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Die Lügevon Petra Hammesfahr

Prolog

Es war ein scheußlicher Anblick, sogar für den Jungen, der mit seinen vierzehn Jahren schon viel Unmenschlichkeit gesehen hatte, aber nicht in diesem Land. Hier wurde keinem Mann die Hand abgehackt, weil er etwas gestohlen hatte, und keiner Frau die Finger, nur weil ihre Nägel lackiert waren. Hier lief auch keine Frau Gefahr, bis zur Hüfte eingegraben und mit Steinen beworfen zu werden. Und Kinder konnten spielen, ohne ihre Beine oder gleich das ganze Leben zu verlieren. Der Junge fand das gut, er war gerne hier. Seine Schwestern durften zur Schule gehen, er natürlich auch. Und nach der Schule durfte er sein, was er war, nur ein Junge, der gerne Fußball spielte.

Er verließ an dem Sonntag Ende November 2002 die kleine Wohnung, die man seinen Eltern, seinen Schwestern und ihm zugewiesen hatte, mit einem Ball unter dem Arm und einer Tüte voll Müll in der Hand. Den Müll sollte er in einen der

Container stecken, die neben dem Haus standen. Anschließend wollte er sehen, ob er ein paar Jungs fand, die mit ihm spielten. Doch das vergaß er dann. Er schob den Deckel des Containers zurück und sah das Bündel Mensch zwischen dem Unrat liegen, schmutzig, blutig, angesengt, weggeworfen wie Abfall. Eine Frau, das erkannte er sofort, obwohl sie einen Anzug trug wie ein Mann.

Aber sie waren schon lange hier, inzwischen trug auch seine älteste Schwester Hosen und lackierte sich die Fingernägel. Die Nägel der Frau im Container waren schwarz, beide Hände waren schwarz verbrannt, ihr Kopf deformiert und

blutverkrustet, als hätte man sie mit Steinen beworfen. Sekundenlang starrte der Junge sie an, wollte schreien und konnte nicht. Seinen Ball und den Beutel voll Müll ließ er fallen, lief zurück zum Haus und sagte seiner Mutter, was er gesehen hatte. Seine Mutter folgte ihm ins Freie und überzeugte sich, ehe sie einen Nachbarn herbeirief, der schließlich die Polizei alarmierte.

Wer die Frau im Container war und warum sie hatte sterben müssen, erfuhr der Junge nie. Die Polizei glaubte schon bald, es zu wissen, doch sie irrte sich.

 

1. Teil

Begonnen hatte es an einem Donnerstag Ende Juli 2002, einem jener Sommertage in unseren Breiten, die nur bei eisgekühlten Getränken im Schatten einigermaßen erträglich sind. Susanne Lasko stand nervös und verschwitzt in der klimatisierten

Eingangshalle des Gerler-Bürohauses vor einem der vier Aufzüge. Der Aufzug kam, die Tür glitt auf, und Susanne Lasko kam sich entgegen.

Die äußere Erscheinung der Frau, die so überraschend vor ihr auftauchte, war nicht völlig identisch mit ihrer. Sie hatte ihre Figur, ihre Größe, ihre Augen, ihren Mund. Es war ihr Gesicht – jedoch mit einem perfekten Make-up und umrahmt von einer modischen Frisur. Das Haar war von einem kräftigen Braun und erheblich kürzer, als sie selbst es sonnengebleicht bis auf die Schultern trug. Bekleidet war ihre



Doppelgängerin mit einem hellgrauen Nadelstreifenkostüm und einer weißen Bluse.

Eine langweilige Farbkombination, fand Susanne. Aber Kostüm und Bluse saßen tadellos und sahen so frisch aus, als wären sie gerade gebügelt worden. Von der rechten Schulter der Frau baumelte eine Handtasche, die ein Vermögen gekostet

haben musste. Unter dem linken Arm klemmte eine pralle Dokumentenmappe. Nie zuvor hatte Susanne sich so schäbig gefühlt, so armselig, elend, alt und verbraucht.

Sie trug ebenfalls ein Kostüm; das grüne, das sie vor zehn Jahren gekauft und zuletzt vor drei Jahren getragen hatte – anlässlich ihrer Scheidung von Dieter Lasko. Dazu mochte es gepasst haben. Zu einem Vorstellungsgespräch in einem renommierten Maklerbüro passte es weniger. Aber etwas Besseres hatte sie an diesem Morgen nicht aus ihrem Schrank nehmen können.

Bei der ersten Begegnung mit Nadia Trenkler hatte sie zwei Euro und zweiundsechzig Cent im Portemonnaie. Sie hatte nachgezählt, ehe sie aufbrach, ihrem Leben neuen Auftrieb zu geben. Im Januar hatte sie ihre letzte Arbeitsstelle verloren.

Es war keine reguläre Anstellung gewesen, deshalb hatte sie keine Arbeitslosenunterstützung beantragen können. Das Sozialamt um Hilfe zu bitten, verboten ihr Stolz und die Befürchtung, dass man ihren geschiedenen Mann auf ihre Lage aufmerksam machte oder sich an ihre Mutter hielt, die etwas Vermögen besaß, es jedoch für den eigenen Lebensabend brauchte und nicht erfahren sollte, in welcher Lage sich die einzige Tochter befand.

Im Februar und März hatte sie unzählige Bewerbungen geschrieben und ihre Ersparnisse aufgezehrt. Seit April unterstützte ihre Mutter sie – ohne es zu ahnen. Agnes Runge war misstrauisch gegen Fremde und selbst nicht mehr imstande,

ihre Konten zu überwachen. Sie war infolge eines Diabetes erblindet, weil sie die Erkrankung aus Angst vor Spritzen lange Jahre unbehandelt gelassen hatte.

Nach dem Tod ihres Mannes war Agnes Runge finanziell gut versorgt gewesen, hatte eine recht hohe Lebensversicherung ausbezahlt bekommen, das Haus verkauft, in dem Susanne aufgewachsen war, und sich in einem komfortablen

Seniorenwohnheim eingemietet, wo sie optimal betreut wurde – für dreitausend Euro im Monat. Die Verwaltung ihrer Alterssicherung hatte sie in die Hände der Tochter gelegt und vertraute darauf, dass Susanne ihr durch geschicktes Anlegen

noch viele sorglose Jahre garantierte.

Stattdessen bediente sie sich. Nicht üppig, wahrhaftig nicht!

Sie wollte auch alles zurückzahlen, sobald sie dazu in der Lage war. Bisher hatte sie sechzehnhundert Euro genommen, vierhundert pro Monat. Nach Abzug der Miete und weiterer Kosten, die eine Wohnung zwangsläufig verursacht, blieben ihr

hundert für Lebensmittel und andere Notwendigkeiten wie Briefpapier, große Umschläge, Fotokopierkosten und Porto.

Sie ernährte sich hauptsächlich von Nudeln und musste sorgfältig abwägen, ob sie für längere Strecken die Straßenbahn nahm. Für den Weg zu Behringer und Partner hatte sie darauf verzichtet.

Sieben Kilometer zu Fuß durch die Hitze und die von Abgasen dicke Luft. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, die Bluse klebte am Oberkörper, die Füße klebten in den schwarzen Pumps und schmerzten ein wenig. Es war erträglich, sie spürte es kaum, war bis zu der Sekunde, als die Aufzugtür zur Seite glitt, vollauf mit dieser großen Hoffnung beschäftigt gewesen. Eine Einladung zum persönlichen Vorstellungsgespräch!

Nur ein Mensch, der seit einem halben Jahr ohne eigenes Einkommen und schon seit zweieinhalb Jahren ohne Kranken- und Rentenversicherung war, der nach jeder Bewerbung seine Unterlagen entweder mit einem lapidaren Absageschreiben

oder gar nicht zurückerhielt, konnte ermessen, was das bedeutete.

«Sind Sie jung, dynamisch und leistungsbereit?», hatten

Behringer und Partner in ihrer Anzeige gefragt und erklärt:

«Dann warten wir auf Sie! Wir bieten … Wir erwarten …»

Alt fühlte Susanne Lasko sich nicht mit ihren siebenunddreißig Jahren. Ihre Dynamik mochte in den letzten Monaten ein wenig gelitten haben. Aber leistungsbereit war sie – und lernfähig.

Sie lernte sogar sehr schnell und käme garantiert auch mit einem Computer zurecht, wenn man sie in Ruhe daran werkeln ließ. Bei ihrer letzten regulären Anstellung, drei Wochen bei einer Versicherung, war sie am Textprogramm kläglich gescheitert, weil ein junger Kollege sie mit scherzhaften Ratschlägen

versorgte statt mit einem Handbuch.

Und Fremdsprachen: Während ihrer Schulzeit hatte ein Lehrer festgestellt, dass sie über eine außergewöhnliche Sprachbegabung verfügte. Man setzte sie für eine halbe Stunde neben das Kind eines italienischen Gastarbeiters oder den Sprössling einer Familie, die aus dem Osten geflohen war, und schon konnte sie radebrechen oder sächseln, als hätte sie nie anders gesprochen. Das reichte natürlich nicht für eine Verständigung im geschäftlichen Bereich. Das bisschen Schulenglisch reichte wohl auch kaum. Und von ein paar Redewendungen abgesehen, besaß sie keine Kenntnisse der französischen Sprache, die bei Behringer und Partner ebenfalls

Voraussetzung waren.

Das hatte sie in einem ausführlichen, um nicht zu sagen schonungslosen Bewerbungsschreiben auch mitgeteilt – ohne allzu große Erwartungen. Dass man sie trotzdem einlud, berechtigte wohl zu großen Hoffnungen. Auf dem gesamten

Weg hatte sie sich die Worte zurechtgelegt, die sie dem Personalchef – falls es einen geben sollte – sagen musste. Und alles, was sie sich zurechtgelegt hatte, vergaß sie dann für ein paar Minuten.

Sie starrte die Frau im Nadelstreifenkostüm an, wurde ihrerseits fassungslos und erstaunt gemustert. Menschen drängten sich an ihnen vorbei – murrend oder mit unwilligen Mienen, weil sie den Weg versperrten. Es schien keinem aufzufallen,

dass sich vor dem Aufzug zwei Frauen gegenüberstanden, die sich ähnlicher waren als manch eineiiges Zwillingspaar.

Vielleicht war es für Außenstehende angesichts der unterschiedlichen äußeren Aufmachung auch nicht so offensichtlich wie für sie.

Denn trotz einiger bitterer Erfahrungen erinnerte Susanne sich gut an ihr Aussehen, als sie beruflich noch festen Boden unter den Füßen gehabt hatte, entsprechend gekleidet und dezent geschminkt gewesen war. Und Nadia Trenkler hatte ihr eigenes Gesicht wohl auch schon in schlechten Zeiten im Spiegel betrachtet.

Nadia fasste sich als Erste, gab einen ungläubig klingenden Laut von sich, murmelte: «Das gibt es nicht», stellte sich vor und meinte lächelnd: «Wir müssen einen Kaffee trinken und feststellen, welcher von unseren Vätern das verbrochen hat.»

Dass ihr Vater etwas verbrochen haben sollte, konnte Susanne sich nicht vorstellen. Er war bis zu seinem plötzlichen und viel zu frühen Tod ein ehrlicher und rechtschaffener Mann gewesen. Nadia Trenklers Vater kannte sie zwar nicht,

dafür kannte sie ihre eigene Mutter umso besser. Treue gehörte für Agnes Runge zu den unumstößlichen Grundwerten.

Deshalb war das, was die Frau mit ihrem Gesicht andeutete, völlig ausgeschlossen.

Und sie wollte sich nicht mit Nadia Trenkler auseinander setzen. In den ersten Minuten wollte sie es wirklich nicht. Das hatte nichts mit einer bösen Vorahnung zu tun. Es war nur die Situation an sich. Nadia Trenkler saß in einem Zug, der für sie längst abgefahren war. Sie musste zusehen, dass sie wenigstens die nächste Bummelbahn erwischte, wollte sie nicht ganz auf der Strecke bleiben.

«Ich bin in Eile», erklärte sie. «Ich muss zu einem Vorstellungsgespräch.

» Der letzte Satz huschte ihr gegen ihren Willen über die Lippen, vielleicht weil sie nur selten Gelegenheit hatte, mit anderen zu sprechen.

«Bei Behringer?», erkundigte sich Nadia überrascht.

Susanne fragte sich keine Sekunde lang, wie ihre Doppelgängerin das so treffend erraten hatte. Sie nickte automatisch.

«Das wird ja nicht ewig dauern», sagte Nadia. «Ich warte.»

Nun schüttelte Susanne energisch den Kopf. «Ich will nicht, dass Sie warten. Ich will mit Ihnen keinen Kaffee trinken, weder über meinen noch über Ihren Vater reden. Ich will nicht wissen, wer Sie sind. Verstehen Sie? Es reicht mir, zu wissen,

wer ich bin.»

Und das wusste sie in dem Moment ganz genau. Wenn sie den Job als Schreibkraft bei Behringer und Partner nicht bekam, war sie so ziemlich am Ende. Es gab für eine Frau in ihrem Alter und mit ihrem Hintergrund vielleicht noch ein paar Hoffnungen und den eisernen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nur gab es auf dem Arbeitsmarkt leider keine nennenswerten Chancen.

In absehbarer Zeit müsste sie sich gezwungenermaßen mit den Kleinanzeigen im Stellenmarkt der Wochenendausgabe beschäftigen, um nicht auch noch ihre Mutter zu ruinieren.

Putzhilfe gesucht – drei Stunden wöchentlich. Bedienung für Gaststätte – aushilfsweise für zwei Abende. Und das wäre das endgültige Aus. Es war ein simples Rechenexempel. Um einigermaßen zu leben und sich wenigstens wieder eine Krankenversicherung leisten zu können, brauchte sie mehrere solcher Stellen. Dann bliebe kaum noch Zeit, Bewerbungen zu schreiben und zu Vorstellungsgesprächen zu gehen. Sie ließ Nadia Trenkler stehen und ging zur nächsten Aufzugkabine.

Die, vor der sie standen, war längst wieder oben.

«Schade», hörte sie die Frau mit ihrem Gesicht noch sagen.

Sie fuhr hinauf in die fünfte Etage zu Behringer und Partner, fühlte sich immer noch schäbig, armselig, elend, alt, verbraucht und vollkommen fehl am Platz. Ein dicker Teppich schon im Vorraum, darauf ein Acrylschreibtisch, dahinter eine junge Frau wie aus einem Katalog für korrekte Geschäftskleidung. Dynamisch sah sie nicht aus, nur überfordert von Susannes Erscheinung und der Überlegung, wie sie ihr begreiflich machen sollte, dass Behringer und Partner keine Immobilien in niederen Preisklassen anboten. Das unsichere Lächeln der Empfangsdame erfror, als Susanne erklärte, sie sei nicht gekommen, um sich bei einer Wohnungssuche beraten zu lassen. (…)

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.

 

 


Date: 2016-03-03; view: 583


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