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Lieben heiBt loslassen können

Vater hatte nicht viele Grundsätze, aber einer seiner wenigen war, dass man nett sein müsse zu Tieren. Er war nie übertrieben freundlich zu ihnen, und die Tiere gaben sich eigentlich auch keine besondere Mühe; es war mehr eine Art gegen­seitigen Geltenlassens: Die Tiere und Vater maBen sich mit skeptischen Blicken, zuckten die Schulter und gaben zu erkennen, man könne es ja einmal miteinander versuchen.

Das erste Tier, das Vater mir schenkte, ist ein Laubfrosch gewesen, der Theodor hieB. Theo war nackt und hellgrün, und räusperte sich jemand im Zimmer, dann quackte er, und das klang, als würden in einem Blechsieb Erbsen durcheinander geschüttelt. Vater ahmte sein Quaken aber auch nach, und bald beherrschte er es derart vollkommen, dass sich die beiden, besonders vorm Einschlafen, oft regel­recht unterhielten.

Ich mochte Theo sehr gern, er war so wunderbar glatt, und vor allem konnte er mit Hilfe seiner Saugnäpfe an der Scheibe kleben, fester noch als ein Kaugummi;

nur sein Kehlsack vibrierte dann sanft, und in seinen goldenen Augen spiegelte sich der Gazedeckel des Einmachglases gewölbt wie ein Sternhimmel wider.

Die Fliegen, die Theo verzehrte, fingen wir an der sonnendurchwärmten Fried­hofsmauer für ihn; aber manchmal besorgte ihm Vater auch einen KohlweiBling. Hatte Theo ihn endlich geschluckt, wirkte er um den Kopf herum wie ein Engel.

Die jungfräulich weiBen Flügel standen ihm oft noch eine Viertelstunde danach aus dem Maul, und Theo sah immer unglaublich erstaunt, allerdings auch ebenso unschuldig drein, wenn er mit einem seiner Vorderfüsse versuchte, die Flügel bei­seite zu wischen. Einmal hatte ich Angst, weil Vater abends nicht kam; da nahm ich das Einmachglas, in dem Theo saB, mit ins Bett, um Gesellschaft zu haben.

Am Morgen darauf war Theo erstickt.

Vater schob es den Engeln in die Schuhe. „Sie haben sich wegen der KohlweiB­ling gerächt", sagte er.

„Aber es hätte doch genügt", schluchzte ich, „sie sagen es einem!"

„Lehr du mich die Engel kennen", sagte Vater verbissen.

Trotzdem, es hat lange gedauert, ehe ich wieder einem Frosch in die Augen sehen konnte, ohne zu schlucken.

Kaum jedoch war der Trauermonat für Theo um, da kam Vater mit einem Igel nach Hause. Er hatte ihn wohl schon vorher gefangen, doch aus Pietätsgründen erst noch im Museum in seinem Arbeitszimmer versteckt. Wir nannte ihn Herr Kuwalek, und er wohnte im untersten Fach von Vaters Schreibtisch, zu dem ein schräggestelltes Hackbrett hinaufführte.

Herr Kuwalek aB Mistkäfer, Cremeschokolade, Schuhwichse, Goulasch, Brief­marken, Regenwürmer, Pelikanol, Küchenschaben, entkernte Pflaumen, weiBe Mäuse und einmal auch einen grossen Radiergummi, allerdings einen weichen von Faber. Am liebsten trank er Milch und schalgewordenes Bier, doch auch kalten Bohnenkaffee schlürfte er gern.

Tags schlief er; nachts raste er rasselnd und schnaufend durchs Zimmer und auf den Balkon, wo wir ihm mit Rasensoden, Wegerichstauden und Moos ein Stück Wiese nachgemacht hatten. Dass Herr Kuwalek Flöhe hatte, merkten wir erst verhältnismässig spät. Sofort meldete Vater sich krank, und wir bereiteten eine milde Lysollauge zu; in der lieBen wir Herrn Kuwalek, sorgsam darauf bedacht, dass ihm nichts in den Mund kam, dann schwimmen. Das Gesicht, das er hierbei machte, vergesse ich nie. Bis dahin war er eigentlich leidlich gut auf uns zu sprechen gewesen, und Blut wurst frass er Vater zum Beispiel schon aus der Hand. Doch von nun an war mit jeder Vertraulichkeit Schluss. Er würdigte uns, obwohl doch all seiner Flöhe ent­ledigt, jetzt auch nicht mehr des flüchtigsten Blicks. Nach auBen hin tat er zwar so, als wäre nichts weiter passiert, aber wir merkten sehr wohl, diese Lysollaugen­affäre hatte sein Vertrauen zu uns endgültig erschüttert. Was blieb uns übrig, als ihn wieder hinaus an seinen Feldrain zu bringen? Wir mochten uns nicht an etwas amüsieren, das sich nicht auch amüsierte.



Ein andermal kam Vater mit einer jungen Schleiereule nach Hause. Wir nann­ten sie Hulda und klemmten ihr einen Besenstiel zwischen zwei Bücherregale. Dort saB sie im Schatten ihrer Verachtung und blickte durch uns hindurch. Hulda frass kleingeschnittenes Fleisch, das man ihr mit Sand oder Federn be­streuen musste, und nachts balancierte sie flügelschlagend und schnabelknappend auf dem Schreibtisch umher und versuchte im Mondschein, die andere Schleier­eule kennenzulernen, die sie aus Vaters Rasierspiegel ansah.

Frieda, Vaters Freundin, wurde von Hulda gehasst: jedesmal, wenn sie kam, sauste ihr Hulda ins Haar.

Vater sagte, eine bessere Charakterprobe sei gar nicht denkbar; und wirklich hat uns Frieda, solange wir Hulda hatten, dann auch nicht mehr besucht.

Wir lieBen immer das Fenster auf, denn Hulda sollte Gast und nicht Gefangene sein; doch irgendwie muss es ihr auch wieder bei uns gefallen haben. Denn jedesmal, wenn der Morgen dämmerte, saB sie, ohne von dem offenen Fenster angeregt worden zu sein, pickiert und mit leicht heruntergezogenen Schnabellefzen auf ihrem Besenstiel, und unter ihr war in ätzend weiBen Hieroglyphen der Ausdruck ihrer Verachtung zu lesen.

Als Hulda annhernd ein halbes Jahr alt war, packte Vater sie ein, fuhr drei Stunden weit weg und lieB sie dann fliegen.

Am Morgen darauf saß sie wieder pikiert und mit leicht heruntergezogenen Schnabellefzen auf ihrem Besenstiel.

Das rührte uns sehr. Doch wir mussten hart bleiben jetzt; sie sollte ja lernen, sich ihre Beute allein zu besorgen. Vier Tage lang strafte sie unsere hartäckige so Weigerung, ihr etwas zu essen zu geben, mit ihren zornig hingeklexten Ausrufe­zeichen. In der fünften Nacht warf sie erbittert das Tintenfass um und flog weg.

Vater hatte ihr einen Aluminiumring der Vogelwarte ums Bein geknipst. Sechs Jahre später bekam er ihn von der Vogelwarte zurück. Die Leute da hatten ihn aus einem Dorf in Schweden erhalten. Dort war der Blitz in eine Kapelle gefahren; unter den verkohlten Messgewändern und Fahnen, hieB es, habe der Küster auch ein Vogelgerippe gefunden, und das hätte diesen Ring hier getragen.

Aber das aufregendste Wesen, das wir jemals gehalten haben, ist wohl doch Lilith gewesen.

Lilith war eine Kreuzotter. Wir kamen im Spandauer Stadtforst gerade dazu, wie Pilzsucher sie totschlagen wollten.

Vater bugsierte sie in eine Papiertüte, und zu Hause richteten wir ihr unser altes Terrarium ein, hängten eine Solluxlampe darüber und setzten Lilith hinein.

Da sie noch ihre Giftzähne hatte, behandelten wir sie mit grossem Respekt. Das war nicht immer ganz einfach, denn um ihr zu fressen zu geben, musste man ja notgedrungen auch den Terrariendeckel anheben. Doch sie schien behalten zu haben, dass wir ihr das Leben gerettet hatten; sie rührte sich kaum. Tagsüber lag sie meistens im wärmenden Schein ihrer künstlichen Sonne und züngelte trag; nachts allerdings fing sie an, lebendig zu werden. Pausenlos kroch sie in ihren Schling­pflanzen herum, und wenn man den Atem anhielt, konnte man hören, wie ihr Leib an den Blättern entlangglitt.

Wir hatten nur ein Zimmer und einen Balkon, denn wir wohnten möbiliert; und als wir eines Morgens einmal erwachten, da war der Deckel von Liliths Terra­rium verrutscht, und Lilith war weg.

Sechs Stunden so etwa lagen wir steif wie die Mumien. Vater wusste mit Schlangen ein bisschen Bescheid. „Das erste", flüsterte er, ohne die Lippen zu be­wegen, „was sie in so einem Fall wie unsrem hier tun: sie suchen die Bettwärme auf." Endlich gegen Mittag, sahen wir sie. Sie kam vom Balkon, wo sie sich ein wenig gesonnt haben mochte. Zynisch züngelnd schob sie sich zwischen unsren Betten hindurch, kroch an dem Tischchen hoch, auf dem das Terrarium stand, no stieg mit tänzelndem Kopf über die Kante und glitt dann lachend hinein.

Ich war damals erst acht; aber an diesem Tag stiftete mir Vater ein Bier.

Eines Morgens war in der Küche die Wurst angeknabbert. „Aha", sagte Vater. Wir liehen uns eine Käfigfalle und legten eine Speckgriebe rein, und schon am nächsten Vormittag hatte sich die Übeltäterin gefangen. Es war die zierlichste Maus, die sich nur vorstellen lässt.

 

 

Wir tauften sie Mimi, und da wir gerade das Terrarium freihatten, richteten wir es Mimi mit Sägespänen, einer Zigarrenkiste, mit Milch und einem Brotkanten ein.

In wenigen Wochen hatte sich Mimi zum grössten Mäuseriesen aller Zeiten entwickelt; und abermals einige Wochen darauf mussten wir zögernd erkennen; Mimi war keine Maus, sondern eine ausgewachsene Ratte.

Wir hielten ihr aber trotzdem die Treue. Nur wenn Besuch kam, oder wenn Frieda erschien, schämten wir uns Mimis ein wenig, und Vater hing dann immer unauffällig eine Decke oder sein Jackett übers Terrarium. Sonst, wie gesagt, haben wir aber zu ihr gehalten, und wäre sie nicht eines Nachts mit einem reichlich ordinären Pfiff aus dem Terrarium gesprungen, wir hätten sie bis ins biblischste Alter umsorgt.

„Aber wahrscheinlich", sagte Vater, „ist gerade das der Anlass gewesen, dass sie sich selbständig machte; in seiner Jugend schon der Altersversorgung sicher zu sein — das kann leicht aufsässig machen."

Da war Heinrich ja anders.

Heinrich stammte aus dem Oranke-See und ist ein Stichling gewesen. Wir hat­ten ihn gute anderthalb Jahre, und er war schlieBlich so zahm, dass man nur an die Aquariumscheibe zu klopfen brauchte, und er kam angeschwommen. Einmal setzte ihm Vater eine Stichlingsdame dazu, die wir Lukretia tauften. Heinrich war so auBer sich vor Freude über Lukretias Besuch, dass er wie wahn­sinnig im Bassin hin und her schoss und einen Satz tat und raussprang.Wir suchten ihn fast eine Dreiviertelstunde im Zimmer.Endlich fanden wir ihn. Er lag, völlig in Staub eingerollt, in einer Dielenritze und rührte sich nicht.

Vater machte gleich eine Streichholzschachtel leer und polsterte sie mit Watte und wollte Heinrich hineinlegen und ihn beisetzen gehen. Aber ich bestand dar­auf, ihn, sozusagen probehalber, noch einmal ins Aquarium zu setzen.

Und richtig: Heinrich entwölkte sich, drehte sich von der Rücken in die Bauchlage um, schnappte zögernd nach Luft, schrieb mit der Schwanzspitze einen graziösen Schnörkel ins Wasser und lieB sich beseligt neben Lukretia auf den Sandboden sinken.

Aus Dankbarkeit für seine Errettung haben wir den beiden noch am selben Tag die Freiheit wiedergegeben. Nein, es fiel uns nicht leicht, uns von Heinrich zu trennen. Aber Vater hatte sicherlich recht: Je inniger man sich mit etwas verbunden fühle, behauptete er, desto freudiger müsse man es auch übers Herz bringen, sich von ihm zu lösen. „Lieben", sagte Vater, „heiBt loslassen können, ob es sich dabei um Heinriche handelt oder Lukretien."

 


Date: 2015-12-11; view: 1324


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