Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






SkyllavonPeter Schneider

Damals, als ich zum ersten Mal auf dem Hügel stand, habe ich mir gewünscht, auf ihm alt zu werden. Jetzt bin ich so alt, wie ich nie werden wollte, und frage mich, was ich mir damals gewünscht habe.

Wenn ich am Nachmittag vom Meer zurückkehre und die Sonne sich dort im Nussbaum fängt, sich in der Baumkrone rot aufbläht und den ganzen Horizont zum Glühen bringt, und dann in ungeheurem Tempo – man kann gerade mal bis zwanzig zählen! – in dem dunstigen Gewaber zwischen Meer und Himmel

verschwindet, ist alles wieder wie am Anfang. Ja, du hast gut gewählt. Mit der gleichen Gewissheit, mit der du die Frau deines Lebens erkannt hast, als du ihr zum ersten Mal begegnet bist, hast du dich für dieses Stück Erde entschieden. Und dann kommen die ersten Enttäuschungen, die kleinen und großen atastrophen, die Kompromisse und Betrügereien: die übliche Enttäuschung des Wunsches durch seine Erfüllung. Aber die Euphorie des ersten Blicks, sie stellt sich immer wieder ein. Es ist der schönste Punkt im Umkreis von hundert Quadratkilometern. Hinten die kahlen, elefantengrauen Bergrücken, vorn das ungeheure Meer.

Die Zeit vergeht hier oben anders als in den Städten. Ich sehe die weiß schimmernden Bugwellen, die die Passagierdampfer und Containerschiffe in die Wasserfl äche schneiden, die von hier aus wie blaues, gehämmertes Metall aussieht, und weiß, dass schon vor Jahrtausenden anders geformte Schiffe, von Seeleuten einer anderen Art gelenkt, ähnliche Bugwellen erzeugt haben. Dort, hinter der Mauer an der Stirnseite des Hügels, mögen vor fünfhundert Jahren Mönche gekniet und ihre Gebete zum Himmel geschickt haben. Womöglich waren sie die letzten, aber ganz sicher nicht die ersten Besiedler des Hügels, denn unter

den mittelalterlichen Ruinen kommen römische Mauern zum Vorschein und unter diesen wieder andere, die von noch früheren Generationen zeugen. Vor den Menschen müssen Adler hier gehaust haben.

Ich bete nicht, aber ich staune ihn an, diesen Himmel. Immer wieder habe ich ihn fotografi ert, gemalt, in Briefen beschrieben, doch nicht einen Tag gefunden, an dem er sich gleich geblieben wäre. Die Wahrheit ist vielleicht, dass er nicht zu beschreiben ist, weil jede Beschreibung, jedes Foto, jede Zeichnung einen bereits

vergangenen, nicht wieder herstellbaren Zustand festhält. Häuser und Landschaften geben eine Zeit lang ein verlässliches Bild ab, Menschen lassen sich anhand eines simplen Passfotos noch nach Jahren wieder erkennen, man kann, in computer-generierten Bildern, ihr zukünftiges Aussehen auf Jahrzehnte vorausberechnen – aber nicht den Himmel, unter dem ich stehe. Dieser Himmel, der jetzt nichts weiter als blau ist, so eintönig und unveränderlich blau wie seit Menschengedenken, kann sich binnen weniger Minuten schwarzgrauviolett verfärben, mit Blitzkaskaden das Meer und den Horizont aufreißen, die Wälder anzünden und mich und mein Haus vernichten.



Was die Einheimischen über den Fluch erzählen, der über diesem Hügel liegt und Lucynna von mir fortgetrieben haben soll, ist eine Legende. Wahr ist, dass die Mythen und Geschichten, die unter den Ruinen begraben liegen, eine gefährliche Kraft entfalten können, wenn man sie aufstört. Und wahr ist auch, dass ich Lucynna fast an sie verloren habe.

Wenn eine Liebe zerbricht, stellt sie sich im Gedächtnis als ein Trümmerhaufen dar, jeder Bruchteil wird zum Indiz, das auf die spätere Katastrophe verweist. Manchmal habe ich mich bei der Rekonstruktion dieser Geschichte wie jener Archäologe gefühlt, der es unternimmt, aus Tausenden von Marmorstücken die ursprüngliche Skulptur zu erschließen, und am Ende entdeckt, dass er die fehlenden Teile seines Puzzles falsch ergänzt hat. Also reißt er die falschen Teilstücke wieder auseinander und versucht es mit einer anderen Strategie, aber in der neuen Anordnung passen andere Teile nicht mehr, die sich früher einfügten – alte Lücken schließen sich, aber es bilden sich neue. Die gesuchte, einzig richtige Lösung, die alle Bausteine zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügt, es gibt sie nicht.

Nein, eigentlich wollten wir nie und nirgendwo ein Haus bauen. Wir hatten genügend Freunde in der Toskana, in der Provence, in Portugal, die uns gewarnt hatten. Macht Ferien in teuren Hotels, mietet euch in einer Suite ein, fliegt in der Businessclass, es kommt euch immer noch billiger als ein Haus! Ganz abgesehen von den Folgen, die sich nicht in Geld rechnen lassen!

Zwei tödliche Gefahren gebe es für eine junge Ehe: die Jahre nach der Geburt des ersten Kindes und die Idee, ein Haus zu bauen. Wir hörten uns geduldig alle Warnungen an und schlugen sie alle in den Wind. Dabei war die Kompetenz unserer Ratgeber gar nicht zu bestreiten. Denn die meisten von ihnen hatten einen oder beide Tests hinter sich und lebten inzwischen als Singles oder hatten sich mit einem neuen Partner zusammengetan.

Wir, vom Unverletzlichkeitswahn junger Eltern befallen, stürzten uns in beide Prüfungen gleichzeitig. Da war diese seltsame chemische Veränderung, die ein Kleinkind im Stammhirn seiner Eltern auslöst. Kinder, so fl üstert auf einmal ein nie gehörtes Engelsstimmchen im Hinterkopf, Kinder brauchen ein Stück eigener Erde, auf das sie ihre zierlichen Füßchen setzen können, ein paar Pflanzen und Bäume, die mit ihnen groß werden.

Und irgendwann, eigentlich sehr bald, lassen sie sich mit dem Baumhaus in der Eiche nicht mehr abspeisen, irgendwann brauchen sie ein richtiges Haus mit Terrasse, einem beheizten Swimmingpool und einer Satellitenantenne, die 250 Programme liefert!

Seltsamerweise fragten wir uns nie, in wessen Namen dieses Engelsstimmchen, das zum wichtigsten Berater unserer Investitionsentscheidungen wurde, eigentlich sprach. Jedenfalls war es unserer kaum dreijährigen Tochter Lara an Artikulations-fähigkeit um viele Jahre voraus. Offenbar begründen frisch gebackene Eltern gerade ihre folgenreichsten Entscheidungen am liebsten mit den Bedürfnissen eines Wesens, das sich noch gar nicht äußern kann. Womöglich würde dieses Wesen, wenn es bei Verstand und der Rede mächtig wäre, seinen Erzeugern fast alle Unternehmungen ausreden, die sie ihm zuliebe eingehen: den Grundstücks-kauf, den Hausbau, den Swimmingpool, die Satellitenantenne und das Projekt der Ehe und lebenslangen Treue.

Gut, gut, sagte mein Steuerberater in Berlin, ich sehe schon, du bist entschlossen. Aber wenn schon in Italien bauen, warum nicht wenigstens in einer Kultur-landschaft wie der Toskana, was in aller Welt hast du dort unten, wie heißt es noch – in Latium? – verloren? In einer Gegend, die selbst nach Meinung vieler Italiener eigentlich gar nicht mehr zu Italien, sondern zu Afrika gehört und von der Mafi a regiert wird? Und ist dir klar, dass ich die Quittungen für deine Investitionen, die alle per Hand auf einem karierten Notizblock ausgestellt sein werden, niemals bei einem deutschen Finanzamt absetzen kann?

Ich gebe zu: einen Augenblick lang war ich irritiert. Dass mich ausgerechnet mein Steuerberater, der hemmungslos berlinerte und beharrlich den Dativ benutzte, wo der Akkusativ geboten war, an das kulturelle Erbe Europas erinnerte, kränkte mich. Aber gegen den himmlischen Sopran in meinem Hinterkopf kam sein Berliner Tenor nicht an. Erst Jahre später, als er sich selbst für immer in eine Kultur-landschaft nach Frankreich abgesetzt hatte und ich im afrikanischen Teil Italiens über einem Stoß handschriftlicher, nicht unterschriebener Quittungen auf

kariertem Papier brütete, habe ich an seine Mahnung zurückgedacht.

Kein Zweifel, die wilden Hügelketten Latiums sind poetischer und dramatischer als die gezähmten Landschaften der Toskana; wie keine andere Region Italiens ist Latium von den Mythen, Heldensagen und vom Größenwahn des Imperium Romanum geprägt worden. Die Reichen und Mächtigen des alten Rom kümmerten sich nicht um die Toskana, sie fühlten sich vom Süden angezogen und bauten ihre Villen an jenen Gestaden, wo der Sage nach der römische Stammvater Aeneas mit seinen Getreuen nach der Flucht aus Troja angelandet war. Inzwischen sind von Latiums ehemals üppigen Wäldern nur noch grüne Inseln übrig, und was geblieben ist, wird Jahr für Jahr von Bränden verwüstet, um deren Ursachen sich so viele Legenden ranken wie um die Entstehung Roms. Viele der kahlen Hänge sind von

den brutalen Kastenbauten großer Wohnungsgesellschaften verschandelt. Kaum eine Kommune erlegt den Bauherrn, die die Landschaft mit ihren Zementgerippen überziehen, Regeln auf. In Latiums Dörfern und den kleinen Städten regieren der Staub und jener Stil, den die Hast illegalen Bauens und die Armut hervorbringen. Fast alles, was Italienliebhaber an der Toskana schätzen – die Anmut ihrer Dörfer, die Pracht ihrer mittelalterlichen Städte, den Zauber ihrer gepfl egten Hügel-landschaften –, sucht man in Latium vergebens. Die Letzten, die hier mit Kunst, Geschmack und sehr viel Geld bauen konnten, waren die römischen Kaiser, ihre Verwandten und die großen Patrizierfamilien gewesen. Von den gewaltigen Anlagen, die sie hinterließen, sind meist nur Mauerreste geblieben, die selten restauriert wurden; das meiste von dem, was in Latium schön und zu bestaunen wäre, ist wegen des chronischen Geldmangels der Gemeinden unter der Erde geblieben. Nur die Natur, so scheint es, hat sich in dieser Gegend ihren Sinn für Schönheit bewahrt; allerdings setzt sie ihn hier großartiger in Szene als irgendwo

sonst in Italien.

In Wahrheit waren wir nur nach Latium geraten, weil wir uns ein paar Tage lang erholen wollten – von der Toskana. Der Pate unserer Tochter, ein langjähriger Freund aus Frankfurt, hatte uns eingeladen, unseren ersten «Elternurlaub» auf seinem Anwesen in der Nähe von Florenz zu verbringen. Das ehemalige Bauernhaus war zu einem Herrensitz ausgebaut worden, mit eigenem Wein- und Ölanbau und Swimmingpool – tatsächlich sah es dem Haus, das das Engelsstimmchen in meinem Hinterkopf in Auftrag gegeben hatte, verblüffend ähnlich. Aber unser toskanischer Urlaub im vermeintlich schönsten Monat des Jahres verregnete aufs Unglaublichste. Es war Mai, und es verging kein Tag, an dem es nicht aus Kübeln schüttete. Die noch vom Winter feuchten meterdicken Mauern des Landhauses wurden immer feuchter, Lucynna kämpfte gegen

Rheumaanfälle, und Lara, das unruhige Kind unruhiger Eltern, schlief selten länger als zwei Stunden. Bei Morgengrauen, wenn die erschöpfte Mutter mir unsere Tochter in die Arme drückte, um endlich ihren Nachtschlaf nachzuholen, wurde das Kindergeplärr prompt durch Motorengedröhn abgelöst. Michele, der robuste Hausverwalter, zog mit seiner Grasmähmaschine unmittelbar unter unserem Fenster seine engen Bögen. Wenn er nicht gerade das Gras mähte, saß er auf seinem Traktor und zog im nahen Olivenhain andere Bögen. Morgens um sieben gab es offenbar immer besonders viel zu tun. Der Boden unter den Weinreben und den Ölbäumen musste umgepfl ügt, die Hecken beschnitten, morsche Äste abgesägt, die Oleander, Rosen und Obstbäume gegen Schädlinge verteidigt werden. Der Naturmüll wurde aufgeschichtet und verbrannt – und meist stand der

Wind so, dass er den Qualm in unser Zimmer trieb. Schlimmer als der Qualm waren die Wolken von Schädlingsbekämpfungsmitteln, die Michele aus seiner Spritze aufsteigen ließ. Wenn er mit seinem gewaltigen, einer Kalaschnikow nachempfundenen Gerät um sich schoss, sah er aus wie ein zu kurz geratener

Schwarzenegger. Bei der Munition, die er verteilte, handelte es sich vermutlich nicht um Substanzen, die mit dem grünen Umweltsiegel ausgezeichnet waren.

Lucynnas durch die Schwangerschaft extrem verfeinerter Geruchssinn witterte Gefahren, die ich mit meiner Rauchernase nicht erspüren konnte. Schon vor dem Frühstück trübten Vergiftungsängste ihre Stimmung. Aber damit nicht genug. Von wegen nackt am Swimmingpool liegen, falls die Sonne einmal eine Lücke in den Regenwolken fand. Immer war Michele oder das eine oder andere Mitglied seiner weitläufi gen Verwandtschaft in der Nähe, grüßte, spritzte, sägte, hämmerte, pfl ügte und schaute – Michele und die Seinen waren die eigentlichen Bewohner des

toskanischen Traumhauses.

Es trug auch nicht zur Entspannung zwischen Lucynna und mir bei, dass die Speisekarten in der verschwiegenen Trattoria, die der Hauseigentümer uns empfohlen hatte, in Englisch und Deutsch abgefasst waren. Schon bei der langwierigen Serpentinenanfahrt war uns aufgefallen, dass die Kennzeichen der Autos vor und hinter uns meist deutsche oder britische Besitzer auswiesen. Nichts gegen Touristen, wir waren selber welche, aber wir waren nicht nach Italien gereist, um uns unter unseresgleichen zu finden. Wir beschlossen, am nächsten Morgen gen Süden zu fahren und erst anzuhalten, wenn die Sonne schien. Zur Hölle mit der Toskana!

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.


Date: 2016-03-03; view: 585


<== previous page | next page ==>
Die FindelfrauvonAmelie Fried | Rostfreivon Steffi von Wolff
doclecture.net - lectures - 2014-2024 year. Copyright infringement or personal data (0.007 sec.)