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Wo die Zeit stehen bleibt. Ein Ausflug ins russische Landleben.


Das Dorf, in dem wir das Sommervergnügen unserer Moskauer Freunde Olja, Andrej und Mascha teilen, liegt bei Kineshma in der Nähe der Wolga und ist klein. Es hat nur eine Straße, daran sind die Häuser aufgefädelt wie verwitterte Holzperlen. Auf der anderen Straßenseite liegen Gärten, in denen der Wintervorrat heranwächst, und dahinter schlängelt sich ein Flüsschen. Es hat keinen Namen, heißt einfach Flüsschen. Die Frauen waschen ihre Wäsche darin. Nicht jedes Haus hat einen Brunnen. Drei Straßenlaternen gibt es im Dorf, man kann sie bei Bedarf anschalten. Bedarf ist selten – im Sommer ist es lange hell und im Winter ist keiner da, der bei Dunkelheit auf die Straße gehen würde. Es sind kaum zehn Leute, die den Winter hier verbringen, alte Frauen, die die Einsamkeit nicht fürchten und auf die Ziegen und Hühner Acht geben.

Oljaist Professorin an einer medizinischen Akademie und forscht über Spurenelemente, Andrej ist Mathematiker und nebenberuflich Pionier des Fahrradbreitensports in Russland. Mascha besucht die zehnte Klasse und will nächstes Jahr ein Chemiestudium an der Lomonossow-Universität beginnen. Sie wohnen in einer der „Kerzen“, einem runden Fünfundzwanzigstöcker, die in den letzten Jahren an den Rändern Moskaus gebaut wurden. Ihr Alltag ist aufreibend, nach der Schule besucht Mascha Vorbereitungskurse an der Uni, an drei Tagen in der Woche, allein für die Fahrt mit der Metro braucht sie drei Stunden für Hin- und Rückweg. Andrej konnte es sich einrichten, seinen Arbeitstag gegen den Berufsverkehr zu takten, er ist von elf Uhr morgens bis elf Uhr abends unterwegs. Sonst kommt man in Moskau nicht durch. Olja reist häufig zu Konferenzen und Vorträgen, kann sich aber ihre Zeit sonst relativ frei einteilen. Ohne das Dorf, ohne die saubere Luft und das gesunde Essen wären wir nicht in der Lage, unser Leben auszuhalten, meinen sie. Ihr Haus ist beinahe hundert Jahre alt. Ein stattliches, geräumiges Haus, in dem es nach Holz und Trockenfrüchten duftet. Sie finden es sehr bequem. Olja und Andrej werden demnächst fünfzig Jahre alt. Sie können sich vorstellen, ihre späteren Jahre ganz auf dem Dorf zu verbringen.

Torf war ein Reichtum dieser Gegend. Manchmal, in heißen Sommern, brennen die unterirdischen Torflager, dann zieht beißender Rauch durch die Luft. Meist aber ist die Luft rein. Die Sommergäste baden im Flüsschen, paddeln mit dem Schlauchboot durch die Binsen, fahren Fahrrad, sammeln Pilze oder verbessern ihr Haus. Die wichtigste Verbesserung ist die Einrichtung einer Banja. Die Banja ist ein obligatorischer Bestandteil der russischen Erholung. Es geht um die Gesundheit und um das Gemeinschaftserlebnis, man plaudert mit Freunden, wärmt sich, stöhnt wohlig bei den Aufgüssen, schlägt sich mit Birkenreißern, reibt sich mit duftendem Honig ein und stürzt sich ins Flüsschen. Anschließend gibt es Schaschlik und Bier.



Kommunismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes, hatte Lenin verfügt. Mit der Elektrifizierung wurde Ernst gemacht. Stromleitungen ziehen sich zu jedem noch so abgelegenen Haus. Kühlschrank, Fernseher und Radio gib es überall. Wäre Lenin nicht so flüchtig gewesen, und hätte die Losung ausformuliert, zum Beispiel die Kanalisation einbezogen, und fließendes Wasser, und asphaltierte Straßen, dann wäre das Leben der Dorfbewohner nicht so schwierig. Aber die Schwierigkeiten kamen natürlich nicht von den Unzulänglichkeiten des Neuen, sondern von der Zerstörung des Alten. Als die Bauern in den Kolchos gepresst wurden, als die besten Bauern von ihrem Land in die Erzbergwerke von Magnitogorsk getrieben wurden, als die jüngeren angesichts des Elends ihre Dörfer verließen und sich schworen, niemals wiederzukommen, war die Todesstunde des russischen Dorfes eingeläutet.

Fotografier uns, bitten die Babuschki, uns und unsere Enkel. Und fotografier den Obelisken. Es ist das einzige Denkmal in unserem Dorf. Ich tue ihnen gern den Gefallen. Der Obelisk erinnert daran, dass die Zeit nicht gänzlich innehielt. Er steht für die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, es sind viele. Die Jungen aus dem Dorf. Der Krieg war die dritte Entvölkerungswelle nach der Entkulakisierung und dem großen Terror. Die vierte Welle verlief schleichend – die zunehmende Trunksucht der männlichen Landbevölkerung, die kaum als soziales Problem wahrgenommen wird. Es ist eben so, gehört zum russischen Charakter. Gut arbeiten, gut feiern, so machen das die Russen. Aber auch umgekehrt, trinken, weil es keine Arbeit gibt, keinen Sinn und keinen Ausweg. Wodka, auch selbstgebrannt, ist akzeptierte Währung und Mittel gegen alles, gegen Bauchschmerz und Weltschmerz. Vor einiger Zeit hat es wieder einen Todesfall gegeben: Shenja und Borja sollten einen Brunnen graben. Der Auftraggeber hat sie mit Wodka entlohnt. Ob es an der Augusthitze lag oder ob der Wodka gepanscht war, Shenja hat die Feier der Fertigstellung nicht überlebt. Nun herrscht Betroffenheit, wieder ein Mann weniger, man kann sie ohnehin an den Fingern abzählen.

Die Frauen sind zäher, sie haben alles überstanden, die Plackerei, die Entbehrungen, den Kummer. Oma Galja wird achtzig in diesem Jahr. Sie fühlt sich wohl im Dorf, es ist kaum anders, als in ihrer Kindheit. Wasser holen, den Ofen heizen, kochen, den Garten besorgen, Wintervorräte anlegen, das ist selbstverständlich für sie. Und wenn die Kinder kommen, ist sie glücklich. Den Winter aber verbringt sie in der Stadt, und wie lange es noch gehen wird, dieses Hin und Her, das weiß Gott allein.

Die Zerstörung des russischen Dorfes war kein spontaner Prozess, sondern politischer Wille. Die Wiederbelebung des russischen Dorfes ist kein politischer Wille, sondern erfolgt spontan. Seit die Russen Autos haben, kommen sie auch wieder ins Dorf. Zumindest im Sommer. Andrej nimmt jedes Wochenende den weiten Weg aus Moskau auf sich, er braucht das Dorf als Ausgleich zur Großstadt, Moskau bringt mich um, sagt er. Ein Drittel der Häuser im Dorf gehört Moskauern, sie bewohnen ihren Landsitz im Sommer mit der erweiterten Großfamilie, den Freunden und Freunden der Freunde. Platz gibt es genug. Immer wieder hört man von Enthusiasten des russischen Landlebens, die das Land bewirtschaften wollen. Sie kommen und gehen, das Klima lässt nur Risikolandwirtschaft zu. Es gibt keine Arbeitskräfte. Und das Land selbst ist praktisch unverkäuflich, Niemandsland, aber die Versuche, es zu privatisieren, scheitern immer noch an der Bürokratie. Früher wuchs hier Flachs, im Sommer war, so weit das Auge reichte, alles blau. Leinen aus Kineschma und Kostroma galt als besonders haltbar, das Segeltuch wurde selbst nach England exportiert. Heute wächst auf den Feldern nichts mehr. Die Relikte der Kolchosen sind von Pionierpflanzen überzogen. Wir dachten, dass wir Sibirien erobern, und nun erobert Sibirien uns, sagt Olja. Die Felder werden von Gestrüpp und Birkensämlingen überwuchert, eine große Ruhe liegt in diesem langsamen Vordringen der Wildnis, etwas Lebloses, Ergebenheit in sein Schicksal.

Aber jetzt blüht der Dill in den Gärten und verbreitet Sommergeruch. Gurken gibt es hier, die zart und knackend im Mund zerbrechen. Die Kartoffeln aus Oma Galjas Garten sind würzig und man kann sie mit Pfifferlingen aus dem Wald zubereiten. Andrej ist losgegangen, um Birkenreißer zu schneiden. Am Nachmittag wird er die Banja heizen. So lange hat sich Mascha in die Banja zurückgezogen, um für die Aufnahmeprüfung an der Chemischen Fakultät zu lernen. Oma Galja kocht Haferflockenbrei für alle. Am Abend wird Mascha losgehen und die Straßenlaternen anschalten.

 


Date: 2016-03-03; view: 1022


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