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Der Seitensprung von Bernhard Schlink

1

Die Freundschaft mit Sven und Paula war meine einzige Ost-West-Freundschaft, die den Fall der Mauer überdauerte.

Die anderen endeten bald nach dem Mauerfall. Man verabredete sich immer seltener, und eines Tages wurde die getroffene Verabredung in letzter Minute abgesagt.

Man hatte zu viel zu tun: Arbeit suchen, Wohnungen und Häuser sanieren, Steuervorteile nutzen, Geschäfte machen, reich werden, reisen. Davor hatte man im Osten nichts tun können, weil der Staat einen nichts tun ließ, und im Westen nichts tun müssen, weil das Geld aus Bonn so oder so kam. Man hatte Zeit.

Sven und ich lernten uns beim Schachspielen kennen. Ich war im Sommer 1986 nach Berlin gezogen, kannte niemanden und entdeckte an den Wochenenden die Stadt, im Osten wie im Westen. An einem Samstagabend stieß ich in einer Gartenwirtschaft am Müggelsee auf eine Gruppe von Schachspielern, sah einem Endspiel zu und wurde vom Sieger zu einer Partie aufgefordert. Als es dunkel

wurde und wir abbrechen mußten, verabredeten wir uns auf den nächsten Samstag zur Fortsetzung.

Mit dem ersten neuen Bekannten beginnt eine Stadt, Heimat zu werden. Auf der Rückfahrt nach Westberlin war die Öde Ostberlins weniger entmutigend, seine Häßlichkeit weniger abweisend. Die hellen Fenster, mal vorhangbunt und mal fernsehblau, mal dicht an dicht in einem Plattenbau und mal einsam in einer Brandmauer, die alten, schwach erleuchteten Fabriken, die breiten Straßen mit den wenigen Autos, die seltenen Gasthäuser – ich sah es und stellte mir vor, Sven wohne hier oder da, arbeite in dieser Fabrik, fahre auf dieser Straße. Ich sah auch mich hier oder da ein und aus gehen, auf dieser Straße fahren, in diesem Gasthaus essen.

Mein zweiter neuer Bekannter in Berlin war ein kleiner Junge mit Schulranzen. Eines Morgens, als ich die große Straße vor meinem Haus überqueren wollte, stand er neben mir, fragte: »Gehste mit mir übern Damm?« und nahm meine Hand. Danach tauchte er immer wieder morgens auf, wenn ich am Rand der Straße darauf wartete, daß die Ampel ein paar hundert Meter weiter rot werden und der Verkehr eine Pause machen würde. Später, als die Mauer gerade gefallen war, reisten Sven und Paula wie die Verrückten nach München, Köln, Rom, Paris, Brüssel, London, jeweils mit Bahn oder Bus und jeweils nachts hin und nachts zurück, um bei zwei Tagen Aufenthalt nur eine Übernachtung zahlen zu müssen. Während der Reisen gaben sie ihre Tochter Julia bei mir ab, und die beiden Kinder freundeten sich miteinander an. Sie war noch im Kindergarten und voll Bewunderung für den Erstkläßler, er war ein bißchen geniert vom Umgang mit dem kleinen Mädchen und zugleich von ihrer Bewunderung geschmeichelt. Er hieß Hans, wohnte ein paar Häuser weiter, wo seine Eltern einen Laden für Zeitungen und Zigaretten



hatten.

 

2

Am nächsten Samstag regnete es. Ich fuhr mit der S-Bahn durch Ostberlin, das noch grauer und leerer war als sonst. Vom Bahnhof Rahnsdorf lief ich an den See; der Regen hörte nicht auf, es war kalt, und meine Hand, die den Schirm hielt, war klamm. Von weitem sah ich, daß die Wirtschaft geschlossen war. Dann sah ich Sven. Er trug dieselbe blaue Latzhose wie am Samstag davor und dieselbe lederne Schiebermütze und sah mit runder Brille im pausbäckigen Gesicht wie ein kindlicher, zutraulicher Revolutionär aus. Er stand in der offenen Tür eines Schuppens, Schachbrett und -figurenkiste zwischen den Füßen, winkte, zuckte mit den Schultern und holte mit den Armen zu einer Geste aus, die bedauernd den Himmel, den Regen, die Pfützen und die geschlossene Wirtschaft umfaßte. Er war mit dem Auto da und fuhr mit mir zu sich nach Hause. Seine Frau und Tochter seien bei den Großeltern, kämen am Abend zurück, und bis dahin könnten wir ungestört spielen. Dann müsse er seine Tochter ins Bett bringen und ihr eine Geschichte vorlesen, eine halbe Stunde lang, wie jeden Abend. Aber ich könne das auch machen, das Vorlesen, und er koche derweil eine Kleinigkeit für uns. Ob ich auch Kinder hätte? Ich verneinte, und er schüttelte seufzend den Kopf über mein Unglück der Kinderlosigkeit.

Wir wurden auch an diesem zweiten Samstag mit der Partie nicht fertig. Sven überlegte und überlegte. Ich ließ meine Augen wandern. Es gab ein aus hellen Brettern selbstgebautes Bücherregal, eine wuchtige dunkle Anrichte, vier dunkle, zur Anrichte passende Stühle um einen Eßtisch, dessen weißes, an den Rändern mit Blüten besticktes Tischtuch bis auf den Boden reichte, den kleinen Bambustisch, an dem wir auf Sesseln aus schwarzem Stahlgestell und hellem Korbgeflecht saßen, und einen schwarzbraunen Kohleofen. An der Wand hingen ein blau-weißes Webstück mit einer Taube, einen Ölzweig im Schnabel, und ein Druck mit van Goghs Sonnenblumen. Durch die tropfennassen Fensterscheiben war ein großer alter Backsteinbau zu sehen, eine Schule, wie Sven auf meine Frage brummend bestätigte.Manchmal ratterte unten ein Auto über das Kopfsteinpflaster, und in regelmäßigen Abständen quietschte die Straßenbahn in der Kurve. Sonst war es still.

Später wurde mir Svens langes Überlegen langweilig, und wir einigten uns darauf, mit der Uhr zu spielen, Spiele zu vier Stunden oder auch Blitzpartien zu sieben Minuten. Dann wurde uns Schach überhaupt langweilig, und wir zogen lieber mit Paula und Julia los oder trafen ihre Freunde oder spielten die neuen Spiele, die ich mitbrachte, manchmal erst im zweiten Anlauf, wenn mich die Grenzsoldaten

beim ersten Anlauf mit ihnen erwischten und zurückwiesen. Oder wir redeten; wir waren beide sechsunddreißig, interessierten uns für Theater und Kino und waren neugierig auf Menschen und Beziehungen. Manchmal trafen sich unsere Blicke bei einem Zusammensein mit Freunden, weil eine Bemerkung, ein Wortwechsel oder ein Austausch von Gesten uns auf gleiche Weise aufmerken ließ.

Das Zimmer, in dem Sven und ich spielten, sah später nie mehr so aus wie am ersten Samstag. Es war immer in heillosem Durcheinander; Julias Spielzeug und Svens und Paulas Arbeitssachen lagen herum, dazu Teekanne und -tassen, angebissene Äpfel und angebrochene Schokolade; oft trocknete Wäsche am Ständer. Das ganze Leben des Tages spielte sich in diesem Zimmer ab. Sonst hatte die Wohnung noch ein winziges Schlafzimmer für die Eltern, eine noch winzigere Kammer für Julia und eine enge Küche, deren ursprüngliche andere Hälfte abgetrennt und zu einem ebenso engen Bad ausgebaut worden war. Am ersten Samstag hatte Sven das Zimmer aufgeräumt. Er hatte auch Kuchen besorgt. Aber über dem Schach hatte er Kuchen und Tee vergessen; daß er mir etwas hatte anbieten wollen, kam ihm erst in den Sinn, als Paula und Julia vor der Tür zu hören waren. Er stand auf, sagte: »Ach Gott, ich wollte doch …« und beschrieb mit den Armen wieder eine Geste des Bedauerns und der Vergeblichkeit.

 

3

Zwischen Julia und mir war es Liebe auf den ersten Blick. Sie war zwei Jahre alt, heiter, quirlig, redete gerne, und wenn sie sich mit sich beschäftigte, summte sie vor sich hin. Manchmal war sie nachdenklich und ernsthaft, als wolle und könne sie alles verstehen. Manchmal schaute sie, hielt und bewegte sich so, daß schon die Frau erkennbar war, die sie einmal werden würde. Daß sie mich bezauberte, war kein Wunder. Als Wunder empfand ich, daß sie mir vom ersten Abend an so freudig begegnete, als sei in ihrem Herzen ein Platz frei und als komme ich gerade

recht.

Paula und ich taten uns schwer miteinander. Sie war zu Sven, Julia und mir ernst und streng, als mißbillige sie den Spaß, den wir an Nichtigkeiten wie einem Turm aus Schachfiguren oder einem Striptease von Julias Bären oder den riesigen Seifenblasen hatten, für die ich an einem der nächsten Samstage die tellergroße Öse und das Seifenpulver mitbrachte und mit denen wir im Treptower Park für

einen kleinen Auflauf sorgten. Sie mißbilligte auch meine Versuche, sie zu charmieren. Sie nahm sie als Flirtversuche, und als ich mich in ihrer Gegenwart ebenfalls um ein ernstes und strenges, gleichwohl freundliches Verhalten bemühte, sah sie darin nur eine andere Variante des Flirtens. Wenn sie irgend konnte, nahm sie mich nicht zur Kenntnis.

Unser Verhältnis wurde besser, als wir entdeckten, daß wir beide die griechische Sprache liebten. Paula unterrichtete sie an einem theologischen Konvikt der evangelischen Kirche, und ich hatte sie auf dem Gymnasium gelernt und las seitdem griechische Texte – ein Hobby, wie andere Saxophon spielen oder ein Fernrohr kaufen und nach den Sternen gucken. Eines Tages sah ich an herum-liegenden Büchern, daß Paula mit Griechisch zu tun hatte, fragte nach, und sie merkte, daß ich mich wirklich dafür interessierte und damit auskannte. Von da an sprach sie mich an, zunächst nur wegen Fragen griechischer Grammatik und Syntax, dann auch wegen Julia oder eines Erlebnisses im Unterricht oder eines Buchs, das sie las.

Aber erst im Sommer 1987, als wir zusammen Urlaub in Bulgarien machten, sagte sie etwas zu unserem Verhältnis. Daß sie mich für einen leichtfertigen Menschen gehalten und daß sie gefürchtet habe, ich würde Svens Vertrauen enttäuschen. »Er hat sich so gefreut, als ihr euch damals getroffen und verabredet habt, und hatte zugleich solche Angst, daß du nicht kommst. Das blieb lange so, daß er sich zugleich gefreut und Angst gehabt hat. Ihr habt keine Ahnung, was es bedeutet, einen von euch kennenzulernen, besser und gut kennenzulernen. Es schließt eine andere Welt auf, geistig und, warum soll ich es nicht sagen, auch materiell, und man will euch rumzeigen und mit euch angeben und muß euch zugleich eifersüchtig hüten.

Und immer haben wir Angst, daß der exotische Reiz, den wir für euch haben, sich abnutzt und verbraucht und ihr euch anderen Dingen und Menschen zuwendet.«Ich hätte antworten können, daß auch sie mir eine andere Welt aufschlossen. Nicht eine exotische Welt von mäßiger Wichtigkeit und kurzlebigem Reiz, sondern die

andere Hälfte unserer durch Mauer und Eisernen Vorhang halbierten Welt. Dank ihrer war ich in ganz Berlin zu Hause, fast in ganz Deutschland, fast in der ganzen Welt.

Stattdessen widersprach ich. Ich konnte damit, daß ihre und meine Welt verschieden waren und wir den Zugang zur einen Welt gegen den Zugang zur anderen tauschten, nicht umgehen. Unsere Beziehung sollte eine Freundschafts-,

keine Austauschbeziehung sein. Ich wollte nicht der aus dem Westen und sie sollten nicht die aus dem Osten sein. Wir sollten einfach Menschen sein.

»Aber du kannst nicht tun, als gebe es die Mauer nicht. Als sei unsere Freundschaft wie deine Freundschaften drüben oder unsere hier.«

Wir liefen am Strand entlang. Paula und ich standen gerne früh auf, so früh, daß wir die Sonne über dem Meer aufgehen sahen. Wir wohnten in verschiedenen Hotels, sie in einem für Ost- und ich in einem für Westtouristen, und wenn es hell wurde, trafen wir uns am Hafen und liefen, bis es Zeit war, zum Frühstück um- und zurückzukehren. Wir liefen barfuß.

»Schau«, sagte sie, setzte ihren Fuß in den nassen Sand, über den gerade eine Welle gegangen war, und trat wieder zurück, »zwei, drei Wellen, und du siehst nichts mehr.«

»Und?«

»Nichts.«

4

Über Politik haben wir lange nicht geredet. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war die Welt zur Ruhe gekommen. Der Osten war immer noch der Osten, aber er war alt geworden, müder und weiser, und der Westen, der nichts mehr befürchten und beweisen mußte, war satt und heiter. Was gab es über Politik zu reden?

Nach dem Examen war ich drei Jahre lang im Stuttgarter Landtag Fraktions-assistent gewesen, anfangs von der Politik begeistert und bald enttäuscht. In Berlin reichte mein politisches Interesse nur zu regelmäßiger, oberflächlicher Zeitungs-lektüre. Soweit Politik für meinen Beruf als Sozialrichter relevant war, bekam ich sie aus Fachzeitschriften und Kollegenkontakten mit. Von Sven und Paula wußte ich, daß sie jeden Tag eine ausführliche Nachrichtensendung im Deutschlandfunk hörten; eine Zeitung hatten sie nicht, und weil Julia ohne Fernsehen aufwachsen

sollte, hatten sie keinen Fernsehapparat. Auch sie interessieren sich nicht für Politik, dachte ich und fand das bei ihr, der Griechischlehrerin, und ihm, der tschechische und bulgarische Literatur übersetzte, nicht verwunderlich. Daß es sich anders verhielt, merkte ich im Herbst 1987.

Schon als sie mich das erste Mal um die telefonische Übermittlung einer kryptischen Nachricht im Westen baten und mir eine komplizierte Geschichte von Freunden erzählten, die Besuch aus dem Westen erwarteten, dem sie etwas auftragen wollten, den sie wegen einer Verquickung von Umständen aber nicht erreichen konnten, war ich skeptisch. Als sie mich das zweite Mal darum baten,

wußte ich, daß die Geschichte nicht stimmte, und sie wußten, daß ich es wußte. Wenn es mit den zwei Malen sein Bewenden gehabt hätte, hätte ich nichts gesagt. Aber dann folgte eine dritte Bitte, und ich stellte sie zur Rede. Ich war empört, nicht weil ich Angst hatte, mich durch die Besorgung der Aufträge in Gefahr zu bringen, sondern weil ich Vertrauen erwartete.

Paula hatte darauf bestanden, daß ich nichts erfahren sollte. Zu meinem Schutz, sagte sie. Aber ehe sie christlich und kirchlich geworden war, war sie in FDJ und SED aktiv gewesen, und der Eifer, mit dem sie sich für die Umweltbibliothek

der Zionskirche einsetzte, und die Bereitschaft, mich dabei zu benutzen, kamen mir wie Erbteile ihrer Parteivergangenheit vor. »Der Zweck heiligt die Mittel, was?«

»Du bist gemein. Ich spreche offen von meiner Zeit bei der Partei, und du verwendest es gegen mich.«

»Ich verwende nichts gegen dich. Wenn ich auf das, was du sagst, nicht reagieren darf, dann gib doch Zensuranweisungen. Das ist für die Ohren der Genossen und das für die der Naiven wie mich und das …«

»Ach, hör mit deiner Selbstgerechtigkeit und deinem Selbstmitleid auf. Ja, wir hätten gleich mit dir reden sollen. Aber wir reden jetzt mit dir. Und so leicht ist das nicht mit dem Vertrauen in diesem Land.«

Sie lehnte an der Anrichte und sah mich mit glühendem Gesicht und funkelnden Augen an. Ich hatte sie noch nie so schön gesehen. Warum, dachte ich, trägt sie ihr Haar immer in dickem Knoten und macht es nicht auf?

Aus der Bitte, noch mal eine Nachricht zu übermitteln, wurde die Bitte, regelmäßig Verbindung zu einem Journalisten zu halten. Bis zum Herbst 1989 berichtete ich ihm über Repressionen gegen die Umweltbibliothek, Durchsuchungen und Verhaftungen im Umfeld, Aktionen von Paula und ihren Freunden, die darauf bedacht waren, den Rahmen der Legalität auszunutzen, aber nicht zu überschreiten.

Ich fragte mich, ob die Staatssicherheit mich nicht verdächtige und überwache. Aber ich wurde an der Grenze weder öfter noch gründlicher kontrolliert. Ohnehin

trug ich nie Schriftliches bei mir.

Im Frühjahr 1988 nahmen Paula und Sven mich einmal in die Zionskirche mit. Es wurde über Frieden, Ökologie und Menschenrechte geredet, und sonst war es, fand ich, eine Andacht wie andere. Aber Paula bestand darauf, ich sei aufgefallen und solle mich aus ihren politischen Aktivitäten raushalten. »Du am besten auch.«

»Was?« Sven sah sie entgeistert an.

»Du bist nur meinetwegen dabei. Wenn mir wieder was passiert, soll dir nicht auch was passieren. Denk an Julia.«

»Dir passiert schon nichts.«

»Das kannst du doch nicht wissen, oder?« Sie sah ihn herausfordernd an, und er gab nach.

5

Dann kam die Wende. Paula redete bei den Demonstrationen auf dem Alexanderplatz, trat der SPD bei, engagierte sich bei den Arbeiten für eine neue Verfassung und wäre beinahe in die letzte Volkskammer gewählt worden.

Sven war bei einer Gruppe, die sich um die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit kümmerte und ein erstes Buch über dessen Organisation, Aktivitäten und Mitarbeiter herausbrachte. Ein paar Monate lang lebten beide in

einem politischen Rausch.

Noch vor der Wiedervereinigung wachte Paula auf, weckte Sven aus seinem Traum von der Gründung einer politischen Partei und eines politischen Verlags, und sie machten sich daran, ihr Leben neu zu gestalten. Er bewarb sich mit Erfolg um eine Lektorenstelle an der Freien Universität, und sie wurde als Dozentin an die Humboldt- Universität übernommen. Sie konnten sich leisten, von der Schnellerstraße an den Prenzlauer Berg zu ziehen. Die neue, große Wohnung, die neuen Stellen und die Einschulung von Julia machten Svens und Paulas Leben voll. Sie hatten keine nostalgischen Erinnerungen an die untergegangene DDR. »Die Wende hat es gut mit uns gemeint«, sagten sie gelegentlich erstaunt, als müsse es ihnen eigentlich wie den vielen gehen, die sich durch die Wende und

die nachfolgende Vereinigung entweder um die Früchte ihrer Anpassung oder um die ihres Widerstands gebracht sahen.

Eine Zeitlang war Sven von den Möglichkeiten des Konsums überwältigt. Er kaufte ein großes Auto, trug Anzüge von Armani und putzte Julia heraus wie eine

Prinzessin. Paula mißbilligte den Aufwand. »Unser Haben- Wollen war nie besser als euer Haben, und jetzt ist es ebenso penetrant.« Aber auf weniger auffällige Weise veränderte auch sie sich. Die grauen und braunen Kleider und Kostüme, bei denen sie blieb, wurden elegant, die Hacken der Schuhe höher, und eine neue Brille mit schmalem Gestell gab ihrem Gesicht einen fast hochmütigen Ausdruck.

Zugleich veränderte sich ihre Stimme, wurde kräftiger und sicherer. Sven versuchte sie zu bewegen, das Haar offen zu tragen. Sie war enttäuscht – als sei ihr Haar ein Geheimnis, das sie nur mit ihm geteilt habe und das er jetzt an die Mode verrate.

Auch nachdem Svens und Paulas Lust an den kurzen Reisen vergangen war, kam Julia manchmal über Nacht. Nach der Schule stieg sie bei sich um die Ecke in die UBahn und bei mir um die Ecke aus, traf Hans und rief aus dem Laden ihre Eltern an, daß sie bei mir bleibe, und mich, daß sie auf mich warte. Sie war ein selbständiges kleines Mädchen geworden.

Im Frühjahr 1992 fuhren wir wieder zusammen in Ferien, durch die Toskana und Umbrien bis ans Meer bei Ancona. Wieder standen Paula und ich früh auf und machten im Morgengrauen Spaziergänge am Meer. Ich erzählte ihr, daß ich von ihren Freunden, die auch meine geworden waren, niemanden mehr sah.

»Wir sehen auch nur noch zwei oder drei. Es ist zu vieles zu anders geworden.«

»Liegt’s auch an Gauck?«

Sie zuckte die Schultern. »Wir haben beschlossen, uns nicht um die Akten zu kümmern. Wir haben uns gesagt, daß wir uns kennen und mit Mißtrauen und Aktenglaubengar nicht erst anfangen.«

»Wer hat das beschlossen?«

»Hans und Ute, Dirk und Tatjana, die Theissens und die vier vom Orchester. Als wir am 3. Oktober 1990 das letzte Mal alle zusammen waren. Sei nicht ärgerlich, daß wir dich nicht gefragt haben. Wir hatten das Gefühl, das ist unser Problem und nicht deines.«

Ich war ärgerlich. Ich hatte erwartet, daß die Freunde ihre und meine Probleme nicht definieren und separieren würden, ohne mit mir zu sprechen.

Sie merkte es, ohne daß ich ein Wort sagte. »Du hast recht, wir hätten mit dir reden müssen. Es ist auch dein Problem. Ich kann nur sagen, daß wir irgendwie darauf zu

sprechen kamen und uns die Köpfe heiß redeten. Am Ende hatten wir das Gefühl, wir könnten es nicht dabei bewenden lassen, daß wir nur geredet haben. Wir wollten etwas Verbindliches, und so kam es zur Entscheidung.«

»Einstimmig?«

»Nein, Hans und Tatjana waren dagegen, und Tatjana hat sich auch geweigert, die Verbindlichkeit der Entscheidung zu akzeptieren. Sie wollte ihre Akte sehen.«

»Hat sie sie gesehen?«

»Ich weiß nicht. Wir haben keinen Kontakt mehr.«

Ich hatte mich mehr als einmal gefragt, ob es im Freundeskreis den einen oder die andere IM gegeben hatte. Jetzt wollte ich es wissen. Ich war immer noch ärgerlich. »Ich will meine Akte auch sehen.« (…)

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.


Date: 2016-03-03; view: 1077


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