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DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART VON MAX SCHELER 6 page

In Oesterreich kommt die Brentanoschule (Marty, Höfler, Meinong) aus eigenen Antrieben einigen der phänomenologischen Tendenzen weitgehend entgegen. Marty, der Brentano am nächsten steht, ist vor wenigen Jahren gestorben; sein höchst wertvoller Nachlaß, besonders seine ausgedehnten Untersuchungen zur Sprachphilosophie und eine die Probleme von Raum und Zeit betreffende Arbeit ist vor kurzem bei Niemeyer (Halle) erschienen. Meinong, dessen geistige Entwicklung und Leistung am besten durch sein im Buch "die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen" gegebene, sehr schön geratene und jetzt nach seinem Tode besonders wertvolle Selbstdarstellung kund wird, hat in seiner neubegründeten "Gegenstandstheorie" gleichfalls das Ideal einer daseinsfreien aprioristischen Gegenstandserkenntnis entworfen, die seine Schüler, besonders Mally, weiter ausgebaut haben. Der Unterschied der Gegenstandstheorie von der Phänomenologie bleibt gleichwohl tiefgehend. Der Gegenstandstheorie fehlt vor allem der i n t u i t i v e C h a r a k t e r der Phänomenologie. In seinem letzterschienenen Buche über "Emotionale Präsentation" hat sich Meinong in der in diesem Buche neu behandelten Theorie der Werte und Wertungen dem Standpunkt erheblich genähert, den der Verfasser in seiner Ethik vertreten hat.

Große Verwandtschaft, besonders mit der erkenntnistheoretischen realistisch gerichteten Phänomenologie weist ferner das Werk eines Mannes auf, der, viel zu wenig beachtet, einer der gründlichsten und originellsten Denker unter den gegenwärtigen Philosophen darstellt. Ich meine Johannes Rehmke, der in seiner "Grundwissenschaft" in seiner "Logik" und in seiner "Psychologie" gleichfalls von dem als "gegeben Gehabten" ausgeht und eine Ontologie des Gegebenen und seiner Grundformen zur Basis aller theoretischen Philosophie macht (siehe auch seine Selbstdarstellung in dem obengenannten Werke). Freilich blieb Rehmkes Einfluß bisher auf kleine Kreise beschränkt, so daß sie die Würdigung, die sie verdient, noch lange nicht gefunden hat.

Unter den selbständigen Einzelpersönlichkeiten, die in der gegenwärtigen Philosophie hervorragen, sind besonders als W i e d e r e r w e c k e r d e r M e t a p h y s i k vier Namen zu nennen: W. Stern, H. Driesch, H. Schwarz und E. Becher.

Alle Wiedererwecker der Metaphysik sind erkenntnistheoretische Realisten; alle wollen sie keine Metaphysik "aus reinen Begriffen" (Kant), sondern eine Metaphysik, die auf dem Boden der Erfahrungswissenschaft ruht, aber gleichzeitig in einer apriorischen Bedeutungslehre ein Sprungbrett besitzt, um mit Hilfe der Methode der Analogie über das direkt und indirekt Erfahrbare der positiven Wissenschaften noch hinauszugehen. Die Richtung der modernen metaphysischen Versuche geht im allgemeinen auf eine Neubegründung des T h e i s m u s hinaus. Ohne bewußte historische Anknüpfung nähert sich die Metaphysik so der deutschen Theistenschule der 50er und 60er Jahre (Weiße, Ulrici, H. Fichte, Lotze). So gehören Külpe, H. Schwarz, Brentano, Ehrenfels, Scheler, Driesch, Oesterreich, Becher, Jellinek, Stern unter den Vertretern der modernen Metaphysik der theistischen Gedankenrichtung an, wie verschieden sie auch je ihren Theismus und Personalismus begründen. Es ist also ein besonderes Merkmal der gegenwärtigen Metaphysik, daß sie im scharfen Gegensatz zur Metaphysik der klassischen Epoche (noch mit Einschluß E. von Hartmanns) auffällig u n p a n t h e i s t i s c h und stark p e r s o n a l i s t i s c h ist. Ich habe a.a.O. (siehe "Vom Ewigen im Menschen", Band 1) gezeigt, wie der moderne Pantheismus sich einmal durch die Entwicklung vom akosmistischen zum naturalistischen Pantheismus (Hegel bis zum modernen Modernismus), sodann durch Aufnahme immer neuer i r r a t i o n a l e r Faktoren in den Weltgrund (Schelling, Schopenhauer, von Hartmann, Bergson) in immer größerem Maße selbst zersetzt hat. Auch ist es wohl begreiflich, daß in einer so chaotischen und leidenden Zeit wie der unsrigen der Pantheismus (im Grunde eine Denkweise harmonisierend gerichteter synthetischer und abschließender Kulturzeitalter) keinerlei s e e l i s c h e A t m o s p h ä r e besitzt. Eine dritte Tendenz der modernen Metaphysik ist die Aufnahme der biologischen Grundfragen in das Zentrum der metaphysischen Probleme und eine gewisse, nach meiner Meinung zu starke Neigung, die metaphysischen Fragen besonders von dieser Seite her zu lösen (Bergson, Driesch, Stern).



Neben dem Gottesproblem ist von der modernen Metaphysik auch die Seelenfrage und das Problem der Willensfreiheit eingehender behandelt worden. Auch in der Seelenfrage hat die theistische und antipantheistische Auffassung der Seele als selbständiger, tätiger Substanz wieder größeren Anhang erhalten (Stern, Driesch, Oesterreich, Külpe, Scheler, Becher). Vor allem aber ist die tiefgehende Wandlung des modernen metaphysischen Denkens an der Stellungnahme führender Forscher zum Problem der Willensfreiheit kenntlich. Während vor etwa zehn Jahren die mannigfachen Formen des "Determinismus" in fast ausschließlicher Herrschaft standen, treten gegenwärtig eine große Reihe bedeutender Forscher für die Lehre von der F r e i h e i t d e s m e n s c h l i c h e n Willens ein. Es seien hier genannt James, Bergson, K. Joël, dem wir ein besonders tiefgehendes Buch über die Frage verdanken, Driesch, H. Münsterberg, Scheler, N. Ach, der in seinem Buche "Der Wille und das Temperament" mit am meisten getan hat, um die Willenstatsachen experimentell-psychologisch zu erklären, steht gleichfalls der Lehre vom freien Willen nahe.

Unter den genannten Metaphysikern, die diese allgemeine Richtung einhalten, dürfte Stern, Becher und Driesch die größte Bedeutung zukommen. William Stern, dessen Hauptwerk "Person und Sache" noch unvollendet ist, versucht den Begriff der "Person" als ein psychophysisch indifferentes, zieltätiges Aktionszentrum zur Grundlage der Metaphysik zu machen — eine Auffassung, die manches mit der Personlehre des Verfassers, wie er sie in seinem Buche über Ethik entwickelt hat, gemeinsam hat, in anderer Richtung aber an Driesch und von Hartmanns konkreten Monismus erinnert. Das wertvolle Buch Sterns enthält auch eine sehr beachtenswerte Auseinandersetzung mit der passivistischen und mechanistischen Biologie und der gleichsinnigen Assoziationspsychologie, die einer scharfsinnigen und weittragenden Kritik unterworfen werden. Sterns "teleomechanischer Parallelismus" der alle formalmechanischen Beziehungen im Universum nur als M i t t e l s y s t e m e für zwecktätige unbewußte Akte und Kräfte faßt, in denen sich eine Hierarchie zwecktätiger "Personen" verschiedener Seins- und Wertstufen immanent auswirken, ist ein sehr beachtenswerter Gedanke. Freilich erscheint uns Sterns Vorgehen bislang noch zu dogmatisch, auch ist bei Stern übersehen der Wesensunterschied von "Geist" und "Leben", der hier in einen bloß graduellen Unterschied aufgelöst wird. Erich Becher, der von der Naturphilosophie herkommt, ragt hervor durch seine wertvollen naturwissenschaftlich-synthetischen Arbeiten (siehe seine "Naturphilosophie" in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart"), die allerdings eines selbständigen philosophischen Ausgangspunktes ermangeln und noch zu sehr der Methode des Positivismus huldigen, naturwissenschaftliche Resultate bloß nachträglich in eine Synthese zu bringen. In seinem Werk über "Gehirn und Seele" und vor allem in seinem Buche über "Die fremddienliche Zweckdienlichkeit in der Natur" (die er an den Gallenbildungen erläutert) hat er die Anfänge einer Metaphysik entwickelt. Sie gewinnt ihren Abschluß in der Annahme eines "überindividuellen Psychischen", das die Erfahrungen und funktionellen Anpassungen des Organismus während seines Lebens verwertet und alle jene Erscheinungen verständlich machen soll, die auf eine E i n h e i t des organischen Lebens in allen Arten und Gattungen hinweisen (neben der fremddienlichen Zweckdienlichkeit, Ähnlichkeit von Organbildungen bei stammesgeschichtlicher weitgehender Verschiedenheit, Tatsachen der Sympathie, Erklärung all derjenigen Entwicklungserscheinungen, die weder lamarckianistisch, n o c h darwinistisch erklärbar sind, Erblichkeit funktionell erworbener Eigenschaften, die gleichwohl vom I n d i v i d u u m als solchem nicht erworben sein können usw.). Zu einem noch selbständigeren, einheitlicheren und geschlosseneren Aufbau einer Metaphysik, die gegenwärtig großen Einfluß gewinnt, ist Hans Driesch gelangt, Er hat jüngst seine Gedanken im Aufsatz "Mein System und sein Werdegang" (siehe "Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Band 1) kurz zusammengefaßt. Driesch kam von der Naturforschung aus (Entwicklungsmechanik) in die Philosophie; seine Hauptleistung stellt auch heute noch dar seine "Philosophie des Organischen" (die eben in zweiter Auflage erschienen ist, bedeutend vermehrt und erweitert), ein Werk, das zweifellos die bedeutendste naturphilosophische Leistung darstellt, welche die deutsche gegenwärtige Philosophie besitzt. Driesch versucht hier aus einer an der Hand der modernen Entwicklungsmechanik, die er selbst stark förderte, gewonnenen Analyse der Formbildung des Organismus und einer Analyse der Handlung des Organismus s t r e n g e B e w e i s e für seinen neuartigen "Vitalismus" zu erbringen. Bei aller Formbildung und allen überreflexmäßigen "Handlungen" des Organismus müsse ein Agens tätig sein, dem ganz bestimmte Merkmale und eine ganz bestimmte gesetzmäßige Wirksamkeit zugeschrieben werden. Es heißt als hypothetischer Wirkfaktor der Handlungen "Psychoid", als dynamischer Wirkfaktor der Formbildungen "Entelechie" (was indes keine strenge Identität mit dem aristotelischen Entelechiebegriff bedeutet). In seiner eigentlichen Metaphysik sucht nun aber Driesch zu zeigen, daß nicht nur das "Psychoid" mit der "Entelechie" in der metaphysischen Wirklichkeitssphäre identisch seien, sondern daß auch die unserem kontinuierlichen "Selbst" zugrunde zu legende, aus den passiven Bewußtseinserscheinungen erschlossene reale Seele mit dem durch rein objektive Naturbetrachtung gewonnenen entelechialen und psychoidealen Faktor identisch sei. Diesen Gedanken hat Driesch besonders in seinem Werk "Leib und Seele", in dem er den psychomechanischen Parallelismus (besonders durch eine Mannigfaltigkeitsbetrachtung) widerlegt, ausgeführt. Eine erkenntnistheoretische und logische Basis für diese Metaphysik hat Driesch entwickelt in seiner "Ordnungslehre" und in seinem Buch "Erkennen und Denken"; die Gesamtheit seiner metaphysischen Gedanken hat er zusammengefaßt in seinem Buche über "Wirklichkeitslehre". Ausgehend von einem "methodischen Solipsismus", entwickelt er in einer besonderen "Selbstbesinnungslehre" zuerst ein apriorisches System von Bedeutungen und d e n k m ö g l i c h e n Beziehungsformen. In der Art, wie dies geschieht, ist er durch Husserl und Meinong stark beeinflußt. Sein Gegenstandsbegriff ist von Meinong übernommen. Die Schwäche der Driesch'schen Metaphysik (von ihren Mängeln, dem fast vollständigen Übergehen sowohl der sittlichen als der geistig historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit als Daten auch für die Metaphysik abgesehen) scheint mir weniger in seinen höchst wertvollen biologischen Positionen als in seiner Naturphilosophie des Anorganischen zu liegen, in der er einem Mechanismus, der einem veralteten Stande der theoretischen Physik entspricht, huldigt. Ferner kommt auch bei ihm, ähnlich wie bei Stern, der Unterschied der spezifisch g e i s t i g e n Akte und ihrer autonomen Gesetzlichkeit gegenüber dem biopsychischen Tatsachenbereich n i c h t zu seinem Rechte. Dadurch entsteht die Gefahr eines pantheistisch gefärbten Allvitalismus, der durch seine neuesten Ausführungen in der "Philosophie des Organischen" über "Einheit und Pluralität" der Entelechien, in denen er stark der Einheitslehre zuneigt, noch größer geworden ist. Jedoch kann bei diesem entwicklungsreichen und großzügigen Denker über die endgültige Gestaltung seiner Philosophie in diesen Punkten noch nichts Sicheres ausgesagt werden.

Die unmittelbarste Einwirkung vielleicht, welche die großen Weltereignisse auf den Gang der deutschen Philosophie ausgeübt haben, haben ohne Zweifel an erster Stelle die R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e und die P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e u n d G e s e l l s c h a f t erfaßt. Sowohl die gewaltige r e l i g i ö s e Bewegung unserer Tage wie der Hiatus der europäischen Geschichte (und die Gesamtheit von Bestrebungen zu sozialer Neuformung) mußten auch die Philosophie stark in ihren Bereich ziehen. Religiöse Bewegung und religionsphilosophisches Denken stehen heute in stärkster Wechselwirkung. Auf die religiösen oder gar kirchlichen Bewegungen selbst können wir hier nicht eingehen (siehe hierzu meinen Aufsatz über "Friede unter den Konfessionen" im "Hochland" und mein Buch "Vom Ewigen im Menschen", Band 1). Will man der gegenwärtigen religiösen Bewegung ein allgemeines Merkmal zuerteilen, so wird man vor allem von einer Hypertrophie m y s t i s c h e r Tendenzen in allen Sonderarten der religiösen Bewegung und auf allen Gebieten (Philosophie, Kunst, Dichtung) reden können. Diese Bewegung umfaßt sowohl den katholischen und den protestantischen Kulturkreis als jene Kreise, die eine "neue Religion" wollen. Die gesamte mystische Bewegung steht stark unter dem Einfluß des Ostens, so der großen russischen religiösen Denker (Tolstoi, Dostojewski, Mereschkowski, Solowjew), aber auch der indischen und chinesischen alten Weisheitslehren (siehe z. B. die Wirksamkeit R. Tagores), Die immer stärker anwachsende anthroposophische Bewegung R. Steiners, deren Ideen auch die philosophisch von Driesch stark beeinflußten, in vieler Hinsicht sehr wertvollen Gedanken des physikalischen Chemikers K. Jellinek in seinem lesenswerten Buche "Das Weltengeheimnis" eigentümlich färben, steht gleichfalls unter östlichem Einfluß (z. B. Wiederverkörperungslehre, der auch H. Driesch nahesteht). Die expressionistische Kunst der Gegenwart, die im "Weißen Reiter" auch einen vorwiegend katholischen Ausdruck gefunden hat, steht gleichfalls stark unter diesen östlichen Einflüssen. Am befremdlichsten wirkt hierbei die mystische Bewegung innerhalb des protestantischen Kulturkreises, um so mehr, als die vorwiegende protestantische Theologie, besonders die Schule A. Ritschls, vor den Kriege aller Mystik äußerst abhold war und in ihr überall "katholisierende Tendenzen" witterte. Der Ausspruch Harnacks: "Ein Mystiker, der nicht katholisch würde, sei ein Dilettant" ist für die ältere Stellung der protestantischen Theologie in schärfstem Gegensatz zur Gegenwart charakteristisch. Sehr häufig verbindet sich die östlich gefärbte Mystik unserer Tage, die man mit Recht in eine geschichtliche Parallele einerseits mit dem unseren Zeitalter so ähnlichen Hellenismus der Spätantike, andererseits mit den Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland (Auftreten des Pietismus) gesetzt hat, auch mit einer östlichen Orientierung in der Politik (siehe z. B. die Schriften des Heidelberger Philosophen H. Ehrenberg und die Arbeiten E. Rosenstocks). Es ist noch fraglich, wie weit die Gesamtheit dieser Erscheinungen als bloße Flucht der Seele aus den Wirren der Zeit und wie weit sie als p o s i t i v e Ausgangspunkte einer neuen lebendigen Religiosität zu werten sind. Bisher hat das Ganze noch einen stark chaotischen Charakter. Innerhalb des katholischen Kulturkreises, in dem gegenwärtig eine große geistige Regsamkeit wahrzunehmen ist, stellen sich die mystischen Tendenzen noch am geformtesten dar und werden außerdem durch eine ihnen in gewissem Sinne entgegengesetzte Bewegung, die von den Benediktinern inaugurierte "liturgische Bewegung" in Schranken gehalten. Hier bemüht man sich vor allem, "wahre und falsche Mystik" zu unterscheiden (siehe besonders die Aufsätze von A. Mager in der "Benediktinischen Monatschrift" und im katholischen Sonderheft der "Tat"; für die liturgische Bewegung siehe vor allem die vom Abt J. Herwegen herausgegebene Schriftenreihe "Ecclesia orans", besonders R. Guardini: "Vom Geist der Liturgie"). Trotz des tiefen inneren Gegensatzes der mystischen, mehr an das Mittelalter und die Gotik anknüpfenden Bewegungen und der liturgischen a l t k i r c h l i c h e n Bewegung gewinnen beide Tendenzen eine Art Einigung wieder dadurch, daß manche katholischen Denker auch in der Philosophie und Theologie stärker an die mystischer gefärbte platonisch-augustinische Auffassung anknüpfen, die mit den liturgischen Bestrebungen ja auch den alt- und frühkirchlichen historischen Grundcharakter teilen. In der Philosophie ist auf religionsphilosophischem Boden dieser sich allenthalben wieder stärker regende A u g u s t i n i s m u s (freilich stark modifiziert) auch mit der Phänomenologie (die, wie bemerkt, ja selber stark platonisch orientiert ist) in Verbindung getreten durch das Werk des Verfassers "Vom Ewigen im Menschen", Band 1, in dem versucht wurde, sowohl der Metaphysik als der Religionsphilosophie (das letztere durch Aufrechterhaltung eines selbständig religiösen und unmittelbaren Faktors in der religiösen Gotteserkenntnis) eine neue Selbständigkeit zu geben ("Konformitätssystem von Glauben und Wissen"). Auf ganz anderem philosophischen Boden (mit Anknüpfung an die modernen Kantschulen) hat J. Hessen den "augustinischen Gottesbeweis" wieder zu Ehren zu bringen versucht, und auch Switalsky hat ihm in seinen Arbeiten wieder ein größeres Recht eingeräumt, als die vorwiegend thomistische Richtung ihm bisher gewährte. Auch diese Tendenz ist wohl verständlich sowohl aus dem a l l g e m e i n e n Streben wieder stärker an frühkirchliche geistige Erscheinungen anzuknüpfen, als vor allem auch daraus, daß es sich heute nicht darum handeln kann, so wie zu Zeiten des Thomas von Aquin das relative R e c h t von Natur und Vernunft gegenüber einer stark im Übernatürlichen versunkenen mächtigen und einheitlichen christlich erfüllten Welt sicherzustellen, sondern u m g e k e h r t darum, eine ganz und gar in das Weltliche und Materielle versunkene weltanschaulich tiefpartikularisierte Gesellschaft Gott und die göttlichen Dinge wieder geistig nahezubringen. An Stelle der bloßen "ars demonstrandi", die erfahrungsgemäß nur dort überzeugt, wo traditioneller Glaube den Menschen bereits beherrscht, tritt hier eine "ars investigandi et inveniendi" und gleichzeitig die alte anselmische Lehre, daß das religiöse Bewußtsein und das Haben seines Gegenstandes (Gottesidee) dem philosophisch-wissenschaftlichen Bewußtsein und der ihr entsprechenden Weltgegebenheit gesetzlich (wenn auch geschichtlich mit ganz variablem Inhalt) vorhergeht (im Sinne des anselmischen "Credo, ut intelligam"). Auch mit H. Newman, dessen "Grammatik der Zustimmung" eben von Th. Haecker neu übersetzt wurde, und dessen Schriften gegenwärtig auch in katholischen Bildungskreisen stark gelesen werden, steht diese Bewegung in mannigfacher Verbindung (vgl. auch die Zeitschrift "Brenner", in der sich religiöse Gedanken verschiedener Konfessionen begegnen). Auch die bemerkenswerten Reden des Tübinger Dogmatikers Adam über "Glauben und Wissen", "Religion und Gegenwart" verraten die geschilderten Gedankenmomente. Ihr praktisches Gewicht und ihre soziale Parallele erhält diese neuere katholische Denkrichtung durch die sich in den katholischen Bildungskreisen immer stärker durchsetzende Überzeugung, daß die Religion sich in einer Zeit, in der die gewaltigen Stützen der Kirche durch den Staat zusammengebrochen sind, und in der sich der Glaube zu r e i n i g e n hat von allen ständischen und klassenmäßigen Amalgamierungen, in die ihn die verflossene Geschichte gebracht hatte, vor allem innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit von den Interessenstrukturen der Politik und Wirtschaft gewinnen müsse, um wieder eine praktisch lebendige Kraft auf das Leben zu gewinnen. Aus demselben Grunde sucht man in bezug auf geschichtliche Vorbilder innerhalb des katholischen Kulturkreises an solche Zeiten und Persönlichkeiten anzuknüpfen, in denen die Religion aus ihrer eigenen inneren Kraft heraus (ohne Stütze von irgendeiner anderen Macht) neue soziale Bewegungen e i n g e l e i t e t oder doch mit ihrem Geiste durchhaucht hat. Das von D. von Hildebrand herausgegebene Buch "Der Geist des heiligen Franziskus" will in diesem Sinne die franziskanische Bewegung nach allen in Betracht kommenden Richtungen charakterisieren.

Innerhalb des p r o t e s t a n t i s c h e n Kulturkreises deuten mehrere Erscheinungen gleichfalls auf den neuen religiösen Geist der Zeit hin. Der weitgehenden soziologischen Umformung der Behälter und Wirkungsweisen des protestantischen Geistes (die keineswegs, wie man so oft irrig meint, ein Nachlassen auch seiner K r a f t und seiner Wirksamkeit zu bedeuten braucht) — man kann sie kurz als Tendenz zu Sekten, Kreis-Ordensbi1dungen um irgendeine charismatisch erscheinende Persönlichkeit herum charakterisieren — entspricht eine Reihe religionsphilosophischer und theologischer Neuerscheinungen, welche starke Beachtung verdienen. Hier sind vor allem die tiefgreifenden und wirksamen Arbeiten von R. Otto (siehe "Das Heilige", 2. Auflage), ferner von H. Scholz "Religionsphilosophie" (1921), die Arbeiten des Hallenser Dogmatikers Heim, die mannigfachen Schriften Fr. Heilers (siehe "Das Gebet" und "Buddistische Versenkungsstufen", "Das Wesen des Katholizismus"), die mystische Wert- und Religionsphilosophie von H. Schwarz "Das Ungegebene", Tübingen 1921, zu nennen. Auch die Arbeiten von K. Oesterreich über "Religionspsychologie" und die neue große Arbeit über denselben Gegenstand von J. K. Girgensohn, ferner als überkonfessionelle Sammelstelle religionspsychologischer Bestrebungen die "Zeitschrift für Religionspsychologie" mögen hier aufgeführt sein, obzwar diese Erscheinungen weniger religiös als rein wissenschaftlich bedeutsamen Charakter besitzen. Den größten Einfluß von diesen Arbeiten hatten ohne Zweifel die Schriften von Otto und Heiler. Otto betrachtet die Werte des Heiligen und Göttlichen, die er in der ersten Hälfte seines Buches rein phänomenologisch untersucht, auf ihre Wesensbestandteile und scheidet sie in rationale (z. B. Güte, Wissen usw.) und irrationale. Als irrationale Grundwerte, die sich nicht so, wie die Kantschulen meinen, in "allgemeingültige Vernunftwerte" oder deren Steigerung ins "Unendliche" oder "Vollkommene" auflösen lassen, nennt Otto das "Numinose". Er zerlegt das ihm entsprechende Gefühl in das "Kreaturgefühl" in das "mysterium tremendum" das dem Heiligen den Charakter des Schauervollen, Übermächtigen und Energischen verleiht, in das Moment des geheimnisvollen "ganz anderen" und in das Moment des magisch anziehenden "fascinosum". Er verfolgt alle diese dem Göttlichen konstitutiv eigenen "irrationalen" Elemente durch das Alte und Neue Testament und durch Luthers Schriften hindurch und gibt am Schlusse eine Art religiöser Erkenntnistheorie, die an die von Fries modifizierte Kategorienlehre Kants anknüpft. Eine Kritik seiner Aufstellungen habe ich auch in meinem Buche "Vom Ewigen im Menschen" gegeben (siehe auch E. Troeltsch in den "Kantstudien"). Die Bestrebungen nach einer freien religiösen Mystik sind innerhalb des Protestantismus durch dieses Buch stark gesteigert worden. Heiler gab in seinem Buche über "Das Gebet" eine überaus großzügige, gelehrte und auch phänomenologisch und psychologisch überaus anregende Studie, die nur den Fehler hat, daß sie mit Hilfe gewisser von der Ritschlschen Theologie entlehnter Kategorien, besonders der Kategorie des "prophetischen" und "mystischen Gebets" viele Erscheinungen des religiösen Lebens vergewaltigt. Das beste Buch Heilers ist das Buch über "Buddhistische Versenkungsstufen", in dem er diese Stufen feinsinnig phänomenologisch erörtert und nur ihre T e c h n i k noch zu wenig beschreibt. Sei prinzipienlos und historisch nach rein individuellen und subjektiven Eindrücken geschriebenes Buch über das "Wesen des Katholizismus", das zugleich eine erstaunliche Verherrlichung der im "Gebet" gerade als "unevangelisch" verurteilten katholischen Mystik und gleichzeitig eine herbe Anklage gegen die gegenwärtige Kirche darstellt, sucht nach Harnacks Vorgang das Ganze des Katholizismus als "Synkretismus" aus fünf Bestandteilen zu erweisen; sie sollen bestehen im Evangelium, dem römischen Reichs- und Rechtsgedanken, dem jüdischen Legalismus und seiner Kasuistik, den paganisch-magischen Faktoren (Messe) und der nach Heiler auf den Orient zurückgehenden hellenischen Philosophie und Mystik. Die Methode der Betrachtung ist hier im wesentlichen diejenige Harnacks. Das religiöse, bei Heiler vorherrschende, aber von seinen Stimmungen stark abhängige "Ideal" soll gegeben sein in dem, was er in seiner Anlehnung an den schwedischen Bischof Soederbloem die "Evangelische Katholizität" nennt. — Die "Religionsphilosophie" von H. Scholz, die besonders in ihren kritischen Partien ausgezeichnet geraten ist, will ähnlich wie R. Otto und in mancher Hinsicht auch ähnlich wie der Verfasser in seinem Werke "Vom Ewigen im Menschen" die Religion auf eine besondere F o r m d e r r e l i g i ö s e n E r f a h r u n g gründen, die aber nicht allen Menschen zukommen soll. Auch dieses Werk nimmt seinen Ausgangspunkt vor allem in dem Wesen der m y s t i s c h e n Gotteserfahrung und sucht von hier aus die Religion mit dem Ganzen des menschlichen Geisteslebens in innere Beziehung zu setzen. Auch K. Oesterreich hat in seiner Schrift "Über die religiöse Erfahrung" dieselbe Methode und denselben Ausgangspunkt wie die genannten phänomenologischen vorgehenden Forscher. Überblickt man diese und andere hier aus Raummangel nicht genannten Erscheinungen der protestantischen Religionsphilosophie und Theologie und vergleicht sie mit den augustinisch gefärbten Arbeiten innerhalb des katholischen Kulturkreises, so eröffnet sich eine A u s s i c h t, die nach meiner Meinung von größter Tragweite ist. Es ist die Aussicht auf eine mählich fortschreitende Einigung der Forscher verschiedener Konfessionen über die Grundfragen wenigstens der natürlichen Theologie und der Religionsphilosophie. Solange auf der einen Seite einseitigster Kantianismus, auf der anderen Seite ein ausschließlicher Thomismus traditionalistisch herrschten, war auch der bloße V e r s u c h einer solchen Einigung völlig ausgeschlossen (siehe dazu auch R. Eucken: "Kant und Thomas, der Kampf zweier Welten"). Den W e r t einer solchen Einigung aber wird man nicht gering anschlagen dürfen, denn es würde dadurch der widersinnige Zustand, den ich a. a. O. als einen "Skandal der Philosophie und Theologie zugleich" bezeichnet habe, aufgehoben, daß in der nicht auf positiver Offenbarung und Tradition beruhenden sogenannten "natürlichen Gotteserkenntnis" (die jedem Menschen spontan zugänglich sein soll) gerade am m e i s t e n der bloße historische Traditionalismus herrscht, und daß die konfessionell verschiedenartigen religiösen Bildungskreise in der natürlichen Theologie und Religionsbeurteilung eher n o c h w e i t e r auseinandergehen als in den Fragen der positiven Theologie und der Glaubensbekenntnisse.

Auch innerhalb der theoretischen und praktischen Führerschaft der deutschen Sozialdemokratie sind gegenwärtig Versuche bemerkenswert, das religiöse Problem einer neuen Durchforschung zu unterziehen, die von der marxistischen überkommenen Lehre, der gemäß die göttlichen Dinge nur ein phantastisches "Aroma" sein sollen, das als "Begleiterscheinungen" ökonomischer Herrschaftsverhältnisse aus der "bürgerlichen Gesellschaft" aufsteigt (Marx), prinzipiell abweichen. Noch sehr fadenscheinig ist die Religion in Paul Göhres "Der unbekannte Gott" gefaßt, dagegen haben Radbruch, Maurenbrecher, mehrere Freunde der "Sozialistischen Monatshefte", die theoretischen Vertreter des Bundes sogenannter "religiöser Sozialisten" Ansichten geäußert, die, wie immer man sie beurteilen mag, eine neue Stellung auch der sozialdemokratischen Arbeiterklasse zu den Problemen der Religion ankündigen. Da nach unserer Meinung jeder religiös nicht an das höchste Gut und Gott glaubende Mensch, und jede Klasse solcher Menschen ein nachweisbares S u r r o g a t des höchsten Gutes in Form eines zu einem "Götzen" gestempelten endlichen Wertes (heiße er Geld, Nation, Zukunftsstaat oder sonstwie) besitzen, wird der vermutlich bald vollständig einsetzende, schon heute (siehe das neue sozialdemokratische Parteiprogramm) sehr weitgehende Verzicht auf die Verwirklichung der Ideale des Kommunismus und des "Zukunftsstaates" (an die ein gewaltiges Maß eschatologischer Religiosität gleichsam festgebunden war) einen l e e r e n Raum in der Seele der Arbeiterklasse schaffen, der ihre Disposition für die Aufnahme echt religiöser Güter bedeutend steigern dürfte. In diesem Sinne hat sich auch Otto Baumgarten in seinem Buche "Der Aufbau der Volkskirche", das die Möglichkeit des Aufbaus einer protestantischen Volkskirche an Stelle einer bloßen "Pastorenkirche" eingehend und feinsinnig erwägt, ausgesprochen.

Nicht minder tief greifen, wie gesagt, die Wirkungen der Weltereignisse auf die geschichtsphilosophischen und soziologischen Neuorientierungsversuche der Gegenwart ein. Alle größeren geschichtsphilosophischen Versuche der europäischen Geschichte, die wir kennen, die Versuche Augustins und Johanns von Freising, die Versuche Vicos, Bossuets, Hegels und Comtes haben ihren Ursprung in Zeitaltern, die nach großen, die Verhältnisse tief umformenden Geschichtswendungen, gleichsam eine Besinnung der Menschheit über den bisherigen Verlauf ihrer Geschichte anregen. Der Französischen Revolution wohnte in diesem Sinne die mächtigste Anregungskraft für geschichtsphilosophische Besinnung ein, und so ist es kein Wunder, daß gerade gegenwärtig die geschichtsphilosophisch m a t e r i a l e B e t r a c h t u n g der Dinge eine neue Auferstehung gefeiert hat. Zum Teil knüpfen diese Versuche an Gedanken an, die schon vor dem Kriege wieder eine Rolle zu spielen begannen. Kaum ein geschichtsphilosophischer Versuch der Gegenwart zeigt sich z. B. nicht irgendwie durch Nietzsches starke Anregungen bedingt. Ferner fühlt man überall die Ideen Burckhardts, wie er sie in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" entwickelt hat, die Auffassungen von Dilthey, Troeltsch, Hegel und Hartmann noch lebendig. Der grundlegende Gesichtspunkt, welcher der gegenwärtigen Geschichtsphilosophie ihr b e s o n d e r e s Gepräge verleiht, ist vor allem der Gegensatz zwischen Dekadenz oder Erneuerungsmöglichkeit der europäischen Menschheit und dazu die noch mögliche Aufgabe und Rolle "Europas" im zukünftigen Weltgetriebe. Schon diese Frage führt wie von selbst dazu, die E n g e und B e d i n g t h e i t der spezifisch europäischen Maßstäbe und europäischen Denkformen in allen bisherigen Geschichtsauffassungen und -beurteilungen immer tiefer zu erkennen. Diesen Fragen gegenüber sind heute die mehr formalen Probleme der Geschichts e r k e n n t n i s weitgehend zurückgetreten. Oswald Spengler hat dem auf alle Fälle starken Wurfe seines "Untergang des Abendlandes" in seinem Aufsatz über "Pessimismus?" eine sehr eigenartige Interpretation nachfolgenlassen (der zweite Band des "Untergangs" wird demnächst erwartet). Seine D e k a d e n z l e h r e ist in seinem "Untergang" weniger tiefgehend als sensationell vertreten. Die ungeheure Wirkung dieses Buches und der aufregende Neuheitseindruck, mit dem es entgegengenommen wurde, ist psychologisch nur aus der N i e d e r l a g e Deutschlands im Kriege zu verstehen. Aber außerdem ist er nur begreiflich daraus, daß das große Publikum offenbar keine Ahnung davon hatte, wie sehr diese Dekadenzlehre bereits durch anderweitige Forscher vorbereitet war. Graf Gobineau, J. Burckhardt, Fr. Nietzsche, F. Tönnies, E. Hammacher (siehe sein Buch: "Grundprobleme der modernen Kultur"), M. Scheler (siehe "Ressentiment im Aufbau der Moralen"), W. Sombart — sie alle hatten ja, wenn auch mit weitgehend verschiedener Begründung und Fundierung, im Grunde der These gehuldigt, daß sich das Abendland des 19. Jahrhunderts im Niedergang befinde. Der Kreis Stefan Georges dachte in derselben Richtung. E. von Hartmanns universaler Geschichtspessimismus zielte gleichfalls auf eine geschichtsphilosophische Dekadenzlehre hin. Nur das satte Behagen der deutschen Oberklassen während des Wilhelminischen Zeitalters konnte diese warnenden Stimmen über hören lassen und den Schein erzeugen, daß man über Fortschritt und Aufstieg Europas so einig sei, wie es etwa Hegel und in anderer Form und Art die Positivisten Comte und Spencer gelehrt hatten. Freilich maßten sich alle diese genannten Denker n i c h t an, astronomisch voraussagen zu können, was in Zukunft sein und geschehen werde, so wie es Spengler auf Grund seiner vermeintlichen vagen Phasen- und Gleichzeitigkeitsgesetze getan hat, nach denen z. B. Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus innerhalb der Phasenabfolge der indischen, römischen und modernen Zivilisation "gleichzeitig" sein sollen. Es genügte ihnen so wie es allein möglich und sinnvoll ist, von Niedergangstendenzen zu reden, deren Realisierung durch die ursprüngliche Freiheit der menschlichen Persönlichkeit oder doch durch arationale Geschichtsfaktoren auch prinzipiell umgebogen werden könne. Eine solche "Freiheit" kennt Spengler nicht, er betrachtet die großen Kulturen, die er an sich mit Recht als eine ursprüngliche Vielheit ansieht (siehe hierzu auch des Verfassers Abschnitt "Die Einheit Europas" in seinem Buche "Genius des Krieges"), wie Pflanzenvegetationen, die aus der "mütterlichen Landschaft" herauswachsen, dann einen Prozeß des Aufblühens, Alterns und Sterbens durchlaufen. Diese biologischen Analogien sind aber auf die Geschichte unanwendbar. Wertvoll dagegen ist der Versuch Spenglers, a l l e Sphären der geschichtlichen Güterwelt (Wissenschaft, Künste, Staatsformen usw.) auf die Einheit einer "Kulturseele" zurückzubeziehen, und ihre Strukturidentität aufzuweisen. Die Durchführung des Gedankens, den auch Dilthey, Duhem (siehe "Geschichte der physikalischen Theorien"), Scheler und andere längst aufgenommen hatten, ist indes oft überaus spielerisch und willkürlich (vergleiche dazu das Heft des "Logos" indem sich eine Reihe von Forschern mit Spengler beschäftigen). Zur Kritik Spenglers ist schon eine kleine Literatur erschienen, aus der ich Th. Haerings "Die Struktur der Weltgeschichte" (1921), die Schrift von H. Scholz "Zum Untergang des Abendlandes" (1920) und Götz Briefs "Untergang des Abendlandes, Christentum und Sozialismus" (1920), Kurt Breysigs "Der Prophet des Untergangs" hervorhebe. Ganz wesenlos, verworren, unbestimmt und überdies aus den mannigfaltigsten verschwiegenen Anregungen zusammengeflossen sind die philosophischen und erkenntnistheoretischen V o r a u s s e t z u n g e n des Buches. Sie enthalten einen Relativismus, der sich im tiefsten Gegensätze befindet zu aller ernsthaften gegenwärtigen Philosophie, und sind nur ein letzter Nachklang des romantischen Historismus der Vorkriegszeit und seiner verantwortungslosen, sich in alles und jedes "einfühlenden" schauspielerischen Verwandlungskunst — Haltungen, von der heutigen J u g e n d mit Recht scharf zurückgewiesen werden. Wenn wir nicht glauben, daß Spenglers Werk seinen Tageserfolg, stark mitbedingt durch die psychischen Dispositionen eines geschlagenen Volkes, dessen gegenwärtiges Elend und Niedergangsgefühl gleichsam wie von einem gewissen "Troste" vergoldet scheint, wenn sich auch das Ganze des Abendlandes, dessen Teil es ist, in einer absteigenden Richtung befindet so daß man gewissermaßen sagen kann auch jetzt wieder: "Deutschland in der Welt voran" — wenn auch in absteigender Richtung — überdauern wird, so erhoffen wir um so Wertvolleres von anderen wichtigen Erscheinungen der gegenwärtigen Soziologie und Geschichtsphilosophie.

Das Grundbuch der deutschen Soziologie wird noch auf lange Zeit hinaus Ferdinand Tönnies' "Gemeinschaft und Gesellschaft" bleiben, das erst langsam seine volle Bedeutung auswirkt. Max Weber, dessen Werke jetzt gesammelt erscheinen, hat uns noch kurz vor seinem Tode mit seinen großangelegten religionssoziologischen Untersuchungen über die Religionsformen Chinas, Indiens und der verschiedenen kirchlichen Bildungen des Christentums beschenkt, die sich seiner ungemein wirksamen Untersuchung über die Bedeutung der calvinistischen Religiosität und systematischen Selbstkontrolle für die Ausbildung des "kapitalistischen Geistes" würdig angereiht haben. Die Bedeutung der Weltreligionen für die soziale Struktur der Völker und für ihre Wirtschaftsgesinnung ist in diesen Untersuchungen überaus großartig hervorgetreten. Nimmt man noch hinzu die bekannten "Soziallehren der christlichen Kirchen von E. Troeltsch und die Untersuchungen von P. Honigsheim Über den Einfluß des Jansenismus auf die französische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" so ist in diesen Arbeiten ein bedeutendes, zusammenhängendes Bild entstanden von der soziologischen Bedeutung der Religion überhaupt (vgl. auch des Verfassers "Abhandlungen und Aufsätze"). In anderer Richtung hat Werner Sombart in seinen Kapitalismusbüchern und seinem "Bourgeois", vor allem aber in der neuen Auflage seiner "Grundlagen des modernen Kapitalismus" nun eine s y s t e m a t i s c h e A n o r d n u n g aller Kausalfaktoren für die Entstehung der Phasen des modernen Kapitalismus gegeben, die den älteren Einwänden gegen seine Aufstellungen weitgehend standhält. Sein zu erwartendes Buch über die geistesgeschichtlichen Bedingungen des modernen Sozialismus, zu dem er sein bekanntes "Sozialismus und soziale Bewegung" umzuarbeiten im Begriffe ist, wird über die Entstehung besonders der marxistischen Theorien neues Licht verbreiten. Die neuen, in den Schriften der Kantgesellschaften herausgekommenen Untersuchungen von E. Troeltsch über die bisherigen Formen der Soziologie seit Comte und über die dialektische Methode Hegels haben gleichfalls über die Entstehung des Gegensatzes unserer deutschen Geschichtsauffassung von der bei den Westvölkern vorliegenden Auffassung uns wichtige Einsichten erschlossen. Erwägt man dazu, daß die gesamte marxistische Soziologie (siehe dazu die neueren Arbeiten von J. Plenge, Lederer, Cunow, Lensch, Schumpeter, Renner, R. Michels, Max Adler und anderer) sich in der tiefgehendsten Krisis befindet, in der sie sich seit der Auseinandersetzung von Lassalle und Marx befunden hat, so wird man die langsam beginnende geschichtsphilosophische und soziologische Auseinandersetzung der sozialistischen und bürgerlichen Soziologie und Geschichtsauffassungen nicht gering anschlagen dürfen. Was uns gegenwärtig vor allem notwendig ist, das wäre eine neue, auf der Gesamtheit der durch diese Literatur erschlossenen empirischen Einsichten fußende T h e o r i e d e r h i s t o r i s c h e n K a u s a l f a k t o r e n, die insbesondere die O r d n u n g ihrer Wirksamkeit genau bestimmt und feststellt, und die zugleich mit allen bisherigen Einseitigkeiten, vorwiegend spiritueller und naturalistischer Geschichtsauffassungen, endgültig bricht. Der Verfasser ist damit beschäftigt, in einem demnächst erscheinenden Buche über die Gesellschafts- und Geschichtslehre des "Solidarismus" eine solche Theorie zu entwickeln. —

Wenn man die ungemeine, nur noch mit dem Zeitalter Kants und Hegels vergleichbare, g e i s t i g e R e g s a m k e i t auf dem Boden der Philosophie im gegenwärtigen Deutschland (von der diese Zeilen ein schwaches, durch den Raum engbegrenztes Bild geboten haben) mit dem vergleicht, was gegenwärtig in den Ländern der Sieger auf diesem Boden geschieht, so ist — wie alle, die vom Ausland zu dem Verfasser nach Köln kommen, bezeugen — der Abstand ein u n g e h e u e r g r o ß e r. Dieser Eindruck ist, wenn man noch hinzunimmt, was trotz des neuen Elends des Bibliothekswesens und der geringen Aufwendungen, die seitens des Staates für die Wissenschaft und ihre Institute heute allein möglich sind, auch auf dem Boden der Naturwissenschaften und der Erfindungen geleistet wird, so stark, daß an ihm allein schon das tiefgesunkene Selbstgefühl und Selbstwertgefühl der Nation s i c h w i e d e r a u f z u r i c h t e n v e r m a g. Ein Volk, das im größten Elend seiner politischen und ökonomischen Lage zu einer solchen Fülle geistiger Anstrengungen und Leistungen fähig ist, kann nicht zugrunde gehen. Einem in gewissem Sinne tragischen Grundgesetze der deutschen Geschichte gemäß (das man preisen oder beklagen mag) wird auch diesmal die Nation; gerade aus ihren tiefsten Leiden und Nöten heraus, mit neuen und frischen Energien, die ihr aus der dunklen Tiefe ihrer durch kein Geschick zerbrechlichen Seele zufließen, mit neuem Wagemut wieder zu den ewigen Sternen ihrer eigentlichen "Bestimmung" greifen. Der Philosophie kommt dabei die nicht zu unterschätzende Rolle zu, die einseitige Verfachlichung und Spezialisierung, in die das deutsche Volk vor dem Kriege so sehr versunken war, daß ihm die auch zu einer gesunden und einheitlichen Politik und zur Führung des Krieges notwendige spontane Einigungsbereitschaft und Einigungsbefähigung weitgehend gebrach, allmählich aufzulösen und damit beizutragen, eine neue, einheitlichere geistige Bildungsgestalt dem deutschen Menschen aufzuprägen.


Date: 2015-12-11; view: 861


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