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Das Glück ist eine Baustellevon Sabine Neuffer

 

Was für ein wunderschöner Morgen, dieser Montagmorgen im April. Die Luft prickelte im Sonnenlicht. An Bäumen und Büschen klebte zartes Grün wie hingehaucht.

Ich trat lustvoll in die Pedale, spürte den Fahrtwind auf meinem Gesicht und in den Haaren. Ich freute mich am Leben und auf meinen Laden. In diesem Sommer wollte ich dort ein großes Fest feiern – zehn Jahre gab es mein kleines Goldschmiedeatelier nun, das war doch was.

Ich fuhr etwas gemächlicher, atmete tief, ließ mich rollen, genussvoll in dem Gefühl vollkommener Sorglosigkeit. War es mir je in meinem Leben besser gegangen? Hatte ich mich nicht prächtig berappelt? Wenn ich zehn Jahre zurückdachte . . . Frisch geschieden, verstrickt in eine leidenschaftliche Affäre, die in noch leidenschaftlicheren Tränen geendet hatte, Ilka erst vierjährig und quengelig: Ich hatte mich mit meinen achtundzwanzig Jahren uralt gefühlt.

Und heute? Erholt nach einem Skiurlaub, den Kopf voller Ideen für eine neue Schmuckkollektion, das Herz an niemanden verloren. Wirklich, das Leben war großartig einfach . . .

. . . bis ich um die Ecke zu meinem Laden bog. Ich bremste so abrupt, dass ich fast über den Lenker geflogen wäre. Im letzten Moment fing ich mich, sprang auf beide Füße, umkrallte die Lenkstange und glaubte nicht, was ich sah.

Was für ein Morgen, dieser Montagmorgen im April. Hatte ich gerade noch von prickelnder Luft, Lebenslust und Sorglosigkeit gefaselt? Jetzt war ich bereit, einen Mord zu begehen, einen hübsch langsamen Lynchmord. Bloß – an wem? Wer tat mir so etwas an?

Mein schönes Schaufenster – den Rahmen hatte ich eigenhändig dunkelrot gestrichen – war hinter einem riesigen Schuttcontainer verschwunden, das liebe, kleine Fachwerkhaus hatte man eingeschnürt in ein Baugerüst, von dem hässliche, hellblaue Planen flatterten, die böse auf meinen goldenen Schriftzug klatschten.

«Goldladen» – Pustekuchen! Staubbutze traf es wohl eher.

Im zweiten Stock kreischte eine Säge. Oder ein Boschhammer.

Oder was weiß ich. Jedenfalls war es laut.

Auf wackeligen Beinen schob ich mein Fahrrad die letzten zwanzig Meter bis zum Radständer, riss meine Tasche vom Gepäckträger und fegte durch die offen stehende Tür neben dem Ladeneingang ins Treppenhaus. Die Wohnungen oben standen seit einiger Zeit leer. Wenn sie wieder vermietet worden wären, hätte ich das doch mitgekriegt! Was hier geschah, musste illegal sein. Hausbesetzer? Eine Bürgerinitiative zur Beseitigung historischen Fachwerks? Ein Kreissägenmörder?

Da kam er mir schon entgegen. Und – ich hatte es immer geahnt, solche Typen sahen absolut harmlos aus. Derbe Breitcordjeans, Holzfällerhemd (das passte ja), Lederweste, Westernhut. Etwas angestaubt. Knallblaue Augen, Dreitagebart, scheinheiliges Lächeln. Hi, Terence Hill, wo ist die Knarre?



Ich nahm die letzten drei Stufen bis zum Treppenabsatz, denn ich wollte zumindest auf gleicher Höhe sein. Wenn man dem Feind gerade mal bis zum Bauchnabel reicht, hat man schon von vornherein verloren.

Nun waren wir wenigstens auf Augenhöhe – fast. Ich mogelte mich noch eine Stufe höher.

«Können Sie mir mal verraten, was das hier soll?», schrie ich gegen den ohrenbetäubenden Lärm an, der kein bisschen nachgelassen hatte.

Terence lächelte verbindlich, staubte seine Hand an der Hose ab und streckte sie mir entgegen. «Frau Lages, endlich! Ich habe seit zwei Wochen versucht, Sie zu erreichen!», brüllte er. «Kommen Sie, lassen Sie uns hinausgehen, hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht!»

Ich hatte automatisch seine Hand ergriffen – blöd wie der Pawlow’sche Hund, der halt nicht anders kann, als mit dem antrainierten Reflex auf einen Schlüsselreiz zu reagieren. («Hannah, Schatz, gib schön das Händchen, nein, das andere. Und nicht die Zunge rausstrecken!») Nun zog der Mensch mich einfach die Treppe hinab, ließ mir ritterlich den Vortritt ins Freie und lehnte sich dann nonchalant an den dreckigen Container.

«Es tut mir leid, dass Sie nun so überrumpelt worden sind, aber wirklich, ich habe tausendmal versucht, Sie anzurufen.» Er betrachtete mich interessiert. «Sie waren im Urlaub, stimmt’s?»

Nach zwei Wochen in den Dolomiten hob sogar ich mich etwas von den norddeutschen Bleichgesichtern ab, das musste selbst einem verstaubten, verstoppelten Lederwestencowboy auffallen. «Wer sind Sie überhaupt?», blaffte ich. «Was soll das ganze Theater hier?»

Er lächelte. Charmant, dachte er wohl, aber ich fand’s bloß selbstgefällig. «Ich gebe ja zu, wir sind uns erst einmal begegnet, doch ich hatte gehofft, einen etwas nachhaltigeren Eindruck auf Sie gemacht zu haben.» Er zwinkerte mir vertraulich zu. «Ich bin Dirk Mainwald, Ihr Vermieter.»

Ach, du große Güte. Dann hatte er ja alles Recht der Welt, dieses Haus auf den Kopf zu stellen! Aber – ich musterte ihn misstrauisch – war das wirklich Dirk Mainwald? Irgendwie hatte ich den total anders in Erinnerung. Zugegeben, wir hatten uns vor zehn Jahren nur einmal kurz gesehen, als ich den Mietvertrag

abgeschlossen hatte, aber so täuschen konnte mich meine Erinnerung doch nicht, oder? Dirk Mainwald war ein Schnösel.

Nadelstreifen, farblose Krawatte, pingelig rasiert, akkurater Kurzputz, ein aalglatter Unsympath. Ich war so froh gewesen, zu hören, dass er in Zürich lebte und ihn das Haus hier, das er von seiner Mutter geerbt hatte, keinen Deut zu interessieren schien. Er hatte, fand ich damals, mit einer Art nachsichtiger Arroganz auf uns provinzielle Kleinstädter herabgeblickt. Was also wollte er hier jetzt – ein Duell im Morgengrauen?

«Was ist denn mit Ihnen passiert?», erkundigte ich mich irritiert.

«Sind Sie auf der Karriereleiter ausgerutscht?» Höflich war das nicht, aber immer noch besser, als ihn vors Schienbein zu treten, was ich lieber getan hätte. Er lachte, völlig entspannt. «Ach, wissen Sie, das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls habe ich beschlossen, nun hier zu leben.»

Er deutete mit einer vagen Handbewegung auf die zwei Stockwerke über meinem Laden. «Aber keine Sorge, den Laden können Sie behalten, da ändert sich nichts.»

«Aha. Und wie lange soll der Umbau dauern?», fragte ich.

«Zwei, drei Monate, dann ist . . .»

«Zwei, drei Monate?», kreischte ich gegen den Bulldozer im ersten Stock an. «Sollen meine Kunden ein Vierteljahr lang über diesen Schutt robben, um in mein Geschäft zu kommen?»

Er grinste bloß. «Der Schutt und der Container sind nächste Woche weg.Spätestens übernächste.»

Also frühestens in vier. «Was machen Sie denn da oben eigentlich? », wollte ich wissen.

Er strahlte. «Ich lasse alle Wände herausreißen. Nur die Balken bleiben stehen. Die Räume werden phantastisch, Sie werden sehen! Und nach hinten raus lasse ich die Zwischenräume des Fachwerks verglasen.»

Na prächtig. Dann war es wohl vorbei mit unseren Mittagspausen in dem kleinen verwilderten Gärtchen, wenn der uns von oben auf die Teller gucken konnte. «Ist ja herrlich», bemerkte ich süffisant und wandte mich zum Gehen. «Dann viel Spaß dabei.

Ich muss jetzt den Laden aufmachen. Falls sich doch noch ein Kunde hierher verirrt.» Ich ließ ihn stehen, kramte nach meinem Schlüssel und knallte cheppernd die Ladentür hinter mir zu. Am liebsten hätte ich geheult. Der Boschsägenhammer dröhnte markerschütternd durch das ganze Haus. Ich meinte sogar, ein leichtes Vibrieren zu spüren, als ich mich auf meinen Arbeitshocker fallen ließ. Ich fühlte mich wie im Maschinenraum eines Containerschiffs – der Blick aus dem Fenster machte den Eindruck perfekt.

Eine halbe Stunde später kam Susi. Ich war geneigt, sie als Freundin zu bezeichnen, aber das ist ein bisschen heikel, wenn man selbst die Chefin ist. Außerdem war Susi zwölf Jahre jünger als ich, Single, kinderlos und immer auf der verzweifelten Suche nach Mr. Glorios. Oder, wie sie nach einem völlig verkorksten Date einmal festgestellt hatte, wenigstens nach Mr. Akzeptabel. Ich hatte mir die Bemerkung verkniffen, dass sie erst einmal in meine Jahre kommen solle, dann würde sie einsehen, dass es nicht einmal Mr. Tolerabel gab. Nicht auf Dauer.

Susi blickte verstört, als sie den Laden betrat. «Was ist denn hier los?»

Ich erklärte ihr, was hier los war.

«Das willst du dir bieten lassen?», fragte sie fassungslos. «Und wenn das Geschäft den Bach runtergeht, weil kein Mensch auf einer Baustelle einkauft?»

Ich versuchte, sie zu beruhigen. «Ach, ein paar Wochen Flaute überstehen wir schon. Wenn keine Kunden kommen, haben wir wenigstens Zeit, etwas Neues zu machen», sagte ich wesentlich munterer, als ich mich fühlte.

Susi stieß verächtlich die Luft aus. «Und wenn wir alles fertig haben, haben sich die Leute längst nach Hamburg orientiert. Sie kommen nie wieder!»

Genau darüber hatte ich in der letzten halben Stunde ununterbrochen nachgedacht. Genau das konnte passieren.

«Quatsch», sagte ich fest. «Unser Atelier hat seine ganz eigene Note. Und vergiss nicht die Touristen. Wenn die im Sommer kommen, ist hier alles wieder okay.»

Susi schnaubte. «Die paar Touristen! Unsere Stammkunden sind viel wichtiger!»

«Ja», sagte ich niedergeschlagen. «Du hast ja recht. Aber was sollen wir tun? Der Möchtegerncowboy da oben», ich deutete mit dem Daumen an die Decke, «ist im Recht. Er kann hier machen, was er will.»

«So?» Susi funkelte böse. «Kann er? Vielleicht sollten wir mal die Bauaufsichts-behörde auf ihn hetzen? Oder diese Typen von der Denkmalspflege. Die rasten doch schon aus, wenn jemand ’nen falschen Türgriff anbringt. Und was der hier plant, ist doch wohl so eine Art Schickimicki-Loft mitten in unserer geheiligten

Altstadt, wenn ich dich recht verstanden habe. Das ist ja wohl voll daneben.»

Ich winkte ab. «Vergiss es. Der Cowboy war in seinem früheren Leben Bauingenieur. Der hat sich abgesichert, garantiert.

Außerdem ist er hier aufgewachsen, der wird schon noch seine Seilschaften haben.»

«Shit.» Susi stützte den Kopf in die Hände und stierte auf die Arbeitsplatte. Dann raffte sie sich auf. «Ich koche uns erst mal einen Tee.»

Wir tranken ihn schweigend, ungestört von irgendwelchen Kunden. Dabei hatte ich erwartet, dass heute zumindest jemand mit einem defekten Kettenverschluss auf der Matte stehen würde.

Schließlich hatten wir zwei Wochen Betriebsferien gehabt. «Wie war dein Urlaub?», fragte ich matt.

Susi hob den Kopf und starrte mich abwesend an. «Ganz gut», sagte sie. «Wir könnten doch ein Schild vor den Container stellen. Wir sind noch da oder so was. Was meinst du?»

Ich nickte wenig überzeugt. Dass unsere Kundinnen über den Bauschutt stöckelten, um unter Kreischsägenbegleitung einen Blick in unser staubvernebeltes Schaufenster zu werfen, konnte ich mir schwer vorstellen. «Klar, können wir machen», sagte ich.

Und trank Tee.

Das Ladenglöckchen bimmelte zum ersten Mal, als Ilka aus der Schule kam. «Was soll denn das hier? Wird das Haus abgerissen? » Sie knallte ihren Rucksack auf den kleinen Verkaufstresen, stemmte die Hände in die Seiten und starrte finster an die Decke – ein Bild geballter Empörung.

Ich legte die Hände fester um meinen Teebecher. «Nicht ganz. Obwohl – es läuft wohl auf das Gleiche hinaus.»

«Was?» Ilka fuhr herum und blitzte mich an. «Das lässt du dir gefallen? Und wie lange soll das gehen? Das ruiniert uns doch!»

Ich erklärte ihr, dass ich dem Hauseigentümer schlecht einen Umbau verbieten konnte und dass wir es überleben würden, ohne zu verhungern. «So, und jetzt machen wir dicht und gehen Pizza essen», schloss ich. «Ich muss hier raus. Der Lärm bringt einen ja um!»

Die Pizza schmeckte wie Pappe. Der Rest des Tages auch. Pappe mit einem satten Belag Gedröhn, streng gewürzt mit Baustaub.

Ich schickte Susi um fünf nach Hause. Es war ja Blödsinn, dass wir hier zu zweit litten, während nichts, aber auch gar nichts zu tun war. An neue Entwürfe war nicht zu denken, bei dem Höllenlärm war überhaupt kein Gedanke möglich.

Susi sah mich ängstlich an. «Und morgen?», fragte sie, als erwartete sie die sofortige Kündigung.

«Bis morgen ist mir etwas eingefallen», versprach ich. Es klang wahnsinnig zuversichtlich. In so etwas war ich schon immer gut gewesen. Bei einer Schultheateraufführung hatte ich einmal eine unheimlich forsche Mutter Courage gegeben, obwohl mir vor Lampenfieber die Knie geschlottert hatten.

Bis sechs Uhr hielt ich durch. Die Handwerker auch. Sie winkten mir fröhlich zu, als ich, benommen vor Kopfschmerzen, Wut und Ratlosigkeit, zu meinem Fahrrad wankte. «Schönen Abend noch, junge Frau! Und morgen in alter Frische!»

Scherzkeks. Meine alte Frische war gründlich dahin, einfach weggehämmert, wahrscheinlich für immer.

Als ich unsere Wohnungstür aufschloss, quoll mir die Moldau entgegen, in voller Lautstärke. Ilka hatte gerade ihre klassische Phase. Sie trällerte mit. Als sie mich sah, hielt sie erschrocken inne und stellte sofort die Musik ab. «Mami, du siehst ja grauenhaft aus!» Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. «Danke. Genau

das wollte ich hören nach zwei Wochen Urlaub.»

Ilka schluckte. Plötzlich tat sie mir leid. Wir hatten so schöne Ferien zusammen gehabt, und sie hatte sich zum ersten Mal verliebt, unglücklicherweise in einen Jungen aus Köln. Dreihundert Kilometer, das war zu weit für eine Teenagerliebe. Aber das wusste nur ich, Ilka nicht. Sie war überzeugt, dass echte Liebe allen

Hindernissen trotzt – in guten wie in schlechten Zeiten.

Jetzt stand sie ganz betrübt da und blickte mich unsicher an. Wie hübsch sie war, meine Kleine! Sonnengebräunt, die dichten, schwarzen Locken lässig aufgesteckt, die braunen Augen riesig. Also, man konnte über ihren Vater kaum genug meckern, aber er hatte echte Alpha-Gene, nur vom Feinsten. Sie waren bemerkenswert dominant gewesen und hatten meine dünnen, blonden Haare und meine empfindliche Haut glatt ausgestochen.

Ich breitete die Arme aus. «Komm mal her, mein Schatz.»

Sie flog in meine Arme und schluchzte auf. «Mann, es ist alles so schrecklich. Fabian ist so weit weg und . . . und . . . jetzt bist du auch noch so scheiße drauf!»

Ich drückte sie ganz fest an mich. «Hast du denn schon von ihm gehört?»

Sie machte sich los und nickte. Ihre Augen leuchteten. «Zehn SMS. Und vorhin haben wir zwei Stunden gechattet.»

Das heiterte mich ungeheuer auf. Was konnte sich eine Mutter mehr wünschen als eine erfüllte, virtuelle Liebe ihrer Tochter?

Das Kind war glücklich, die Mutter sorgenfrei. Ach ja, mochte diese Liebe der Distanz trotzen. Auf ewig!

«Morgen kümmere ich mich als Erstes um eine Flatrate», sagte ich.

Ilka erdrückte mich fast. «Mami! Echt? Du bist ein Schatz!»

Na ja. Vielleicht war ich eher ein Monster. War es fair, eine Liebe am Köcheln zu halten, die nie wirklich heiß werden konnte?

Doch darüber würde ich mir später Gedanken machen. Jetzt wollte ich erst einmal in die Badewanne, den Staub abwaschen und Stille spüren. Ob meine Ohren das leise Knistern des Badeschaums überhaupt noch wahrnehmen würden?

Tatsächlich, ganz langsam entkrampften sich meine Gehörgänge. Und ich mich mit. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und dachte an – nichts. Ich spürte nur das warme, duftende Wasser, wurde weicher und weicher. Es kribbelte angenehm, als sich die harten Wutklümpchen in mir auflösten und schlaffer

Wohligkeit wichen.

Ich musste leicht weggedämmert sein, denn ich schreckte auf, als Ilka ins Bad kam. Sie stellte ein Glas Rotwein auf den Badewannenrand und eine Duftkerze auf die kleine Kommode, setzte sich auf den Klodeckel und zog die Beine an. «Wie soll das denn nun weitergehen mit dem Laden?»

Ich nippte an dem Wein. «Keine Ahnung. Heute ist kein einziger Kunde gekommen. Nichts. Null. Zero.»

«Mist.»

«Ja.»

«Kannst du nicht umziehen? Dieser affige Dessousladen hat Pleite gemacht, vielleicht kannst du da rein.»

Ich überdachte ihren Vorschlag, verwarf ihn aber schnell. «Viel zu groß. Und zu teuer. Außerdem – ich will nicht umziehen. Mein Laden ist perfekt. Und irgendwann muss dieser dämliche Umbau ja vorbei sein.»

«Hältst du so lange durch?»

Tja, das war die Hundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage.

Wenn die Kunden anschließend einfach alle wiederkämen, vielleicht. Aber wenn ich wieder ganz von vorn anfangen musste, wie vor zehn Jahren? Damals hatte ich erst einmal ganz schön gekämpft. Ohne Angestellte. Und Ilka und ich hatten wesentlich bescheidener gelebt, in einer Zweizimmerwohnung, ohne Südbalkon, ohne Badewanne, ohne Urlaub. Ohne Flatrate.

Plötzlich packte mich wieder eine ungeheure Wut. Dieser bescheuerte, verkrachte Karriereschleimer! Stolperte im Sturmlauf nach ganz oben, knickte ein und schlug mit Karacho und seinem letzten Geld ausgerechnet über meinem Laden auf! Nee, Freundchen, so nicht! Ich richtete mich so heftig auf, dass das Rosenblüten-Wasser schwappte. «Gib mir mal das Handtuch! », befahl ich Ilka.

Zehn Minuten später saß ich in meinen Bademantel gehüllt am Telefon. Ilka kauerte zu meinen Füßen. «Wir rufen jetzt Heiner an», sagte ich grimmig. «Der muss was machen!»

Heiner war ein alter Schulfreund von mir. Ohne ihn hätte ich die Geschichtsklausur im Abi garantiert versemmelt. Nun war er Lokalreporter bei unserer Zeitung, etwas verlottert, aber sehr lieb. Er hatte keine Karriere gemacht, war nicht verbogen. Nadelstreifen? Dafür hatte er nur ein müdes Lächeln.

Ich hatte Glück: kein Feuerwehrball heute Abend, keine Siegerehrung im Kegelverein. Heiner war in der Redaktion und hörte mir geduldig zu. Als ich fertig war, druckste er: «Hannah, bei aller Liebe, aber da hast du ganz schlechte Karten. Ich kann unmöglich was darüber bringen, das ist keine Story. Das ist bloß das normale, beschissene Leben. Weißt du, wie viele Läden hier dichtgemacht haben,

als damals die große Altstadtsanierung losging? Manche sind wiedergekommen, andere nicht. Darüber regt sich kein Mensch mehr auf, das ist eben so.»

Ich sackte in mich zusammen. Wenn die Geschichte nicht einmal für Heiner, unseren aufrechten Kämpfer für alle Entrechteten und Geknechteten, interessant war, dann konnte ich wohl einpacken.

«Kannst du nicht irgendwohin ausweichen?», schlug er nun vor. «Ich schau mich mal um, vielleicht entdecke ich was.» Ich bedankte mich artig und maßlos enttäuscht. «Lass uns erst mal essen», sagte ich zu Ilka. «Vielleicht fällt mir mit vollem Magen etwas ein.»

Tat es nicht. Ilka und ich stopften uns mit belegten Broten voll und versackten vor der Glotze. Ich sah teilnahmslos zu, wie ein begütertes Ehepaar sich wegen eines vermeintlichen Seitensprungs fetzte – natürlich alles nur ein dummes Missverständnis – und sich nebenbei noch mit einer zickigen Oma herumschlug. Mann, die hatten Probleme! Und alle in neunzig Minuten lösbar: So gut wollte ich es auch mal haben.

Mein Problem war auch nach neun Stunden noch nicht gelöst. Ich brütete am leergegessenen Frühstückstisch vor mich hin und trank den dritten Becher Kaffee. Ilka war längst in der Schule. Das Telefon riss mich aus meinen dumpfen Grübeleien. Plötzlich war ich hellwach. Telefon morgens um acht, das konnte

nichts Gutes bedeuten. Ilka hatte auf dem Schulweg einen Unfall gehabt. Mein Auto war geklaut worden, und die Diebe hatten eine Radfahrerin umgemangelt und Fahrerflucht begangen. Die Handwerker hatten eine Gasleitung angebohrt, und mein Laden war in die Luft geflogen . . .

«Hannah, meine Süße, was für ein Wetter! Ist das nicht ein herrlicher Frühling?»

Mein Vater. Typisch, wenn er schon mal anrief, dann zu einer unmöglichen Zeit. Außerdem – warum guckte der am frühen Morgen aus dem Fenster anstatt in den Wirtschaftsteil der Zeitungen, die sich neben seinem Frühstücksei stapelten? (…)

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.


Date: 2016-03-03; view: 637


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