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Der neue Kochvon Julia Franck

 

Erster Tag Die Beine schwer, rot mit weißen Punkten, weil sich das Blut unter den Venenklappen staut und das Herz nur langsam in der Hitze pumpt. In ihren Augen sehe ich die Schwere der Beine, müde Augen, verquollene, mit Ringen darunter. Ich habe sie abgesetzt neben der Tür, sie fächelt sich Luft an die Lider, und ihre Knie zittern unter der Anstrengung, dem Versuch, sich zu berühren – sie kann

schon längst ihre Beine nicht mehr schließen, wenn sie sitzt, Fleisch dazwischen hindert sie. Ihre Augen sehen auf mich herab, Schweiß rinnt in kleinen Bächen ihre Waden entlang, und auch zwischen den Schenkeln schimmert es klebrig, ihre

Augen folgen mir träge, so gut sie können, das Gelb ums Braun ist zäh und dick und trüb, der Schleim, sie kommen mir nach, die ich auf dem Boden krieche und Glassplitter mit der Hand aufsammle. Ich muß aufpassen, mich nicht zu schneiden und meine Knie zu schützen, die nackt sind, weil immer noch Sommer ist und ich kurze Hosen trage.

Sie wischt sich die Stirn mit einem Taschentuch, das sie in der geö‡neten Hand hält, auch die kann sie nicht mehr ganz schließen. Mit der anderen Hand tastet sie neben sich an der Wand entlang, es gibt einige graue Flecken rund herum, um den Schalter für den Ventilator zu finden. Sie sitzt zu weit entfernt, läßt ihren Arm sinken. Bei jedem Atemzug bebt ihr Busen auf und ab, ich kenne sie, ich muß

nicht mehr hinsehen, um zu wissen, wie das aussieht. Feine Glasplättchen bleiben an meinen Fingern und den Handflächen kleben.

Du mußt einen feuchten Lappen nehmen, sagt sie und deutet mit ihrem Arm zum Waschbecken. Ich stehe auf, mir fällt das Gehen leicht, trotzdem habe ich mir angewöhnt, in ihrer Gegenwart alles sehr langsam zu tun – also gehe ich langsam zum Schalter und stelle den Ventilator an, dann gehe ich zum Waschbecken hinüber, ich spüle das Glas von meinen Händen, hoffe ich, und nehme den Lappen, auf den sie gezeigt hat. Er riecht nach Schimmel. Bevor ich mich wieder bücke, biete ich ihr an, ein neues Glas mit Eistee zu holen. Sie möchte viel Eis, und ich bringe es ihr. Sie setzt an, sie leert jedes Glas in einem Zug, ein Teil läuft ihr daneben, tropft vom Kinn auf die Bluse. Als sie die Nässe auf dem Busen spürt,

den Kopf senkt und, nichts erkennend, wieder hebt, um mich anzusehen, eile ich herbei, ihr zu helfen. Ich nehme ihr das Glas ab und tupfe mit dem feuchten Lappen behutsam den bebenden Busen, vorsichtig. Sie scheint keine Berührung zu

bemerken. Ich gebe ihr erneut das Glas. Sie trinkt. Ich knie mich auf den Boden und nehme winzige Scherben auf. Ihr sandgelbes Kleid ist zerknittert, wirft Falten links und rechts, ausgedörrte Flußbetten zwischen ihren Armen und Beinen, der Schweiß tropft auf den Boden. Ich kann ihre Unterhose sehen, Kleid und Unterhose sind fast gleich lang, beide sind kurz.



Madame Piper hatte meine Mutter sehr verehrt, ich glaube, beide waren Freundinnen. Weil Madame oft den ganzen Winter bei uns gastierte, war sie anwesend, als meine Mutter starb. Sie fand sich sehr vertraut mit uns und fühlte sich vermutlich aus diesem Grund fortan für mich verantwortlich.

Das zeigt sich darin, daß sie gern kontrolliert, ob ich im Hotel alles richtig mache, ebenso richtig wie meine Mutter. Meine Mutter mochte Freesien, es ist demnach falsch, wenn ich Lilien kaufe, und darauf weist mich Madame hin. Ich kaufe besonders häufig Lilien im Herbst und Winter, wenn Madame da ist, die gibt es oft, sie kommen aus deutschen und holländischen Treibhäusern, mit Duft. Madame mag den Duft nicht, sie erträgt ihn nicht, sagt sie und hustet. Ich verstehe nichts von Blumen, ich finde Lilien hübsch und günstig, ich sage, Freesien hätten sie nicht gehabt. Madame wird ihrer Hinweise nicht müde, so daß ich gelernt habe, mich auf ihre Abreise zu freuen. Meine Mutter ist jetzt knapp zehn Jahre tot, sie starb, als ich zwanzig war, und ich empfange Madame jedes Jahr mit größerer Geduld.

Madame Piper sagt, sie liebt mich wie meine Mutter. Ich weiß nicht, wie mich meine Mutter geliebt hat. Beim Treppensteigen braucht sie meine Hilfe. Ich spüle den Lappen aus, nehme ihr das Glas aus der Hand und greife ihr unter den Arm. Schon mehrmals habe ich Madame angeboten, das Zimmer Nr. 1 auszuprobieren, es liegt im Parterre, gleich neben dem Empfang, aber sie lehnt jedes Mal ab und besteht auf ihr Eckzimmer im ersten, das sie regelmäßig seit ihrem ersten Besuch vor einunddreißig Jahren bewohnt. Sie besucht mein Hotel schon länger, als ich lebe, das sagt sie mir häufig, sie kannte meine Mutter länger als ich, und ich behaupte, sie meint damit, sie kannte sie besser. Mir ist das recht, denn ich wollte meine Mutter nie genauer kennen, als ich ohnehin mußte. Das Bett unten in der Nr. 1 wäre für Madame Piper besser geeignet, es ist etwas größer und relativ neu, es ist stabil und quietscht nicht. Madame möchte kein anderes Bett, ich denke, sie hört es nicht quietschen. Wenn sie ankommt und ihre Koffer auspackt, holt sie als erstes ihr Handtuch heraus, das sie vorsorglich schon immer obenauf gepackt hat. Sie

legt das Handtuch auf das Bett, und dort bleibt es liegen, solange sie hier weilt. Wir haben zwar Meer, aber keinen Strand hier, sie braucht es tagsüber nicht, wenn sie das Haus verläßt.

Sie hat mir einmal gesagt, daß sie von den deutschen Urlaubern gelernt hätte, das Handtuch als Flagge, so, das sei und bleibe ihr Bett. Sie hat Angst, ich könnte sie hinter ihrem Rücken, wenn sie spazieren oder einkaufen ist, umquartieren.

Neuerdings muß ich sie begleiten, weil sie nicht mehr so gut gehen kann.

Wenn ich mit Madame die Treppen emporsteige, vibriert das Holz unter jedem Schritt, den wir machen. Mit der linken Hand zieht sie sich am Geländer hinauf, mit der rechten stützt sie sich auf mir ab. Das Taschentuch entfällt ihren Händen, ich hebe es auf. Ich kenne den Geruch ihres Schweißes wie den meiner Mutter. Madame Piper glaubt, sie sei Französin, weil sie mal drei Jahre in Frankreich gelebt hat.

Sie sagt, sie hätte ein aufregendes Leben gehabt, sie war Fremdsprachen-korrespondentin. Ich mache ihr eine Freude, wenn ich sie Madame nenne. Ich setze sie, im Zimmer angekommen, auf ihrem Bett ab. Erst hält sie sich, weniger als

einen Augenblick, dann fällt sie nach hinten, ein großes Baby. Ich nehme ihre Beine und drehe sie ein wenig, daß auch die zu liegen kommen. Das Licht stört sie, ich ziehe die Gardinen zu, sie möchte, daß ich den Raumbefeuchter anstelle.

Ich soll noch ein wenig von dem Eukalyptusöl hineinschütten, das in einer Flasche danebensteht. Ihre Augen sind zugefallen, sie murmelt noch, das Einkaufen sei ihr erschöpfend vorgekommen, sie entläßt mich. Ich bin froh, als ich die Tür hinter mir schließe.

Ich gehe die Treppe hinunter und setze mich an meinen Empfangstisch, er ist schmal. Ein Tischler mochte meine Mutter sehr und hat ihr sein Meisterstück gleich nach dem Verschwinden meines Vaters geschenkt. Mein Vater ist auf den Tag fünfzehn Jahre vor dem Tod meiner Mutter geflohen, ich weiß nicht wohin und denke darüber nicht mehr nach. Das Geräusch des Ventilators stört mich. Ohnehin ist es nicht besonders warm, wird es hier nie, nur Madame schwitzt, und ich habe gehört, daß viele Menschen allein durch den Anblick eines Ventilators den Eindruck bekommen, es sei heiß. Das macht ein Hotel reizvoll. Ich habe am Empfangstisch einen Knopf, der Tischler hat an alles gedacht, mit dem ich ihn abstellen kann. Ich habe mehrere Knöpfe, ich kann die Tür von hier aus öffnen, kann das Mädchen rufen, es heißt Berta, kann die Rolläden runterlassen und Feueralarm auslösen.

Ich stelle den Ventilator aus. Meine Mutter hatte dem Tischler im Gegenzug eine Nacht im Hotel geschenkt. Das gefiel ihm gut. Er fragte, ob er die Fensterrahmen abziehen solle. Meine Mutter hatte genickt, das hätte sie schon lange mal wieder gebraucht. Er machte allerhand im Haus. Meine Mutter hatte auch einen Freund, der Blumenverkäufer war und ihr die Freesien brachte. Dem hatte sie ebenso gesagt, er könne eine Nacht im Hotel schlafen, wenn er wolle, und er wollte. Den Tischler wollte meine Mutter bald darauf an Madame abgeben, aber der wollte sie nicht, er wollte nur meine Mutter, sagte er und ging lieber ganz. Als meine Mutter dann gestorben war, erschien der Tischler, stellte sich vor mich an den Empfangstisch und fragte, ob er den Sarg zimmern dürfte.

Ich nickte, denn ich dachte mir, das hätte meine Mutter gefreut, die gerne alles annahm, was man ihr schenkte. Wenn ich den Kopf drehe, kann ich hinter mir an der Wand meinen Vater und meine Mutter auf zwei Gemälden sehen, die beiden haben sie selbst malen und dort anbringen lassen, die sollten immer an sie erinnern.

Ich bin froh, daß ich keinen Grund habe, Berta zu rufen.

Berta habe ich mit dem Hotel geerbt. Sie hat einen langen Stock mit einem Federbüschel oben dran, mit dem sie mehrmals am Tag durch das Haus eilt und geschäftig tut, sie wedelt damit an den Gardinenstangen und in den Nischen zwischen Heizung und Wand. Berta putzt die Tassen servil, das heißt, sie hebt den Kopf dabei nicht, krümmt demütig den Rücken und schaut mich nicht an, wenn ich in die Küche komme. Ich habe ihr gesagt, sie soll die chinesischen Tassen mit der Hand waschen, weil ich aus der Spülmaschine schon zwei kaputt geborgen habe. Sie putzt die Tassen erst innen, dann außen. Sie nimmt dabei die Kratzseite der Schwämme und hat inzwischen fast alle Bildchen von dem Porzellan abgeputzt. Sie sagt nichts darüber, entschuldigt sich nicht, daher glaube ich, daß sie die Bildchen entweder nie gesehen hat oder keinen Zusammenhang zwischen ihrer Emsigkeit und dem Verschwinden der Bilder sieht. Herr Hirschmann, ein sehr seltener Gast, der, wie er mir gesagt hat, nur kommt, wenn es nötig ist, meint, Berta hätte den Polenbonus und sei deshalb von meiner Mutter eingestellt worden, sie sei billig.

Billig finde ich sie nicht. Herr Hirschmann macht keinen Hehl daraus, daß er meine Mutter für eine Sklavenhalterin hielt, aber da er sie wiederum billig fand, kam er immer wieder.

Ich traue mich nicht, Berta etwas über die Bildchen auf den Tassen zu sagen, weil sie im Gegensatz zu dem Bonus, den sie bei meiner Mutter gehabt haben soll, bei mir einen anderen hat: Sie ist unverhältnismäßig alt, wohl um die fünfundsechzig,

und ich wage es nicht, ihre Arbeit zu kritisieren.

Ich denke, sie könnte mich für unhöflich halten. Vielleicht, so denke ich, geht sie eines Tages von selbst. Sie ist rüstig, sie könnte mit ihrem Leben noch etwas machen. Ferner ist Herr Hirschmann nicht der einzige Gast, dessen einziger Lichtblick Berta ist. Berta entschuldigt sich ständig, außer, wie gesagt, nach dem Wegputzen meiner Bilder von den Porzellantassen. Wenn eine Tür hinter ihr laut zuschlägt oder wenn ich ihr versehentlich auf den Fuß trete, bittet sie um Verzeihung, ebenso wenn ich ihr im zweiten Stock auf dem Flur begegne.

Der Flur ist dort wegen des anschließenden Daches so schmal, daß sich beide Menschen, die sich dort begegnen, leicht seitlich stellen müssen, um ohne Berührung aneinander vorbeizukommen. Sie entschuldigt sich auch, wenn sie ein Zimmer betritt, in dem ich bin. Das passiert häufig, jedenfalls empfinde ich es so. Berta riecht nach Vanille, als trüge sie ein Duftbäumchen unter der Schürze, eins von denen, die man im Auto an den Rückspiegel oder in das Badezimmer hängt,

wenn man den eigenen Gestank nicht ertragen oder Fremden vorführen mag. Berta arbeitet hastig und daher oft flüchtig – sie eilt, als würde sie ihre Kündigung in den Gliedern rennen spüren, aber das nützt ihr nichts. Und ich, obgleich ich häufig an ihre Kündigung gedacht habe, einzig aus dem Wunsch, mich endlich allein im Haus zu fühlen, kann ihr keine beruhigenden Worte spenden, weil ich allein durch die Erwähnung ihrer Ahnung recht geben würde. Also lasse ich sie an mir möglichst unbemerkt vorübereilen. Es gibt Tage, da ertrage ich den Klang ihrer Schritte nicht, da antworte ich nichts, wenn der Wind eine Tür zuschlägt und sie sich dafür entschuldigt, ich schweige auch, wenn sie sich durch die Stille aufgefordert fühlt, neue Entschuldigungen vorzubringen, oder sich entschuldigt, sobald sie den Staubsauger in Betrieb nimmt. Ich flüchte vor Berta, das ist der Grund, warum sie mich häufig in Zimmern aufschreckt, die für einige Stunden um die Mittagszeit unbewohnt sind. Viele der Gäste kommen seit Jahren, manche von ihnen regelmäßig zu einer bestimmten Jahreszeit, in einem bestimmten Monat, manche bleiben mehrere Wochen und nur wenige für eine einzige Nacht.

Einer der Gäste, den ich seit meiner Kindheit kenne, ist Anton Jonas. Er trägt ausschließlich schwarze Anzüge, die aussehen, als seien sie an ihm gewachsen, sie rahmen seine Blässe und die Schatten unter den Augen, daß meiner Mutter feierlich zumute geworden ist, als sie ihn zum ersten Mal sah. Das hat sie ihm, Berta und mir, vielleicht auch noch anderen gesagt. Er ist ein eher schweigsamer Mensch, dem nur seltene Augenblicke geeignet scheinen, etwas zu erzählen. Bisweilen kann man den Eindruck haben, er sitzt so still auf seinem Stuhl beim Essen oder wartet scheinbar ohne jede Motivation in dem Sessel neben der Eingangstür, in dem er trotz seiner Größe versinkt, um eben solch einen Augenblick nicht zu verpassen. Er ist ein ständig Wartender, der legt beim Abendessen dann die Serviette von links nach rechts und wieder von rechts nach links, vergißt, seinem Tischnachbarn die mindeste Aufmerksamkeit zu schenken, und spürt selbst bei Fragen desselben nicht, daß er angesprochen wird. Diese Augenblicke, auf die er in den langen Zeiträumen zwischen dem einen und dem nächsten wartet, sind ihm sehr teuer, und er läßt sich in ihnen ungern unterbrechen, so daß sie auch mal zwei, drei Stunden andauern können und er sie gerne noch um weitere Viertelstunden verlängert, wenn die Bitte um Zugabe es ihm erlaubt. (…)

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.


Date: 2016-03-03; view: 582


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