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DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART VON MAX SCHELER 7 page

Nicht minder tief greifen, wie gesagt, die Wirkungen der Weltereignisse auf die geschichtsphilosophischen und soziologischen Neuorientierungsversuche der Gegenwart ein. Alle größeren geschichtsphilosophischen Versuche der europäischen Geschichte, die wir kennen, die Versuche Augustins und Johanns von Freising, die Versuche Vicos, Bossuets, Hegels und Comtes haben ihren Ursprung in Zeitaltern, die nach großen, die Verhältnisse tief umformenden Geschichtswendungen, gleichsam eine Besinnung der Menschheit über den bisherigen Verlauf ihrer Geschichte anregen. Der Französischen Revolution wohnte in diesem Sinne die mächtigste Anregungskraft für geschichtsphilosophische Besinnung ein, und so ist es kein Wunder, daß gerade gegenwärtig die geschichtsphilosophisch m a t e r i a l e B e t r a c h t u n g der Dinge eine neue Auferstehung gefeiert hat. Zum Teil knüpfen diese Versuche an Gedanken an, die schon vor dem Kriege wieder eine Rolle zu spielen begannen. Kaum ein geschichtsphilosophischer Versuch der Gegenwart zeigt sich z. B. nicht irgendwie durch Nietzsches starke Anregungen bedingt. Ferner fühlt man überall die Ideen Burckhardts, wie er sie in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" entwickelt hat, die Auffassungen von Dilthey, Troeltsch, Hegel und Hartmann noch lebendig. Der grundlegende Gesichtspunkt, welcher der gegenwärtigen Geschichtsphilosophie ihr b e s o n d e r e s Gepräge verleiht, ist vor allem der Gegensatz zwischen Dekadenz oder Erneuerungsmöglichkeit der europäischen Menschheit und dazu die noch mögliche Aufgabe und Rolle "Europas" im zukünftigen Weltgetriebe. Schon diese Frage führt wie von selbst dazu, die E n g e und B e d i n g t h e i t der spezifisch europäischen Maßstäbe und europäischen Denkformen in allen bisherigen Geschichtsauffassungen und -beurteilungen immer tiefer zu erkennen. Diesen Fragen gegenüber sind heute die mehr formalen Probleme der Geschichts e r k e n n t n i s weitgehend zurückgetreten. Oswald Spengler hat dem auf alle Fälle starken Wurfe seines "Untergang des Abendlandes" in seinem Aufsatz über "Pessimismus?" eine sehr eigenartige Interpretation nachfolgenlassen (der zweite Band des "Untergangs" wird demnächst erwartet). Seine D e k a d e n z l e h r e ist in seinem "Untergang" weniger tiefgehend als sensationell vertreten. Die ungeheure Wirkung dieses Buches und der aufregende Neuheitseindruck, mit dem es entgegengenommen wurde, ist psychologisch nur aus der N i e d e r l a g e Deutschlands im Kriege zu verstehen. Aber außerdem ist er nur begreiflich daraus, daß das große Publikum offenbar keine Ahnung davon hatte, wie sehr diese Dekadenzlehre bereits durch anderweitige Forscher vorbereitet war. Graf Gobineau, J. Burckhardt, Fr. Nietzsche, F. Tönnies, E. Hammacher (siehe sein Buch: "Grundprobleme der modernen Kultur"), M. Scheler (siehe "Ressentiment im Aufbau der Moralen"), W. Sombart — sie alle hatten ja, wenn auch mit weitgehend verschiedener Begründung und Fundierung, im Grunde der These gehuldigt, daß sich das Abendland des 19. Jahrhunderts im Niedergang befinde. Der Kreis Stefan Georges dachte in derselben Richtung. E. von Hartmanns universaler Geschichtspessimismus zielte gleichfalls auf eine geschichtsphilosophische Dekadenzlehre hin. Nur das satte Behagen der deutschen Oberklassen während des Wilhelminischen Zeitalters konnte diese warnenden Stimmen über hören lassen und den Schein erzeugen, daß man über Fortschritt und Aufstieg Europas so einig sei, wie es etwa Hegel und in anderer Form und Art die Positivisten Comte und Spencer gelehrt hatten. Freilich maßten sich alle diese genannten Denker n i c h t an, astronomisch voraussagen zu können, was in Zukunft sein und geschehen werde, so wie es Spengler auf Grund seiner vermeintlichen vagen Phasen- und Gleichzeitigkeitsgesetze getan hat, nach denen z. B. Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus innerhalb der Phasenabfolge der indischen, römischen und modernen Zivilisation "gleichzeitig" sein sollen. Es genügte ihnen so wie es allein möglich und sinnvoll ist, von Niedergangstendenzen zu reden, deren Realisierung durch die ursprüngliche Freiheit der menschlichen Persönlichkeit oder doch durch arationale Geschichtsfaktoren auch prinzipiell umgebogen werden könne. Eine solche "Freiheit" kennt Spengler nicht, er betrachtet die großen Kulturen, die er an sich mit Recht als eine ursprüngliche Vielheit ansieht (siehe hierzu auch des Verfassers Abschnitt "Die Einheit Europas" in seinem Buche "Genius des Krieges"), wie Pflanzenvegetationen, die aus der "mütterlichen Landschaft" herauswachsen, dann einen Prozeß des Aufblühens, Alterns und Sterbens durchlaufen. Diese biologischen Analogien sind aber auf die Geschichte unanwendbar. Wertvoll dagegen ist der Versuch Spenglers, a l l e Sphären der geschichtlichen Güterwelt (Wissenschaft, Künste, Staatsformen usw.) auf die Einheit einer "Kulturseele" zurückzubeziehen, und ihre Strukturidentität aufzuweisen. Die Durchführung des Gedankens, den auch Dilthey, Duhem (siehe "Geschichte der physikalischen Theorien"), Scheler und andere längst aufgenommen hatten, ist indes oft überaus spielerisch und willkürlich (vergleiche dazu das Heft des "Logos" indem sich eine Reihe von Forschern mit Spengler beschäftigen). Zur Kritik Spenglers ist schon eine kleine Literatur erschienen, aus der ich Th. Haerings "Die Struktur der Weltgeschichte" (1921), die Schrift von H. Scholz "Zum Untergang des Abendlandes" (1920) und Götz Briefs "Untergang des Abendlandes, Christentum und Sozialismus" (1920), Kurt Breysigs "Der Prophet des Untergangs" hervorhebe. Ganz wesenlos, verworren, unbestimmt und überdies aus den mannigfaltigsten verschwiegenen Anregungen zusammengeflossen sind die philosophischen und erkenntnistheoretischen V o r a u s s e t z u n g e n des Buches. Sie enthalten einen Relativismus, der sich im tiefsten Gegensätze befindet zu aller ernsthaften gegenwärtigen Philosophie, und sind nur ein letzter Nachklang des romantischen Historismus der Vorkriegszeit und seiner verantwortungslosen, sich in alles und jedes "einfühlenden" schauspielerischen Verwandlungskunst — Haltungen, von der heutigen J u g e n d mit Recht scharf zurückgewiesen werden. Wenn wir nicht glauben, daß Spenglers Werk seinen Tageserfolg, stark mitbedingt durch die psychischen Dispositionen eines geschlagenen Volkes, dessen gegenwärtiges Elend und Niedergangsgefühl gleichsam wie von einem gewissen "Troste" vergoldet scheint, wenn sich auch das Ganze des Abendlandes, dessen Teil es ist, in einer absteigenden Richtung befindet so daß man gewissermaßen sagen kann auch jetzt wieder: "Deutschland in der Welt voran" — wenn auch in absteigender Richtung — überdauern wird, so erhoffen wir um so Wertvolleres von anderen wichtigen Erscheinungen der gegenwärtigen Soziologie und Geschichtsphilosophie.



Das Grundbuch der deutschen Soziologie wird noch auf lange Zeit hinaus Ferdinand Tönnies' "Gemeinschaft und Gesellschaft" bleiben, das erst langsam seine volle Bedeutung auswirkt. Max Weber, dessen Werke jetzt gesammelt erscheinen, hat uns noch kurz vor seinem Tode mit seinen großangelegten religionssoziologischen Untersuchungen über die Religionsformen Chinas, Indiens und der verschiedenen kirchlichen Bildungen des Christentums beschenkt, die sich seiner ungemein wirksamen Untersuchung über die Bedeutung der calvinistischen Religiosität und systematischen Selbstkontrolle für die Ausbildung des "kapitalistischen Geistes" würdig angereiht haben. Die Bedeutung der Weltreligionen für die soziale Struktur der Völker und für ihre Wirtschaftsgesinnung ist in diesen Untersuchungen überaus großartig hervorgetreten. Nimmt man noch hinzu die bekannten "Soziallehren der christlichen Kirchen von E. Troeltsch und die Untersuchungen von P. Honigsheim Über den Einfluß des Jansenismus auf die französische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" so ist in diesen Arbeiten ein bedeutendes, zusammenhängendes Bild entstanden von der soziologischen Bedeutung der Religion überhaupt (vgl. auch des Verfassers "Abhandlungen und Aufsätze"). In anderer Richtung hat Werner Sombart in seinen Kapitalismusbüchern und seinem "Bourgeois", vor allem aber in der neuen Auflage seiner "Grundlagen des modernen Kapitalismus" nun eine s y s t e m a t i s c h e A n o r d n u n g aller Kausalfaktoren für die Entstehung der Phasen des modernen Kapitalismus gegeben, die den älteren Einwänden gegen seine Aufstellungen weitgehend standhält. Sein zu erwartendes Buch über die geistesgeschichtlichen Bedingungen des modernen Sozialismus, zu dem er sein bekanntes "Sozialismus und soziale Bewegung" umzuarbeiten im Begriffe ist, wird über die Entstehung besonders der marxistischen Theorien neues Licht verbreiten. Die neuen, in den Schriften der Kantgesellschaften herausgekommenen Untersuchungen von E. Troeltsch über die bisherigen Formen der Soziologie seit Comte und über die dialektische Methode Hegels haben gleichfalls über die Entstehung des Gegensatzes unserer deutschen Geschichtsauffassung von der bei den Westvölkern vorliegenden Auffassung uns wichtige Einsichten erschlossen. Erwägt man dazu, daß die gesamte marxistische Soziologie (siehe dazu die neueren Arbeiten von J. Plenge, Lederer, Cunow, Lensch, Schumpeter, Renner, R. Michels, Max Adler und anderer) sich in der tiefgehendsten Krisis befindet, in der sie sich seit der Auseinandersetzung von Lassalle und Marx befunden hat, so wird man die langsam beginnende geschichtsphilosophische und soziologische Auseinandersetzung der sozialistischen und bürgerlichen Soziologie und Geschichtsauffassungen nicht gering anschlagen dürfen. Was uns gegenwärtig vor allem notwendig ist, das wäre eine neue, auf der Gesamtheit der durch diese Literatur erschlossenen empirischen Einsichten fußende T h e o r i e d e r h i s t o r i s c h e n K a u s a l f a k t o r e n, die insbesondere die O r d n u n g ihrer Wirksamkeit genau bestimmt und feststellt, und die zugleich mit allen bisherigen Einseitigkeiten, vorwiegend spiritueller und naturalistischer Geschichtsauffassungen, endgültig bricht. Der Verfasser ist damit beschäftigt, in einem demnächst erscheinenden Buche über die Gesellschafts- und Geschichtslehre des "Solidarismus" eine solche Theorie zu entwickeln. —

Wenn man die ungemeine, nur noch mit dem Zeitalter Kants und Hegels vergleichbare, g e i s t i g e R e g s a m k e i t auf dem Boden der Philosophie im gegenwärtigen Deutschland (von der diese Zeilen ein schwaches, durch den Raum engbegrenztes Bild geboten haben) mit dem vergleicht, was gegenwärtig in den Ländern der Sieger auf diesem Boden geschieht, so ist — wie alle, die vom Ausland zu dem Verfasser nach Köln kommen, bezeugen — der Abstand ein u n g e h e u e r g r o ß e r. Dieser Eindruck ist, wenn man noch hinzunimmt, was trotz des neuen Elends des Bibliothekswesens und der geringen Aufwendungen, die seitens des Staates für die Wissenschaft und ihre Institute heute allein möglich sind, auch auf dem Boden der Naturwissenschaften und der Erfindungen geleistet wird, so stark, daß an ihm allein schon das tiefgesunkene Selbstgefühl und Selbstwertgefühl der Nation s i c h w i e d e r a u f z u r i c h t e n v e r m a g. Ein Volk, das im größten Elend seiner politischen und ökonomischen Lage zu einer solchen Fülle geistiger Anstrengungen und Leistungen fähig ist, kann nicht zugrunde gehen. Einem in gewissem Sinne tragischen Grundgesetze der deutschen Geschichte gemäß (das man preisen oder beklagen mag) wird auch diesmal die Nation; gerade aus ihren tiefsten Leiden und Nöten heraus, mit neuen und frischen Energien, die ihr aus der dunklen Tiefe ihrer durch kein Geschick zerbrechlichen Seele zufließen, mit neuem Wagemut wieder zu den ewigen Sternen ihrer eigentlichen "Bestimmung" greifen. Der Philosophie kommt dabei die nicht zu unterschätzende Rolle zu, die einseitige Verfachlichung und Spezialisierung, in die das deutsche Volk vor dem Kriege so sehr versunken war, daß ihm die auch zu einer gesunden und einheitlichen Politik und zur Führung des Krieges notwendige spontane Einigungsbereitschaft und Einigungsbefähigung weitgehend gebrach, allmählich aufzulösen und damit beizutragen, eine neue, einheitlichere geistige Bildungsgestalt dem deutschen Menschen aufzuprägen.


Date: 2015-12-11; view: 731


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