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DER ILLEGALE CASANOVA

Mit „Pardon, Mademoiselle, ist der Platz noch frei? Stört es Sie, wenn ich mich hier niederlasse?" und „Danke bestens, es geht schon", als sie ihren überdimensionalen Koffer wegen der schwarzen Aktentasche des höflichen Herrn im Gepäcknetz zur Seite rücken

wollte, hatte Aristide bereits alle Präliminarien hinter sich gebracht. Zigarette anbieten, Schokolade annehmen („aus der Schweiz, von einer Freundin, die im Roten Kreuz arbeitet"), einen Schluck heißen Kaffee aus der Thermosflasche der Schönen probieren, sie zu einem Schluck aus der eigenen Cognacflasche veranlassen, waren die nächsten Etappen, die der Lyon-Reisende mit äußerer Gelassenheit absolvierte. Ein wenig weniger gelassen war er — aber das bemerkte die Dame nicht—, als die deutsche Zugkontrolle die Papiere zu sehen wünschte. Aber der Blick des Sicherheitsoffiziers, der jedem unmissverständlich ausdrückte: im Grunde seid ihr alle Banditen und gehört ins KZ; auf eure Ausweise pfeif ich, ich kann sowieso nicht feststellen, ob sie echt oder gefälscht sind; und ich weiß, dass ihr nur auf den Tag lauert, an dem .wir aus Frankreich hinausge­schossen werden! — dieser unverhohlen misstrauische Blick fand in dem aufgeschlossenen freundlich-naiven Gesicht Aristides nichts, was seinen besonderen Ver­dacht hätte erregen können. Der Deutsche gab Aristide zwei Ausweise zurück, den eigenen und den seiner zarten Nachbarin.

„Entweder ist er Psychologe, oder ich bin ein Trottel", sagte Aristide, als er der Eigentümerin den Ausweis wieder gab, und fügte nach einer absichtlichen Pause, während der er einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln der Schwarzhaarigen eingefangen hatte, hinzu: „Er hält uns für ein Paar."

Die Dame, von der galanten, leicht blasierten Gleichgültigkeit des Mannes beeindruckt, der neben ihr saß, las derweilen seinen Namen auf dem Ausweis, den er noch immer vor sich in der Hand hielt: Aristide Deligny, Ingenieur des ponts et chaussees. Sie ahnte nichts von seiner inneren Erregtheit, von seinem intensiven, lauernden, alles registrierenden Wachsein. „Seit wann verstehen Straßenbauingenieure etwas von Psychologie?" sagte sie nach einer Weile ohne Betonung.

Aristide antwortete sofort: „Die Alternative war ja, dass ich ein Trottel bin, dass jeder Ochse mein Innenleben von meiner Nasenspitze ablesen kann."

„Wie wünschen Sie, dass ich das verstehe?"

,,So, wie Sie es verstehen möchten — wenn ich schon wünschen darf."

„Und wie möchten Sie, dass ich es möchte?"

Jetzt erhob sich Aristide, ebenso verführt von ihrem Charme wie beglückt von der willkommenen Ablenkung, bot seiner Nachbarin mit einer leichten Verbeu­gung den Arm und bat sie, ihn in den Speisewagen zum Abendessen zu begleiten. Ob die Dame von der prompten Reaktion des jungen Mannes wirklich verblüfft war oder ob sie nur tat, als sei sie es, hätte Ari­stide in diesem Augenblick allerdings nicht sagen können; es schien ihm aber belanglos.



Im Speisewagen mussten die beiden warten, um Plätze zu bekommen. Über die Hälfte der Gäste wären deutsche Offiziere. Endlich wurden zwei Fensterplätze frei. Das Menü war mager, aber appetitlich serviert, und das glich bis zu einem gewissen Grad die fehlen­den Kalorien aus. Außerdem gab es seltsamerweise Kakao, und obgleich weder Aristide noch seine Begleiterin in Friedenszeiten jemals zu strohigem Kabeljaufilet Kakao getrunken hätten, taten sie es an diesem Abend mit Genuss und bestellten eine zweite Portion. Über das merkwürdige Menü und über ihre kindliche Freude daran mussten beide lachen. Ein paar Gäste wandten sich um, unter ihnen auch ein deutscher Offizier, dessen Gesicht indessen mehr Beunruhigung als strafenden Verweis ausdrückte. Die Tischnachbarin flüsterte Aristide, der wieder sein naiv-verständnisloses Gesicht aufgesetzt hatte; ins Ohr: „Man kann es verstehen, dass denen der Sinn für Humor vergangen ist, zumal sie keinen hatten!"

„Etwas verlieren, was man nicht besaß, das ist lustig ...!"

In diesem Augenblick wurde der Zug von einem Ruck gepackt, der alle Fahrgäste durcheinander rüttelte. Die spärliche Beleuchtung erlosch. Die Wagen zuckten noch zweimal und blieben stehen. Stimmengewirr, Fluchen, vor allem in deutscher Sprache, Stoßen und Drängeln und immer wieder die Worte: „'raus, alles 'raus!'.'— „In Deckung gehen!"

Aristide und seine Begleiterin befanden sich plötzlich draußen. Wie sie hinausgelangt waren, wussten sieselbst nicht. Jetzt lagen sie hinter der Böschung

undlauschten. Als Aristide das Wespengesumm heran­rasender Jagdmaschinen hörte, riss er seine Nachbarin mit beiden Armen vom Boden hoch und zog sie fort. Er rannte mit ihr etwa fünfzig Meter, bis das Maschinengewehrfeuer des ersten Tieffliegers auf den Zug nie­derzuprasseln begann. Beide warfen sich hin, Aristide drückte den Kopf der Frau tief ins Gras. Ein zweiter Tiefflieger jaulte heran, verschoss seine Garben und verschwand. Die Deutschen hatten ein Maschinengewehr in Stellung gebracht und ballerten gegen die Flugzeuge, aber das Schießen klang nicht überzeugend. Es wurde bald unterbrochen und versandete schließ­lich, obwohl die Flieger noch dreimal zurückkehrten. Dann war wieder Ruhe. Im Dreivierteldunkel der mondlosen Nacht sah man überall Gestalten sich erheben und dem Zug zustreben. Deutsche Kommandorufe wurden laut.

„Ich danke Ihnen, Monsieur Aristide."

„Wofür?"

„Sie scheinen Erfahrung zu haben mit solchen Angriffen, ich reise zum ersten Mal, seit es nur noch diese gemischten Züge gibt."

„Wie heißt du eigentlich?"

Längere Pause, während der die beiden langsam dem Zug entgegenstolperten und fast über einen Mann fielen, der sich gerade fluchend aufrichtete. Es war ein Franzose. „Wie lang brauchen diese Boches noch, um zu begreifen, dass ihr dreckiger Krieg verloren ist?"

Aristide antwortete dem Mann freundlich: „Sie haben Glück, mein Guter, dass ich Franzose bin; wenn ein Deutscher Sie gehört hätte, könnten Sie unserem schönen Frankreich Lebewohl sagen."

Der Alte brummelte: „Wär’ mir egal...“ und trottete zu seinem Waggon zurück.

Als Aristide der Fluchtgefährtin auf das hohe Trittbrett half, beugte sie sich zurück, kniff ihm die Nase, gerade so, dass es weh tat, ohne zu schmerzen, und sagte: „Ariane heiß' ich, Casanova."

Aristide wusste sofort, dass sie so wenig Ariane hieß wie er Aristide, aber dieses Wissen erzeugte keinen Verdacht in ihm.


Date: 2016-04-22; view: 1260


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