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DAS WUNDER DER SPRACHE

WALTER PORZIG

Was veranlasst uns Menschen, zu sprechen? Was bringt die kleinen Kinder dazu, in erstaunlicher geistiger Anspannung die Sprache zu erwerben? Was zwingt viele Erwachsene, mit Mühe, Zeit und Kosten fremde Sprachen zu lernen? Nichts anderes, als die praktischen Bedürfnisse des Lebens. Wir wollen etwas von anderen Menschen, die Kinder wünschen ihre Umgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen, viele von uns müssen Menschen fremder Sprache veranlassen, ihre Anliegen zu erfüllen. Und es gibt kein wirksameres Mittel, diese Zwecke zu erreichen, als die Sprache, und zugleich keines, das seinen Zweck mit so geringem Kraftaufwand erreichte. Gewiss, auch ein Hund versteht es, einen Menschen zu veranlassen, eine Tür zu öffnen, die der Hund selbst nicht aufbekommt. Die Bärenmutter veranlasst ihre Jungen, das notwendige Bad zu nehmen, indem sie sie einfach ins Wasser wirft. Die Glucke lockt ihre Küchlein unter ihre Flügel, wenn sie eine Gefahr ahnt. Aber wie begrenzt sind diese Möglich­keiten, wie gebunden an eine einfache Lage und an die Bereitschaft zum Verständnis, die bei den andern Beteiligten erforderlich ist! Der Hund kann seinen Herrn nicht dazu bringen, statt über Feld in den Wald zu gehen, wenn Feld und Wald nicht un­mittelbar vor ihnen liegen. Die Bärin kann die Jungen nur zum Baden zwingen, wenn sie sich mit ihnen am Rande des Beckens befindet. Und die Glucke kann ihre Küchlein nicht in den sicheren Schuppen schicken, wenn sie sich selbst nicht hinbegibt. Hund und Bärin und Glucke müssen dabei ihren ganzen Körper zum Teil in sehr heftige Bewegung setzen, um ihren Willen zu erreichen. Ganz anders der sprechende Mensch. Er bewegt wenige Muskelgruppen, erzeugt dadurch Laute und kann so andere Menschen zu den verwickeltsten Handlungen veranlassen, nicht nur hier und jetzt, sondern an entfernten Orten und in irgendeiner Zukunft.

Das ist die erste und unmittelbarste Leistung der Sprache, die wir erleben, dass sie uns gestattet, in die Wirklichkeit einzugreifen mit einem sehr geringen Aufwand an Kraft und doch mit einer hochgesteigerten Wirksamkeit, so dass dem Sprechenden grundsätzlich die Kräfte der ganzen Sprachgemeinschaft zu Gebote stehen.

Das Eingreifen in die Wirklichkeit geschieht in erster Linie dadurch, dass ein anderer Mensch beeinflusst wird, der die sprachliche Äußerung versteht. Das ist die Aufforde­rung, eine der ursprünglichen Leistungen der Sprache. Die Formen der Aufforderung sind sehr mannigfaltig und reichen vom kurzen Zuruf, der kaum mehr ist als eine laut gewordene Gebärde, bis zum ausführlichen Befehl, der verwickelte Handlungen für die Zukunft vorschreibt. Besonders bemerkenswert aber ist, dass jede Aufforderung ihrem Wesen nach abgestuft ist, abgestuft in Nachdruck und Verbindlichkeit. Das geschieht erstens durch die Zufügung von Höflichkeitsformeln, von denen unser „bitte!" das nächstliegende Beispiel ist. Entsprechendes findet sich in allen modernen Sprachen. Durch die Existenz von Höflichkeitsformeln nehmen Aufforderungen ohne solche einen unverbindlichen „dienstlichen" Charakter an. Das beruht aber nur auf dem Gegensatz. Wo die Höflichkeitsformel nicht üblich ist, hat auch die reine Aufforderung nichts Unverbindliches.



Es gibt aber auch Aufforderungen, die sich nicht an einen andern Menschen richten, sondern an die Sachen selbst, die also in die Wirklichkeit ganz unmittelbar eingreifen sollen, nicht durch die Vermittlung von Menschen. Das sind die echten Verwünschungen und Segenssprüche. In unserm heutigen Leben sind Segen und Fluch bloße Wünsche, Entladungen einer gespannten seelischen Lage. Das ist eine andere Leistung der Sprache als die, die hier gemeint ist; von ihr wird nachher die Rede sein. Aber ursprünglich sollen Segen und Fluch wirklich die Welt verändern, Heil oder Unheil hervorbringen. Für die Leistung der Sprache ist es gleichgültig, ob der Glaube an solche Wirkungen irrig ist oder nicht. Der Sprechende verfügt jedenfalls über Formen, die eine derartige unmittelbare Aufforderung an die sachliche Wirklichkeit enthalten. Und bis mitten in unsere Gegenwart hinein erhält sich in voller religiöser Bedeutung die verwandelnde Kraft des Wortes, des geformten Ausspruchs, im Messopfer.

Aber die Sprache greift noch in anderer Weise in die Wirklichkeit ein als in Gestalt der Aufforderung. Der geformte Ausspruch ist ja selbst eine Tatsache, ein Bestandteil der Wirklichkeit, und es gibt Lagen, die gerade durch ihn geschaffen, in ihrer Eigenart und Gültigkeit bestimmt werden. Wenn der Richter verkündet: „Der Angeklagte wird freigesprochen", so teilt er nicht dem Angeklagten oder der Öffentlichkeit den Frei­spruch mit, sondern das Aussprechen dieser Formel ist selbst der Freispruch, der eben darum Freisprach" heißt. Ebenso stiftet die Formel des Standesbeamten „Hiermit erkläre ich Sie kraft Gesetzes für rechtmäßig verbundene Eheleute" die Ehe, schafft also eine für die beiden Menschen und ihre Nachkommen entscheidende Wirklichkeit. Auch der Privatmann bedient sich der Sprache zu solchem Zweck. Auf verschiedene Angebote des Kaufmanns erwidert der Kunde „Ich nehme fünf Pfund zu zwei Mark" und schließt damit den Kauf ab. Weitere Beispiele stehen einem jeden in Menge zur Verfügung. Wir nennen diese Leistung der Sprache Feststellung.

Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Feststellung hat eine sprachliche Leistung, die sich aber ganz im Bereich des Sprechenden selbst hält. Das ist der Entschluss. Wenn ich sage „Ich will mir eine Schreibmaschine kaufen", so kann das freilich eine Mitteilung an einen Bekannten sein. Aber der Ausspruch braucht gar nicht an einen zweiten gerichtet, braucht überhaupt nicht in Gegenwart eines anderen getan zu werden. Er kann das Ergebnis einer längeren Erwägung sein, das ich damit für mich selbst festlege. Ich bin zu einem Entschluss gekommen und fasse ihn in der Weise, dass ich ihn sprachlich formuliere. Entschluss und Aussprach decken sich. Der Aussprach ist die Form, in der sich in meinem Bewusstsein der Entschluss vollzieht.


Date: 2016-04-22; view: 983


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