Ich an deiner Stelle würde mich vorsehen, Potter«, sagte er langsam. »Wenn du nicht ein wenig höflicher bist, wird es dir genauso ergehen wie deinen Eltern. Die wussten auch nicht, was gut für sie war. Wenn du dich mit Gesindel wie den Weasleys und diesem Hagrid abgibst, wird das auf dich abfärben.«

Harry und Ron erhoben sich. Rons Gesicht war nun so rot wie sein Haar.

»Sag das noch mal«, sagte er.

»Oh, ihr wollt euch mit uns schlagen?«, höhnte Malfoy.

»Außer ihr verschwindet sofort«, sagte Harry, was mutiger klang, als er sich fühlte, denn Crabbe und Goyle waren viel kräftiger als er und Ron.

»Aber uns ist überhaupt nicht nach Gehen zumute, oder, Jungs? Wir haben alles aufgefuttert, was wir hatten, und bei euch gibt's offenbar noch was.«

Goyle griff nach den Schokofröschen neben Ron. Ron machte einen Sprung nach vorn, doch bevor er Goyle auch nur berührt hatte, entfuhr diesem ein fürchterlicher Schrei.

Krätze, die Ratte, baumelte von Goyles Zeigefinger herab, ihre scharfen kleinen Zähne tief in seine Knöchel versenkt - Crabbe und Malfoy wichen zur Seite, als der Jaulende Goyle Krätze weit im Kreis herumschwang. Als Krätze schließlich wegflog und gegen das Fenster klatschte,

 


 

 

verschwanden alle drei auf der Stelle. Vielleicht dachten sie, noch mehr Ratten würden zwischen den Süßigkeiten lauern, oder vielleicht hatten sie Schritte gehört, denn einen Augenblick später trat Hermine Granger ein.

»Was war hier los?«, sagte sie und blickte auf die Na- schereien, die auf dem Boden verstreut lagen. Ron packte Krätze am Schwanz und hob ihn hoch.

»Ich denke, er ist k. o. gegangen«, sagte Ron zu Harry gewandt. Er besah sich Krätze näher. »Nein - doch nicht. Ist wohl wieder eingeschlafen.«

Und so war es.

»Hast du Malfoy schon einmal getroffen?«

Harry erzählte von ihrer Begegnung in der Winkelgasse.

»Ich hab von seiner Familie gehört«, sagte Ron in düsterem Ton. »Sie gehörten zu den Ersten, die auf unsere Seite zurückkehrten, nachdem Du-weißt-schon-wer verschwunden war. Sagten, sie seien verhext worden. Mein Dad glaubt nicht daran. Er sagt, Malfoys Vater brauchte keine Ausrede, um auf die dunkle Seite zu gehen.« Er wandte sich Hermine zu.

»Können wir dir behilflich sein?«

»Ich schlage vor, ihr beeilt euch ein wenig und zieht eure Umhänge an. Ich war gerade vorn beim Lokführer, und er sagt, wir sind gleich da. Ihr habt euch nicht geschlagen, oder? Ihr kriegt noch Schwierigkeiten, bevor wir überhaupt da sind!«

»Krätze hat gekämpft, nicht wir«, sagte Ron und blickte sie finster an. »Würdest du bitte gehen, damit wir uns umziehen können?«

»Schon gut. Ich bin nur reingekommen, weil sich die Leute draußen einfach kindisch aufführen und ständig die Gänge auf und ab rennen«, sagte Hermine hochnäsig. »Und übrigens, du hast Dreck an der Nase, weißt du das?«

 


 

 

Unter dem zornfunkelnden Blick von Ron ging sie schließlich hinaus.

Harry sah aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel. Unter einem tief purpurrot gefärbten Himmel konnte er noch Berge und Wälder erkennen. Der Zug schien langsamer zu werden.

Die beiden legten die Jacken ab und zogen ihre langen schwarzen Umhänge an. Rons Umhang war ein wenig zu kurz für ihn, man konnte seine Trainingshosen darunter sehen.

Eine Stimme hallte durch den Zug: »In fünf Minuten kommen wir in Hogwarts an. Bitte lassen Sie Ihr Gepäck im Zug, es wird für Sie zur Schule gebracht.«

Harry spürte ein Ziehen im Magen und Ron sah unter seinen Sommersprossen ganz blass aus. Sie stopften sich den letzten Rest Süßigkeiten in die Taschen und traten hinaus auf den Gang, der schon voller Schüler war.

 

Der Zug bremste und kam zum Stillstand. Alles drängelte sich durch die Tür und hinaus auf einen kleinen, dunklen Bahnsteig. Harry zitterte in der kalten Abendluft. Plötzlich erhob sich über ihren Köpfen der Schein einer Lampe und Harry hörte eine vertraute Stimme: »Erstklässler! Erstklässler hier rüber! Alles klar, Harry?«

Hagrids großes, haariges Gesicht strahlte ihm über das Meer von Köpfen hinweg entgegen.

»Nu mal los, mir nach - noch mehr Erstklässler da? Passt auf, wo ihr hintretet! Erstklässler mir nach!«

Rutschend und stolpernd folgten sie Hagrid einen steilen, schmalen Pfad hinunter. Um sie her war es so dunkel, dass Harry vermutete, zu beiden Seiten müssten dichte Bäume stehen. Kaum jemand sprach ein Wort. Neville, der Junge, der immer seine Kröte verlor, schniefte hin und wieder.

 


 

 

»Augenblick noch, und ihr seht zum ersten Mal in eurem Leben Hogwarts«, rief Hagrid über die Schulter, »nur noch um diese Biegung hier.«

Es gab ein lautes »Oooooh!«.

Der enge Pfad war plötzlich zu Ende und sie standen am Ufer eines großen schwarzen Sees. Drüben auf der anderen Seite, auf der Spitze eines hohen Berges, die Fenster funkelnd im rabenschwarzen Himmel, thronte ein gewaltiges Schloss mit vielen Zinnen und Türmen.

»Nicht mehr als vier in einem Boot!«, rief Hagrid und deutete auf eine Flotte kleiner Boote, die am Ufer dümpelten. Harry und Ron sprangen in eines der Boote und ihnen hinterher Neville und Hermine.

»Alle drin?«, rief Hagrid, der ein Boot für sich allein hatte.

»Nun denn - VORWÄRTS!«

Die kleinen Boote setzten sich gleichzeitig in Bewegung und glitten über den spiegelglatten See. Alle schwiegen und starrten hinauf zu dem großen Schloss. Es thronte dort oben, während sie sich dem Felsen näherten, auf dem es gebaut war.

»Köpfe runter«, rief Hagrid, als die ersten Boote den Felsen erreichten; sie duckten sich, und die kleinen Boote schienen durch einen Vorhang aus Efeu zu schweben, der sich direkt vor dem Felsen auftat. Sie glitten durch einen dunklen Tunnel, der sie anscheinend in die Tiefe unterhalb des Schlosses führte, bis sie eine Art unterirdischen Hafen erreichten und aus den Booten kletterten.

»He, du da! Ist das deine Kröte?«, rief Hagrid, der die Boote musterte, während die Kinder ausstiegen.

»Trevor!«, schrie Neville selig vor Glück und streckte die Hände aus. Dann stiefelten sie hinter Hagrids Lampe einen Felsgang empor und kamen schließlich auf einer weichen, feuchten Wiese im Schatten des Schlosses heraus.

 


 

 

Sie gingen eine lange Steintreppe hoch und versammelten sich vor dem riesigen Eichentor des Schlosses.

»Alle da? Du da, hast noch deine Kröte?«

Hagrid hob seine gewaltige Faust und klopfte dreimal an das Schlosstor.

 


 

 

Der Sprechende Hut

Sogleich öffnete sich das Tor. Vor ihnen stand eine große Hexe mit schwarzen Haaren und einem smaragdgrünen Umhang. Sie hatte ein strenges Gesicht, und Harrys erster Gedanke war, dass mit ihr wohl nicht gut Kirschen essen wäre.

»Die Erstklässler, Professor McGonagall«, sagte Hagrid.

»Danke, Hagnid. Ich nehm sie dir ab.«

Sie zog die Torflügel weit auf. Die Eingangshalle war so groß, dass das ganze Haus der Dursleys hineingepasst hätte. Wie bei Gringotts beleuchtete das flackernde Licht von Fackeln die Steinwände, die Decke war so hoch, dass man sie nicht mehr erkennen konnte, und vor ihnen führte eine gewaltige Marmortreppe in die oberen Stockwerke.

Sie folgten Professor McGonagall durch die gepflasterte Halle. Aus einem Gang zur Rechten konnte Harry das Summen hunderter von Stimmen hören - die anderen Schüler mussten schon da sein -, doch Professor McGonagall führte die Erstklässler in eine kleine, leere Kammer neben der Halle. Sie drängten sich hinein und standen dort viel enger beieinander, als sie es normalerweise getan hätten. Aufgeregt blickten sie sich um.

»Willkommen in Hogwarts«, sagte Professor McGonagall.

»Das Bankett zur Eröffnung des Schuljahrs beginnt in Kürze, doch bevor ihr eure Plätze in der Großen Halle einnehmt, werden wir feststellen, in welche Häuser ihr kommt. Das ist eine sehr wichtige Zeremonie, denn das

 


 

 

Haus ist gleichsam eure Familie in Hogwarts. Ihr habt ge- meinsam Unterricht, ihr schlaft im Schlafsaal eures Hauses und verbringt eure Freizeit im Gemeinschaftsraum.

Die vier Häuser heißen Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin. Jedes Haus hat seine eigene, ehrenvolle Geschichte und jedes hat bedeutende Hexen und Zauberer hervorgebracht. Während eurer Zeit in Hogwarts holt ihr mit euren großen Leistungen Punkte für das Haus, doch wenn ihr die Regeln verletzt, werden eurem Haus Punkte abgezogen. Am Ende des Jahres erhält das Haus mit den meisten Punkten den Hauspokal, eine große Auszeichnung. Ich hoffe, jeder von euch ist ein Gewinn für das Haus, in welches er kommen wird.

Die Einführungsfeier, an der auch die anderen Schüler teilnehmen, beginnt in wenigen Minuten. Ich schlage vor, dass ihr die Zeit nutzt und euch beim Warten so gut wie möglich zurechtmacht.«

Ihre Augen ruhten kurz auf Nevilles Umhang, der unter seinem linken Ohr festgemacht war, und auf Rons verschmierter Nase. Harry mühte sich nervös, sein Haar zu glätten.

»Ich komme zurück, sobald alles für euch vorbereitet ist«, sagte Professor McGonagall. »Bitte bleibt ruhig, während ihr wartet.«

Sie verließ die Kammer. Harry schluckte.

»Wie legen sie denn fest, in welche Häuser wir kommen?«, fragte er Ron.

»Es ist eine Art Prüfung, glaube ich. Fred meinte, es tut sehr weh, aber ich glaube, das war nur ein Witz.«

Harrys Herz fing fürchterlich an zu pochen. Eine Prüfung? Vor der ganzen Schule? Aber er konnte doch noch gar nicht zaubern - was um Himmels willen würde er tun müssen? Als sie hier angekommen waren, hatte er mit

 


 

 

so etwas nicht gerechnet. Ängstlich blickte er sich um und sah, dass auch alle anderen entsetzt schauten. Kaum Jemand sagte etwas, außer Hermine Granger. Hastig flüsterte sie alle Zaubersprüche vor sich hin, die sie gelernt hatte, und fragte sich, welchen sie wohl brauchen würde. Harry versuchte angestrengt wegzuhören. Noch mie war er so nervös gewesen. Auch damals nicht, als er einen blauen Brief zu den Dursleys heimbringen musste, in dem es hieß, dass er auf unbekannte Weise die Perücke seines Lehrers blau gefärbt habe. Er blickte unablässig auf die Tür. Jeden Augenblick konnte Professor McGonagall zurückkommen und ihn in den Untergang führen.

Dann geschah etwas, das ihn vor Schreck einen halben Meter in die Luft springen ließ - mehrere Schüler hinter ihm begannen zu schreien.

»Was zum -?«

Er hielt den Atem an. Die andern um ihn her ebenfalls. Soeben waren etwa zwanzig Geister durch die rückwärtige Wand hereingeschwebt. Perlweiß und fast durchsichtig glitten sie durch den Raum, wobei sie sich unterhielten und den Erstklässlern nur gelegentlich einen Blick zuwarfen. Sie schienen sich zu streiten. Einer, der aussah wie ein fetter Mönch, sagte:

»Vergeben und vergessen, würd ich sagen, wir sollten ihm eine zweite Chance geben.«

»Mein lieber Bruder, haben wir Peeves nicht alle Chancen gegeben, die ihm zustehen? Er bringt uns alle in Verruf, und du weißt, er ist nicht einmal ein echter Geist - ach du meine Güte, was macht ihr denn alle hier?«

Ein Geist, der eine Halskrause und Strumpfhosen trug, hatte plötzlich die Erstklässler bemerkt.

Keiner antwortete.

»Neue Schüler«, sagte der fette Mönch und lächelte in die Runde. »Werdet gleich ausgewählt, nicht wahr?«

 


 

 

Ein paar nickten stumm.

»Hoffe, wir sehen uns in Hufflepuff!«, sagte der Mönch.

»Mein altes Haus, wisst ihr.«

»Verzieht euch Jetzt«, sagte eine strenge Stimme. »Die Einführungsfeler beginnt.«

Professor McGonagall war zurückgekommen. Die Geister schwebten einer nach dem andern durch die Wand ge- genüber.

»Und ihr stellt euch der Reihe nach auf«, wies Professor McGonagall die Erstklässler an, »und folgt mir.«

Harry, dessen Beine sich anfühlten, als seien sie aus Blei, reihte sich hinter einem Jungen mit rotblondem Haar ein, Ron stellte sich hinter ihn, und im Gänsemarsch verließen sie die Kammer, gingen zurück durch die Eingangshalle und betraten durch eine Doppeltür die Große Halle.

Harry hatte von einem so fremdartigen und wundervollen Ort noch nicht einmal geträumt. Tausende und abertausende von Kerzen erleuchteten ihn, über den vier langen Tischen schwebend, an denen die anderen Schüler saßen. Die Tische waren mit schimmernden Goldtellern und -kelchen gedeckt. Am anderen Ende der Halle stand noch ein langer Tisch, an dem die Lehrer saßen. Dorthin führte Professor McGonagall die Erstklässler, so dass sie schließlich mit den Rücken zu den Lehrern in einer Reihe vor den anderen Schülern standen. Hunderte von Gesichtern starrten sie an und sahen aus wie fahle Laternen im flackernden Kerzenlicht. Die Geister, zwischen den Schülern verstreut, glänzten dunstig silbern. Um den starrenden Blicken auszuweichen, wandte Harry das Gesicht nach oben und sah eine samtschwarze, mit Sternen übersäte Decke. Er hörte Hermine flüstern: »Sie ist so verzaubert, dass sie wie der Himmel draußen aussieht, ich hab darüber in der Geschichte Hogwarts' gelesen.«

 


 

 

Es war schwer zu glauben, dass es hier überhaupt eine Decke geben sollte und dass die Große Halle sich nicht einfach zum Himmel hin öffnete.

Harry wandte den Blick rasch wieder nach unten, als Professor McGonagall schweigend einen vierbeinigen Stuhl vor die Erstklässler stellte. Auf den Stuhl legte sie einen Spitzhut, wie ihn Zauberer benutzen. Es war ein verschlissener, hie und da geflickter und ziemlich schmutziger Hut. Tante Petunia wäre er nicht ins Haus gekommen.

Vielleicht mussten sie versuchen einen Hasen daraus her- vorzuzaubern, schoss es Harry durch den Kopf, darauf schien es hinauszulaufen. Er bemerkte, dass inzwischen aller Augen auf den Hut gerichtet waren, und so folgte er dem Blick der andern. Ein paar Herzschläge lang herrschte vollkommenes Schweigen. Dann begann der Spitzhut zu wackeln. Ein Riss nahe der Krempe tat sich auf, so weit wie ein Mund, und der Spitzhut begann zu singen:

 

Ihr denkt, ich bin ein alter Hut,

mein Aussehen ist auch gar nicht gut. Dafür bin ich der schlauste aller Hüte,

und ist's nicht wahr, so fress ich mich, du meine Güte!

Alle Zylinder und schicken Kappen

sind gegen mich doch nur Jammerlappen! Ich weiß in Hogwarts am besten Bescheid und bin fürieden Schädel bereit.

Setzt mich nur auf, ich sag euch genau, wohin ihr gehört - denn ich bin schlau.

Vielleicht seid ihr Gryffindors, sagt euer alter Hut, denn dort regieren, wie man weiß, Tapferkeit und Mut. In Hufflepuff dagegen ist man gerecht und treu,

man hilft dem andern, wo man kann, und hat vor Arbeit keine Scheu.

 


 

 

Bist du geschwind im Denken, gelehrsam auch und weise,

dann machst du dich nach Ravenclaw, so wett ich, auf die Reise. In Slytherin weiß man noch List und Tücke zu verbinden,

doch dafür wirst du hier noch echte Freunde finden. Nun los, so setzt mich auf, nur Mut,

habt nur Vertrauen zum Sprechenden Hut!

 

Als der Hut sein Lied beendet hatte, brach in der Halle ein Beifallssturm los. Er verneigte sich vor Jedem der vier Tische und verstummte dann.

»Wir müssen also nur den Hut aufsetzen!«, flüsterte Ron Harry zu. »Ich bring Fred um, er hat große Töne gespuckt - von wegen Ringkampf mit einem Troll.«

Harry lächelte müde. Ja, den Hut anprobieren war viel besser als einen Zauberspruch aufsagen zu müssen, doch es wäre ihm lieber gewesen, wenn nicht alle zugeschaut hätten. Der Hut stellte offenbar eine ganze Menge Fragen; Harry fühlte sich im Augenblick weder mutig noch schlagfertig, noch überhaupt zu irgendetwas aufgelegt. Wenn der Hut nur ein Haus für solche Schüler erwähnt hätte, die sich ein wenig angematscht fühlten, das wäre das Richtige für ihn.

Professor McGonagall trat vor, in den Händen eine lange Pergamentrolle.

»Wenn ich euch aufrufe, setzt ihr den Hut auf und nehmt auf dem Stuhl Platz, damit euer Haus bestimmt werden kann«, sagte sie. »Abbott, Hannah«

Ein Mädchen mit rosa Gesicht und blonden Zöpfen stolperte aus der Reihe der Neuen hervor, setzte den Hut auf, der ihr sogleich über die Augen rutschte, und ließ sich auf dem Stuhl nieder. Einen Moment lang geschah nichts -

»HUFFLEPUFF!«, rief der Hut.

 


 

 

Der Tisch zur Rechten johlte und klatschte, als Hannah aufstand und sich bei den Hufflepuffs niederließ. Harry sah, wie der Geist des fetten Mönchs ihr fröhlich zuwinkte.

»Bones, Susan!«

»HUFFLEPUFF!«, rief der Hut abermals, und Susan schlurfte los, um sich neben Hannah zu setzen.

»Boot, Terry!«

»RAVENCLAW!«

Diesmal klatschte der zweite Tisch von links; mehrere Ravenclaws standen auf, um Terry, dem Neuen, die Hand zu schütteln.

»Brocklehurst, Mandy« kam ebenfalls nach Ravenclaw, doch

»Brown, Lavender« wurde der erste neue Gryffindor, und der Tisch ganz links brach in Jubelrufe aus. Harry konnte sehen, wie Rons Zwillingsbrüder pfiffen.

»Bulstrode, Millicent« schließlich wurde eine Slytherin. Vielleicht bildete Harry es sich nur ein, nach all dem, was er über Slytherin gehört hatte, aber sie sahen doch alle recht unangenehm aus.

Ihm war allmählich entschieden übel. Er erinnerte sich, wie in seiner alten Schule die Mannschaften zusammengestellt wurden. Immer war er der Letzte gewesen, den man aufrief, nicht weil er schlecht in Sport gewesen wäre, sondern weil keiner Dudley auf den Gedanken bringen wollte, dass man ihn vielleicht mochte.

»Finch-Fletchley, Justin!«

»HUFFLEPUFF!«

Bei den einen, bemerkte Harry, verkündete der Hut auf der Stelle das Haus, bei anderen wiederum brauchte er ein Welle, um sich zu entscheiden. »Finnigan, Seamus«, der rotblonde Junge vor Harry in der Schlange, saß fast eine Minute lang auf dem Stuhl, bevor der Hut verkündete, er sei ein Gryffindor.


 

 

»Granger, Hermine!«

Hermine ging eilig auf den Stuhl zu und packte sich den Hut begierig auf den Kopf,

»GRYFFINDOR!«, rief der Hut. Ron stöhnte.

Plötzlich überfiel Harry ein schrecklicher Gedanke, so plötzlich, wie es Gedanken an sich haben, wenn man aufgeregt ist. Was, wenn er gar nicht gewählt würde? Was, wenn er, den Hut auf dem Kopf, eine Ewigkeit lang nur dasäße, bis Professor McGonagall ihm den Hut vom Kopf reißen und erklären würde, offenbar sei ein Irrtum geschehen und er solle doch besser wieder in den Zug steigen?

Neville Longbottom wurde aufgerufen, der Junge, der ständig seine Kröte verlor. Auf dem Weg zum Stuhl stolperte er und wäre fast gestürzt. Bei Neville brauchte der Hut um sich zu entscheiden. Als er schließlich GRYFFINDOR rief, rannte Neville mit dem Hut auf dem Kopf los, und er musste unter tosendem Gelächter zurücklaufen um ihn »McDougal, Morag« übergeben.

Malfoy stolzierte nach vorn, als sein Name aufgerufen Wurde, und bekam seinen Wunsch sofort erfüllt: Kaum hatte der Hut seinen Kopf berührt, als er schon »SLYTHERIN!« rief.

Malfoy ging hinüber zu seinen Freunden Crabbe und Goyle, offensichtlich zufrieden mit sich selbst.

Nun waren nicht mehr viel Neue übrig.

»Moon« ..., »Nott« ..., »Parkinson« ... , dann die Zwillingsmädchen, »Patil« und »Patil« ... , dann »Perks, Sally- Anne« ... und dann, endlich -

» Potter, Harry! «

Als Harry vortrat, entflammten plötzlich überall in der Halle Feuer, kleine, zischelnde Geflüsterfeuer.

»Potter, hat sie gesagt?«

»Der Harry Potter«


 

 

Das Letzte, was Harry sah, bevor der Hut über seine Augen herabsank, war die Halle voller Menschen, die die Hälse reckten, um ihn gut im Blick zu haben. Im nächsten Moment sah er nur noch das schwarze Innere des Huts. Er wartete.

»Hmm«, sagte eine piepsige Stimme in seinem Ohr.

»Schwierig. Sehr schwierig. Viel Mut, wie ich sehe. Kein schlechter Kopf außerdem. Da ist Begabung, du meine Güteja - und ein kräftiger Durst, sich zu beweisen, nun, das ist interessant

... Nun, wo soll ich dich hinstecken?«

Harry umklammerte die Stuhllehnen und dachte: »Nicht Slytherin, bloß nicht Slytherin.«

»Nicht Slytherin, nein?«, sagte die piepsige Stimme. »Bist du dir sicher? Du könntest groß sein, weißt du, es ist alles da in deinem Kopf und Slytherin wird dir auf dem Weg zur Größe helfen. Kein Zweifel - nein? Nun, wenn du dir sicher bist - dann besser nach GRYFFINDOR!«

Harry hörte, wie der Hut das letzte Wort laut in die Halle rief, Er nahm den Hut ab und ging mit zittrigen Knien hinüber zum Tisch der Gryffindors. Er war so erleichtert, überhaupt aufgerufen worden und nicht nach Slytherin gekommen zu sein, dass er kaum bemerkte, dass er den lautesten Beifall überhaupt bekam. Percy der Vertrauensschüler stand auf und schüttelte ihm begeistert die Hand, während die Weasley-Zwillinge riefen: »Wir haben Potter! Wir haben Potter!« Harry setzte sich an einen Platz gegenüber dem Geist mit der Halskrause, den er schon vorhin gesehen hatte. Der Geist tätschelte ihm den Arm, und Harry hatte plötzlich das schreckliche Gefühl, den Arm gerade in einen Eimer voll eiskalten Wassers zu tauchen.

Er hatte jetzt eine gute Aussicht auf den Hohen Tisch der Lehrer. Am einen Ende, ihm am nächsten, saß Hagrid, der seinen Blick erwiderte und mit dem Daumen nach oben

 


 

 

zeigte. Harry grinste zurück. Und dort, in der Mitte des Hohen Tischs, auf einem großen goldenen Stuhl, saß Albus Dumbledore. Harry erkannte ihn von der Karte wieder, die er im Zug aus dem Schokofrosch geholt hatte. Dumbledores silbernes Haar war das Einzige in der ganzen Halle, was so hell leuchtete wie die Geister. Harry erkannte auch Professor Quirrell, den nervösen Jungen Mann aus dem Tropfenden Kessel. Mit seinem großen purpurroten Turban sah er sehr eigenartig aus.

Jetzt waren nur noch drei Schüler übrig, deren Haus bestimmt werden musste. »Turpin, Lisa« wurde eine Ravenclaw. Dann war Ron an der Reihe. Mittlerweile war er blassgrün im Gesicht. Harry kreuzte die Finger unter dem Tisch, und eine Sekunde später rief der Hut »GRYFFINDOR«

Harry klatschte wie die andern am Tisch laut Beifall, als Ron sich auf den Stuhl neben ihm fallen ließ.

» Gut gemacht, Ron, hervorragend«, sagte Percy Weasley wichtigtuerisch über Harrys Kopf hinweg, während »Zabini, Blaise« zu einer Slytherin gemacht wurde. Professor McGonagall rollte ihr Pergament zusammen und trug den Sprechenden Hut fort.

Harry blickte hinab auf seinen leeren Goldteller. jetzt erst überkam ihn auf einmal gewaltiger Hunger. Die Kürbispasteten schien er schon vor einer Ewigkeit verspeist zu haben.

Albus Dumbledore war aufgestanden. Mit einem strahlenden Lächeln blickte er in die Runde der Schüler, die Arme weit ausgebreitet, als ob nichts ihm mehr Freude machen könnte, als sie alle hier versammelt zu sehen.

»Willkommen! «, rief er. »Willkommen zu einem neuen Jahr in Hogwarts! Bevor wir mit unserem Bankett beginnen, möchte ich ein paar Worte sagen. Und hier

 


 

 

sind sie: Schwachkopf! Schwabbelspeck! K


Date: 2015-12-11; view: 684


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