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Die FindelfrauvonAmelie Fried

 

Holly blickte starr in das rote Licht über ihr. Eine warme Hand legte sich auf ihre kalten Hände, die sie auf dem Bauch gefaltet hatte wie zum Gebet. Lieber Gott, dachte sie, mach, dass alles gut geht. Dass die Schwester meine Unterlagen nicht vertauscht hat. Dass der Computer keine Panne hat. Dass der Doc gestern Nacht nicht zu wenig geschlafen oder zu viel gebechert hat. Sie überlegte kurz, ob sie vom Tisch springen und weglaufen sollte, dann fielen ihr die ganzen Untersuchungen der letzten Wochen ein. Wäre alles umsonst gewesen, und sie würde es trotzdem bezahlen müssen.

 

Warum, zum Teufel, hatte sie sich überhaupt darauf eingelassen? War es wirklich so schlimm, kurzsichtig zu sein? Wenn sie die Brille abnahm, verschwamm die Welt zu farbigen Flecken. Ist doch eigentlich ganz schön, dachte sie plötzlich. Schöner als vieles, was sie sah, wenn sie die Brille wieder aufsetzte. Als Kind war sie gehänselt worden, klar. Blindschleiche, Brillenschlange, Streberin. Als junges Mädchen war sie mehr oder weniger blind durchs Leben getappt, weil sie lieber vom Auto überfahren worden wäre, als hässlich auszusehen. Obwohl sie mit ihren ausdrucksvollen, braunen Augen, dem schimmernden Teint und ihrem dunklen Haar als ausgesprochen hübsch galt, war sie überzeugt, dass eine Brille alles kaputt gemacht hätte. Dann war sie immer wieder neben Typen aufgewacht, die leider nur aus der Ferne attraktiv gewesen waren. Eine Zeit lang hatte sie Kontaktlinsen getragen. Nachdem sie die dritte versehentlich im Waschbecken weggespült hatte, weigerten sich ihre Eltern, neue zu bezahlen. Als Holly endlich selbst Geld verdiente, bekam sie eine Allergie gegen Kontaktlinsen. Jetzt hatte sie genug. Sie wollte endlich wieder klar sehen. »So, nun wirds ein bisschen unangenehm«, hörte sie die Stimme des Arztes, »ist aber gleich vorbei.« Bleib cool, befahl sie sich. Du hast zwei Geburten überlebt, da wirst du doch wohl eine lächerliche Laser- OP überstehen.

Etwas senkte sich auf ihr Gesicht und drückte auf ihren rechten Augapfel. Sie spürte einen weiteren Schwall der Betäubungstropfen, einen leichten, kaum wahrnehmbaren Schmerz, dann fuhr die Apparatur mit einem Zischen wieder hoch.

»Vorbei?«, fragte sie mit kleiner Stimme. »Noch nicht ganz«, erwiderte der Arzt. Die Maschine begann zu rattern, Funken sprühten vor ihrem Auge, ein leichter Geruch von verbrannter Hornhaut verbreitete sich im Raum.

Sie sah eine Art riesigen Scheibenwischer, der über ihre Augenoberfläche fuhr, als wäre sie die Windschutzscheibe eines Lkw, dann hörte sie seine Stimme. »So. Und weils so schön war, das Ganze jetzt auf der anderen Seite.«

»Okay«, piepste sie.

»Sie sind ja eine ganz Gelassene«, sagte der Doc anerkennend und tätschelte ihre Schulter.

»Das täuscht«, gab Holly zurück. »Ich mache mir gleich in die Hose.«



»Schwester, eine Windel, bitte!«, befahl er.

Holly musste trotz ihrer Angst grinsen.

Als alles vorbei war, stand sie mit zittrigen Knien vom OP-Tisch auf und wurde in den Vorraum geführt. Noch einmal erhielt sie Tropfen, dann klebte die Schwester zwei Plastikschalen über ihre Augen.

»So, jetzt sehen Sie aus wie ein Waschbär. Die Augen schön zulassen bis morgen früh!«

Sie drückte Holly einen Plastikbeutel in die Hand. »Schmerztabletten, antibiotische Tropfen, Notfall-Telefonnummer. Wenn Sie Probleme haben, bitte melden.«

»Danke«, sagte Holly.

Die Schwester brachte sie zur Garderobe, zog ihr den sterilen Kittel aus, streifte ihr die Plastikhüllen von den Füßen. Half ihr in Schuhe und Mantel, brachte sie zur Rezeption.

»Hallo«, sagte Chris. »Alles gut gegangen?«

»Glaub schon. Genau wissen wirs morgen.«

Sie hakte sich bei ihm ein. »Du bist jetzt mein Blindenhund.« »Wau«, sagte Chris.

Holly hielt die Augen fest geschlossen. Wenn sie es durchhielte, nicht durch die Plastikschalen zu blinzeln, würde alles gut werden, andernfalls würde vielleicht etwas Schlimmes passieren. Aber schon am Aufzug erschrak sie über das Geräusch der sich unerwartet öffnenden Tür und zwinkerte. Es passierte gar nichts.

Der Weg aus dem Gebäude, über die Straße, in den zweiten Stock des Parkhauses erschien ihr endlos. Die Geräusche waren unnatürlich laut und scharf; es kam ihr vor, als hätte sie nach Jahren zwei Wattebäusche aus ihren Ohren entfernt. Sie klammerte sich an Chris Arm fest.

»Du passt auf, ja?«

»Klar passe ich auf.«

Woher wusste sie, dass sie ihm vertrauen konnte? Er könnte sie an einen Aufzugschacht oder zu einer steilen Treppe führen, ihr einen Stoß versetzen und - Ende einer Ehe. Vielleicht träumte er schon lange davon, sie loszuwerden, und hatte nur auf diesen Tag gewartet. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und blinzelte.

»Augen zu«, befahl er.

»Liebst du mich eigentlich?«

»Was?«

»Ich meine«, sagte Holly schnell, »würdest du mich auch lieben, wenn ich blind wäre? Oder eine andere Behinderung hätte?«

»Was bliebe mir anderes übrig?«

»Na, hör mal, das klingt ja, als wäre Liebe eine Art Krankheit! Ein schreckliches Schicksal, gegen das man keine Chance hat.«

»Genau.«

»So sehe ich das überhaupt nicht! Liebe ist eine Entscheidung, ein Akt des Willens. Du liebst mich, weil du es willst, nicht, weil irgendeine Macht dich dazu zwingt «

»hör lieber auf zu diskutieren, du läufst gleich gegen einen Betonpfeiler.«

Holly blieb erschrocken stehen. »Ich denke, du passt auf!«

»Wie soll ich aufpassen, wenn du dauernd quasselst.«

»Schon gut«, sagte sie.

Er führte sie weiter. Schweigend ging sie neben ihm her, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, immer darauf gefasst, an ein Hindernis zu stoßen. Er blieb stehen.

»Wir sind da.«

Holly blieb stehen, bis sie das Öffnen der Beifahrertür hörte, dann stieg sie vorsichtig tastend ein. Sie holte tief Luft. »Schrecklich.«

»Was?«

»So hilflos zu sein.«

»Tut dir mal ganz gut, nicht alles unter Kontrolle zu haben.« Chris startete den Motor und fuhr die engen Kurven des Parkhauses hinab. Wieder blinzelte Holly. Ständig hatte sie das Gefühl, gleich gegen eine Wand zu fahren. Erst auf der Straße wurde es besser. Sie lehnte ihren Kopf zurück und entspannte sich.

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.

 


Date: 2016-03-03; view: 605


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