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TrostpflastervonAnne Hertz

 

1. Kapitel

Uiii! Guckt mal, eine Braut!«

»Oh, sieht die toll aus!« Begeistert winkt mir eine Gruppe Schulkinder zu, die bei schönstem Sommerwetter neben dem Kirchenportal steht. Zufälligerweise in genau dem Moment, in dem ich versuche, mich trotz Schleppe, bodenlangem Schleier und dreier Unterröcke möglichst elegant aus dem Fond der festlich geschmückten Limousine zu winden. Ich kann es mir nicht verkneifen, huldvoll zurückzuwinken. Wahnsinn – ich fühle mich wie Lady Di beim Eintreffen vor St. Paul’s Cathedrale! Mittlerweile ist meine beste Freundin und Trauzeugin Katja um das Auto herumgelaufen, um mir zu helfen. Als ich endlich stehe, zupft sie mir das Kleid und den Schleier zurecht, überprüft noch einmal den Sitz meiner aufwendigen Hochsteckfrisur und drückt mir den Brautstrauß in die Hand: weiße und cremefarbene Rosen, passend zu meinem Traum aus Duchesse- Seide und Organza. Katja umarmt mich kurz, dann spuckt sie mir über die rechte Schulter. »Toi, toi, toi – wird schon gutgehen!« Mein Vater taucht neben ihr auf, sehr elegant im dunklen Anzug mit Fliege. Er sieht noch nervöser aus, als ich mich fühle, aber trotzdem versucht er, mir aufmunternd zuzuzwinkern. »Na, meine Schöne?« Seine Stimme zittert leicht, doch dann räuspert er sich und strafft die Schultern. »Dann mal auf in die Schlacht!« Ich hake mich bei ihm unter und lasse mich von ihm zum Eingang führen – jetzt wird’s ernst! Als wir in die Kirche kommen, brauche ich erst einmal einen Augenblick, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Dann erkenne ich, dass die Hochzeitsgesellschaft ein Spalier bildet: links die Damen, rechts die Herren. Meine Mutter steht neben ihrer Schwester und hat schon das Taschentuch gezückt. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Frauen unserer Familie sehr nah am Wasser gebaut haben – auch meine Oma wühlt bereits hektisch in ihrer Handtasche. Papa und ich schreiten den Mittelgang hinunter, langsam und erhaben zum Takt von Pachelbels Kanon, den ein von mir höchstpersönlich engagiertes Kammerorchester spielt. Im Geiste summe ich mit, setze mit jedem Geigenstrich einen Fuß vor den anderen: Hhhmmm, hhhmmm, hhhmmm, hmmmm. Ja, genau so habe ich es mir vorgestellt, genau so sollte es immer sein. Kurz vor dem Altarraum treffen Papa und ich auf den Pastor, der dort schon mit Paul wartet. Mein Zukünftiger sieht einfach umwerfend aus: Der elegante hellgraue Cut mit Weste betont seine gute Figur, er wirkt fast so, als wäre er einem Katalog für festliche Herrenmode entsprungen. Ja, ich weiß, dass das jetzt nach Angeberei klingt. Aber es ist so! Pauls blonde Haare sind heute für seine Verhältnisse sehr ordentlich gestriegelt, ich muss mich beherrschen, ihm nicht gleich über den Kopf zu wuscheln. Mit seinen großen braunen Augen strahlt er mich an, und als ich schließlich neben ihm stehe, flüstert er mir ins Ohr: »Du bist wunderschön – ich bin ein sehr glücklicher Mann!«



Mir wird heiß und kalt. Endlich ist er da, der Moment, auf den ich so lange gewartet habe. Nachdem die Gäste Platz genommen haben und auch Paul und ich auf den samtbezogenen Louis-XV-Stühlen vorm Altar sitzen, tritt eine Sängerin oben auf die Empore und schmettert Mozarts Laudate Dominum. Als der helle Klang ihrer Stimme die gesamte Kirche erfüllt, muss ich mit den Tränen kämpfen. Die Entscheidung für ein wasserfestes Make-up war auf alle Fälle schon mal richtig. Während wir auf den mit Rosen geschmückten Stühlen neben einander sitzen, drückt Paul immer wieder meine Hand. Er scheint zu merken, wie aufgeregt ich bin. Tatsächlich beruhigt mich das etwas, und als die eigentliche Trauzeremonie beginnt, bin ich wieder einigermaßen bei mir. »Paul Ewald Meißner«, stellt der Pastor schließlich die eine, die wichtige Frage, »willst du diese Julia Marie Lindenthal, die Gott dir anvertraut, als deine Ehefrau lieben und ehren und die Ehe mit ihr nach Gottes Gebot und Verheißung führen, in guten wie in bösen Tagen, bis der Tod euch scheidet? So antworte: Ja, mit Gottes Hilfe.« Paul blickt mir in die Augen, schaut zum Pastor, holt tief Luft und sagt klar und deutlich: »Ja, mit Gottes Hilfe.«

Dann wendet sich der Pastor an mich. »Und du, Julia Marie Lindenthal, bist du bereit, jetzt endlich in den Konferenzraum zu kommen?« Ich traue meinen Ohren nicht. Wie bitte?


»Hallo, Frau Lindenthal, kommen Sie bitte? Wir warten alle nur noch auf Sie!« Völlig entgeistert starre ich den Pastor an. Er starrt zurück. »Frau Lindenthal, ist Ihnen nicht gut?«

»Ich, äh, also … doch, doch, alles in Ordnung.« Jetzt weiß ich endlich, warum mir der Pastor so bekannt vorkommt: Es ist mein Chef, Herbert Teschner! Was in gewisser Weise Sinn macht, denn leider stehe ich nicht bei meiner Trauung vorm Altar von St. Gertrud, sondern sitze an meinem Schreib - tisch im vierten Stock der Fidelia-Versicherung, Abteilung Rechnungswesen. Anscheinend habe ich die letzten fünfzehn Minuten mit offenen Augen geträumt. Und nun steht Teschner vor mir und guckt mich böse an. Wie konnte ich nur vor lauter Träumerei die für heute anberaumte Betriebsversammlung vergessen? So ein Mist! Immerhin ist die Besprechung schon seit Tagen das Thema in unserer Abteilung. Alle Mitarbeiter der Hauptverwaltung haben Anwesenheitspflicht. Die wildesten Gerüchte kursieren, von »Umstrukturierung«, »Sanierung«, sogar »Auflösung « ist die Rede. Und ausgerechnet diesen Termin habe ich verbaselt? Kein Wunder, dass Teschner so sauer ist – schließlich kommt der Vorstand, da will mein Boss mit seiner Abteilung natürlich einen guten Eindruck machen.

»Äh, ja, sicher, ich war schon auf dem Weg!« Ich springe auf und greife nach meinem Notizblock, lasse ihn allerdings in letzter Sekunde doch liegen, weil unter ihm eine Ecke der neuesten Ausgabe von Braut und Bräutigam hervorlugt. Wenn Teschner jetzt auch noch dieses Magazin auf meinem Schreibtisch entdeckt, erschießt er mich bestimmt standrechtlich. Wortlos hetzen Teschner und ich zum Konferenzraum, auf Small Talk verzichte ich jetzt lieber. Er stößt energisch die Tür auf und setzt sich – natürlich ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen – nach vorne zu den anderen Abteilungsleitern und direkt neben unseren Finanzvorstand Dr. Henning Schümann. Ich versuche, so unauffällig wie möglich weiter hin ten auf einen noch leeren Platz zwischen meine Kollegen zu huschen. Wobei unauffällig natürlich ein dehnbarer Begriff ist, wenn man als Einziger zehn Minuten zu spät kommt und noch dazu vom Chef höchstpersönlich herbeigezerrt wurde.

»So, meine Damen, meine Herren, sind wir denn jetzt endlich vollzählig?«, beginnt Schümann und starrt überdeutlich in meine Richtung. Boden, tu dich auf, verschling mich! Aber natürlich passiert nichts dergleichen, nur drei Köpfe in der Reihe vor mir drehen sich in meine Richtung und grinsen mich dämlich an. Danke, ihr Lieben!

»Wie Sie sicherlich wissen, ist die Fidelia-Versicherung schon seit Monaten in einer schwierigen Lage«, fährt Schümann fort. »Während der Wettbewerb insbesondere bei den fond gebundenen Riesterrenten zum Teil Zuwachsraten von über zwanzig Prozent aufweist, haben wir auf diesem Geschäftsfeld sogar eine rückläufige Entwicklung hinnehmen müssen – und das, obwohl wir als eine der ersten Gesellschaften mit diesem Produkt am Markt waren.« Er wirft einen ernsten Blick in die Runde. »Die anderen Versicherungsbereiche sehen leider nicht viel besser aus, und auch die Übernahme der Sicurenza- Versicherung in München ist bei weitem nicht so reibungslos verlaufen, wie wir uns das gewünscht hätten.

« Mit seiner sonoren Stimme fährt Schümann fort, die Lage der Fidelia-Versicherung in den finstersten Farben zu schildern. Irgendetwas sagt mir, dass unser Finanzvorstand nicht vorhat, es heute bei einem Kinder, dieses Jahr gibt es leider kein Weihnachtsgeld zu belassen. Meinen Kollegen geht es offenbar genauso, unruhig rutschen sie auf ihren Stühlen hin und her. Die ganze Situation erinnert mich fatal an jenen kurzen, aber unangenehmen Moment, der entsteht, wenn der Mathelehrer eine sehr schlecht ausgefallene Arbeit an die Klasse zurückgibt und vorher noch ein paar mahnende Worte verliert.

»Kurzum, meine Damen und Herren, die Lage ist ernst, sehr ernst. Ich möchte Ihnen deshalb heute einen Herrn vorstellen, der gemeinsam mit dem Vorstand in den vergangenen Wochen die Situation analysiert hat und uns nun Wege aus der Krise aufzeigen wird. Frau Schulte«, nickt Schümann seiner Assistentin zu, »bitten Sie Herrn Hecker herein.« Eine Minute später kommt er durch die Tür, unser mutmaßlicher Retter, und baut sich selbstsicher vor uns auf. Zwei Worte, um ihn zu beschreiben? Aalglatter Schönling. Ich bin normalerweise niemand, der Menschen nur nach dem ersten Eindruck beurteilt. Generell gehe ich immer erst mal vom Guten aus. Aber wie dieser Hecker nun vor uns steht – etwa Mitte bis Ende dreißig, den Astralkörper in teures Tuch gepackt, die vollen schwarzen Haare zurückgegelt, dazu eine selbstherrliche Gestik ohnegleichen –, da kann auch ich nicht anders, als ihn sofort in diese Kategorie einzusortieren. Ein Blick auf meine Sitznachbarin sagt mir, dass sie offenbar gerade das genaue Gegenteil denkt. Kollegin Doreen Krüger wirft dem Kerl – jetzt bemerke ich, dass er unter seinem Anzug auch noch ein rosafarbenes Hemd trägt, uahhh! – einen nahezu schmachtenden Blick zu. »Wow«, flüstert sie mir zu, »endlich mal ein gutaussehender Typ hier in diesem Laden.«

»Das findet er selbst offensichtlich auch«, zische ich zurück.

»Gegen ein gutes Selbstbewusstsein ist doch nichts einzuwenden «, erwidert sie und himmelt ihn weiter an. Schon fast peinlich ist das, wie sie kokett die Haare zurückwirft und einen Schmollmund macht. Wie kann eine Frau nur derart das Weibchen mimen? Aber gut, Doreen begutachtet eigentlich jeden Kerl zuerst einmal unter dem Aspekt der potenziellen Partnertauglichkeit. Das habe ich ja zum Glück nicht nötig, Paul und ich sind schon seit Ewigkeiten zusammen und wollen nächstes Jahr im Sommer heiraten, da können mir andere Kerle wurscht sein. Bei dem Gedanken an Paul schweife ich unwillkürlich wieder ab und denke an die Liste, die ich heute Vormittag erstellt habe. Im Internet habe ich eine tolle Vorlage zur Hochzeitsplanung entdeckt und mir gleich mal heruntergeladen.

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.


Date: 2016-03-03; view: 733


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