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Die grammatische Bedeutung der Wortformen 3 page

Die Eigenart des epischen Präteritums im literarischen Text besteht dar­
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verbunden werden kann und folglich auch selbst die Gegenwarts- oder Zu­kunftsbedeutung gewinnen kann. Käte Hamburger illustriert das anhand des Satzes Herr X war auf Reisen. In verschiedenen Kontextbedingungen kann dieser Satz verschiedene zeitliche Bedeutungen haben. Sie schreibt: „Wir können uns den Romansatz „Herr X war auf Reisen" fortgesetzt denken durch einen Satz von der Form: „Heute durchstreifte er zum letztenmaldie europäische Hafenstadt, denn morgen ging sein Schiff nach Amerika.., Hier stoßen wir nun auf das objektive grammatische Symptom, das in all semer Unscheinbarkeit den entscheidenden Nachweis erbringt, d^ß das Imperfekt des fiktionalen Erzählens keine Vergangenheitsaussage ist [101]. Die Fol­gerung der Verfasserin ist, dass das Präteritum im literarischen Text seme paradigmatische Bedeutung eines Vergangenheitstempus verliert. Tatsacn-


lieh hat das Präteritum im literarischen Text wie auch alle anderen Tempus­formen keinen Bezug auf den realen Redemomertt. Es handelt sich hier um die fiktive Zeit einer erdichteten Romanwelt, die der Leser miterlebt Das epische Präteritum ist je nach dem Kontext Ausdruck einer fiktiven Gegen­wart oder Zukunft. Alles was der fiktiven Gegenwart des epischen Präter­itums vorangeht, steht im Plusquamperfekt: „Es kann im Romans atz zwar heißen: Morgen war Weihnachten, niemals aber: Gestern war Weihnachten, sondern nur: Gestern war Weihnachten gewesen'1 (ebenda).

Ein Präsens, dass im erzählenden Text dem Präteritum vorangeht oder auf dieses folgt, weist darauf hin, dass an der betreffenden Stelle des literari­schen Textes die Rede nicht von der erdichteten, fiktiven Welt, sondern von realen S ach verhalten ist. Hamburger veranschaulicht das am folgenden Text­abschnitt:

An der Mittemachtseite des Ländchens Österreich zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts.,. Er beugt den Lauf der Bergeslinie ab, und sie geht dann mitternachtwärts viele Tagereisen wei­ter. Der Ort dieser Waldesschwenkung nun ist es, in dessen Revieren sich das begab, was wir uns vorgenommen haben, zu erzählen.

„Diese präsentische Milieuschilderung", schreibt Hamburger, „ist, ob­wohl sie einen Roman einleitet,... eine echte Wirklichkeitsschilderung. Und zwar weist sie sich als solche nicht etwa durch die geographische Örtlich­keit, sondern durch das Präsens aus, das kein historisches Präsens ist,.," (ebenda).

Aus dem Gesagten lässt sich folgern, dass die paradigmatische Bedeu­tung des Präteritums im literarischen Text neutralisiert wird. Weinrich nennt diese Erscheinung ei.ne Tempusparadoxie [272].

3. Auf der Neutralisierung der Vergangenheitsbedeutung des Präteritums beruht auch die in der modernen literarischen Prosa sehr beliebte Verwen­dung des Präteritums der erlebten Rede. Im Gegensatz zu seiner paradigma­tischen Bedeutung bezeichnet das Präteritum in diesem Falle die Rede und die Gedanken der Romanhelden, die diese auf die Gegenwart oder die Zu­kunft beziehen. Temporaler Nullpunkt, auf den verschiedene Zeitstufen be­zogen werden, ist der fiktive Redemoment:



Mit ihnen zusammen buk er zwischen heißen Steinen sein Brot und aß es, nachdem er es mit Knoblauch eingerieben hatte. Denn vom Knoblauch wur­de man groß und blieb immer gesund. (H. Mann; zit. nach R i e s e 1 [210]. Der Volksglaube an den Knoblauch ist in Form von erlebter Rede wiederge­geben, Die Tatsache ist allgemein, das Präteritum wird also auf die Ebene des Präsens transponiert.)

Die Lage schien ihm ganz unerträglich, obwohl er wusste, dass sie nur mehrere Stunden dauern würde, denn morgen ging sein Flugzeug (zit, nach Er b en. Die erlebte Rede ist hier auf die Zukunft bezogen.)

Die Verwendung des Präteritums der erlebten Rede erklärt sich dadurch, dass in der erlebten Rede „Autorensprache und Figurensprache ineinander­fließen" [210]. Das epische Präteritum der Autorensprache dehnt sich dabei


(unter Neutralisierung der paradigmatischen Bedeutung des Präteritums) auf die in Form, der erlebten Rede wiedergegebenen Worte oder Gedankengänge der Romanfiguren aus, die in der direkten Rede ein Präsens oder ein Futur erfordern würden.

Das Präteritum der erlebten Rede ist ein syntagmatischer Sondergebrauch des Präteritums. Es ist auf den Stil der literarischen Prosa beschränkt, erfährt hier aber in der neuesten Zeit immer größere Ausdehnung. Daher das Inter­esse für das Präteritum der erlebten Rede in der modernen deutschen Gram­matik (vgl.: [38, 85, 138] von den Spezialforschungen [144,101, 256]).

4. Eine syntagmatische Bedeutung des Präteritums, die in den Gramma­
tiken der deutschen Sprache kaum Beachtung findet, ist die relative zeitliche
Bedeutung der Gleichzeitigkeit in der Vergangenheit. Sie kommt bei der
Ersatzprobe zum Vorschein, wenn in gleicher Satzkonstruktion das Präter­
itum und das Plusquamperfekt ausgetauscht werden. Vgl.:

1) Sie begriff, dass ihre Eltern auf 2) Sie begriff, dass ihre Eltern auf

sie warteten. sie gewartet hatten.

1) Es berührte ihn peinlich, dass 2) Es berührte ihn peinlich, dass

niemand nach seinem Befinden niemand nach seinem Befinden

fragte. gefragt hatte.

Der Ersatz des Präteritums durch das Plusquamperfekt macht das Oppo­sitionsverhältnis zwischen diesen Tempora deutlich:

Plusquamperfekt Präteritum

„Vorzeitigkeit in der Vergangen- „Gleichzeitigkeit in der Vergangen­heit" (starkes Oppositionsglied) heit" (schwaches Oppositionsglied)

Die relative zeitliche Bedeutung des Präteritums kommt zur Geltung, wenn die Anordnung der Verben im Satz dem zeitlichen Nacheinander der Ge­schehnisse nicht entspricht und wenn es gilt, das zweitgenannte Geschehen nicht als vorangehend (Plusquamperfekt), sondern als gleichzeitig zu kenn­zeichnen.

5. Im scheinbaren Gegensatz zur Eigenart des Präteritums als Erzähltem­
pus steht der Gebrauch des Präteritums in den Dialogpartien literarischer
Texte, Lindgren bringt folgende statistische Angaben zur Verwendungsfre­
quenz von Perfekt und Präteritum im Dialog:

In den Novellen von Theodor Im Roman Sudermanns

Storm „Frau Sorge"

Präteritum 118 Belege 9% Präteritum 114 Belege 8%

Perfekt 158 Belege 13 % Perfekt 179 Belege 11%

[157] [157]

Die Zusammenfassung der Zahlen aus einem größeren Korpus literarischer Texte ergibt:

Präteritum Perfekt Plusquamperfekt

42,4% 56,0% 1,7%

[157]


Die Transposition des Präteritums in die Sprechsituation des Dialogs ver­leugnet nicht seine Eigenschaft als ErzEhltempus. Sie ist auf dreierlei Ursa­chen zurückzuführen:

a) Das Perfekt wechselt in das Präteritum über, wenn einer der Gesprächs­
partner zu erzählen beginnt, also eine Erzählung in den. Dialog eingebettet
wird:

Hoffmann:... erzähle mir lieber etwas von dir, was du getrieben hast, wie's dir er­gangen ist.

Loth: Es ist mir so ergangen, wie ich's erwarten musste. Hast du gar nichts von mir gehört? durch die Zeitung, meine ich.

Hoffmann: Wüsste nicht.

Loth: Nichts von der Leipziger Geschichte!

Hoffmann; Ach so, das\ Ja\ Ich glaube... nichts Genaues.

Loth: Also, die Sacke war folgende... (Hauptmann)

b) Das Präteritum wird von den Verben haben, sein und den Modalver­
ben unabhängig von der Sprechsituation bevorzugt, was wohl mit der Bil­
dungsweise der analytischen Vergangenheitsformen bei diesen Verben zu­
sammenhängt. Vgl. das Beispiel von Erben:

Ich war dort und habe getan, was ich konntet [60].

Auch die Verben des Sagens und des Gefühls (verba dicendi und sen-tiendi) und solche Verben wie brauchen, meinen, wünschen, glauben, leben, scheinen und einige andere bevorzugen im dialogischen Text das Präteritum, obwohl das Perfekt nicht völlig ausgeschlossen ist. Ulrika Hauser-Suida und Gabrielle Hoppe-Beugel bringen folgende Beispiele [108]:

Da bist du ja, Walter, ich dachte schon, du bist zu deinem Campari ver­schwunden. (Frisch)

Sagte ich nicht schon vor Jahren, dass Sie noch vorzogen, als Dreijährig dieser Welt zu begegnen: Leute wie wir können sich nicht verlieren. (Grass)

Ich wusste gar nicht, dass sie in Wien sind. (Doderer)

Zwischen den Anwendungsbereichen von Präteritum und Perfekt als ab­solute Vergangenheitstempora gibt es keine unüberbrückbare Kluft, so dass sie auch im freien Variieren erscheinen können. In der gepflegten literari­schen Prosa wird die Grenze zwischen Perfekt und Präteritum zuweilen aus stilistischen Gründen verschoben. So wirkt zum Beispiel der Ersatz des Per­fekts durch das Präteritum als dichterisch, gehoben [38, 81]. Vgl. dazu auch die Beispiele von Fourquet:

Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los. (Goethe)

Am Kreuzweg wird begraben

Wer selber sich brachte um. (Heine)

Der Ersatz des Perfekts durch das Präteritum geschieht zuweilen auch dann, wenn ein bestimmter Rhythmus, eine sinngerechtere Wortfolge ange-


strebt werden, wie zum Beispiel nach Pauls eigener Erklärung beim Titel seiner Habilitationsschrift: Gab es eine mhä. Schriftsprache? [191, TV]. Ähn­lich bei Schiller: Mr waren Troer, Troja hat gestanden (ebenda).

Anderer Natur ist die Verschiebung der Grenze zwischen Präteritum und Perfekt in den deutschen Mundarten. Bekanntlich ist in den oberdeut­schen Dialekten das Präteritum gänzlich geschwunden, was hier zur Aus­dehnung des Perfekts auch als Erzählform führte. Die niederdeutschen Dia­lekte neigen dagegen zur Erweiterung des Anwendungsbereiches des Prä­teritums. Diese landschaftlichen Eigentümlichkeiten in der Verwendung des Präteritums und des Perfekts kommen nicht nur in den Mundarten, sondern auch in der weniger gepflegten Umgangssprache zur Geltung, wo nach Jung „der Gebrauch von Präteritum und Perfekt durcheinandergeht" [138].

§ 29. Das Perfekt

Die besondere Stellung des Perfekts im Tempussystem des Deutschen besteht darin, dass absolute und relative Verwendung dieses Tempus einan­der mehr oder weniger die Waage halten, so dass es sowohl dem Kreis der direkten Tempora als auch dem der indirekten Tempora angehört (vgl. das Schema auf S. 81).

1. Als direktes Tempus bezeichnet das Perfekt dasselbe Zeitverhältnis zwischen dem Geschehen und dem Redemoment wie das Präteritum: den Ablauf des Geschehens vor dem Redemoment.

Es ist schon gesagt worden, dass die beiden Tempora sich stark vonein­ander durch ihren Anwendungsbereich und womöglich durch die einzel­nen Bedeutungskomponenten (Seme) unterscheiden. Die traditionelle deut­sche Grammatik, die den kommunikativ-pragmatischen Charakter dieses Unterschiedes verkannte, suchte nach einem kategoriellenUnterschied zwi­schen ihnen. Ausgangspunkt war dabei in erster Linie die Entwicklungs­geschichte der analytischen Vergangenheitsformen. Die resultative Bedeu­tung der althochdeutschen Wortfügungen: haben, eigan, stn + Partizipi­um Perfektitransitiver und terminativer intransitiver Verben, aus denen das heutige Perfekt und Plusquamperfekt entstanden, wurde ohne Rück­sicht auf die spätere Bedeutungsveränderung dieser Verbalformen auf das Perfekt und das Plusquamperfekt des Neuhochdeutschen übertragen. Ein-fluss hatten auch das Vorbild der lateinischen Grammatik und die falsche Analogie mit dem lateinischen perfectumund dem lateinischen imper-fectum(daher auch die Termini Perfektund Imperfektin der deutschen Grammatik). So nennt Sütterlin das Perfekt und das Plusquamperfekt der modernen deutschen Sprache „Zeitformen der Vollendung": „Die Verbin­dung der Gegenwart von haben oder sein mit dem Mittelwort der Vergan­genheit (= 2, Partizip. Verfasserin) drückt aus, dass ein Zustand vorliegt, der die Folge einer vergangenen Handlung ist: Ich bin gekommen heißt also „ich bin da, infolge davon, dass ich kam"; Ich habe gesehen heißt „Ich weiss infolge meines vorausgegangenen Sehens" (eigentlich „ich besitze


etwas als etwas Gesehenes"). So heißt auch Ich habe geschrieben „ich bin jetzt in dem Zustand, der auf das Schreiben folgt, ich schreibe jetzt nicht mehr". Man fasst diese Zusammensetzung gewöhnlich — und nicht ohne Grund — als besondere Zeitform auf und nennt sie vollendete Gegen­wart"[262]. Auch O. Erdmann deutet das Perfekt als ein Tempus mit der Bedeutung „einer in der Gegenwart abgeschlossenen vergangenen Hand­lung" [62, /].

Freilich werden schon im Rahmen der junggrammatischen Richtung an­dere, vom realen Sprachgebrauch ausgehende Erklärungen der deutschen Tempora gegeben. So schreibt zum Beispiel Paul von der „Verdunkelung des ursprünglichen Sinnes" der analytischen Verbalfonnen und von der „Be­deutungsverschiebung", die sie mit der Zeit erfahren haben: „Die ursprüng­liche präsentische Resultatsbezeichnung ist zur Angabe eines Geschehnis­ses der Vergangenheit geworden" [191, IV]. Auch Wilmanns ist weit da­von entfernt, das Perfekt als eine perfektische Vergangenheitsform oder als „vollendete Gegenwart" zu sehen. Doch ist die aspektuale Deutung des Perfekts in der deutschen Grammatik gewissermaßen traditionell gewor­den. Wir begegnen ihr auch heute noch in den modernen deutschen Gram­matiken, wenn auch in Verbindung mit anderen Interpretationen. So lesen wir zum Beispiel bei Erben: „Geht es nicht darum, ein Geschehen als — gegenwärtig oder im Bereiche der Vorzeit — ablaufend zu schildern, son­dern daram, einen Vorgang als nunmehr vollendet festzustellen, so wird die Form des sog. Perfekts(<lat. perfectus vollendet, eigtl. perfectum tenv pus) gebraucht, d. h. die Vollendungsform des Verbs". Auch Jung nennt das Perfekt „die Vollendungsform" [138]. Eine Verbindung zeitlicher und aspektualer Bedeutungen sieht im deutschen Tempussystem auch Boost, indem er alle Tempora nicht nur nach ihrem Zeitbezug, sondern auch auf Grund der Opposition: während / abgeschlossen einteilt. Das Präteritum kennzeichnet er als Ausdrucksform für einen in der Vergangenheit wäh­renden Vorgang, das Perfekt dagegen als Ausdrucksform für einen „in der Gegenwart abgeschlossenen Vorgang" [32], Die Duden-Grammatik unter­scheidet zwei Verwendungsbereiche des Perfekts, und zwar als Ausdruck für ein vollendetes Geschehen und als Ausdruck einfach vergangenen Ge­schehens. [85].

Andererseits setzt sich in der modernen Grammatikforschung immer mehr die Überzeugung, das der differenzierten Verwendung von Perfekt und Präteritum keine aspektuale Opposition zugrunde liegt. Diesen Stand­punkt vertreten alle unseren Germanisten [2, 238, 216, 172] und die mei­sten deutschen Grammatikforscher [38, 221, 68, 144, u. a. m.]. Mit Bezug auf die Termini Perfektund Imperfektschreibt auch Glinz: „So wird hier und da allen Ernstes behauptet, „er kam" sei unvollendet, „er ist gekom­men" dagegen vollendet, weil das erste „Imperfekt" heiße, das zweite aber „Perfekt", und man ja auch sage „die Abmachung ist perfekt = ist vollen­det" [81].

Der Verfasser nennt das Präteritum und das Perfekt „Konkurrenten fßr einenInhalt" [81].


Die meisten modernen Sprachforscher sehen die Eigenart des Perfekts gegenüber dem Präteritum darin, dass das Perfekt das Geschehen der Ver­gangenheit mit der Gegenwart verknüpft.Es ist „eine Rückschau auf das Vergangene vom Boden der Gegenwart aus" (S e i d 1 e r).

Der Bedeutungsgehalt des Perfekts wäre danach:

 

Grammem Bedeutungskomponenten (Seme)
Perfekt „Ausbleiben des Geschehens im Redemoment" „Ablauf vor dem Redemoment" „Aktualität im Redemoment"

Diese Eigenart des modernen Perfekts berührt sich einigermaßen mit sei­ner ursprünglichen resultativen Bedeutung. Die Resultativität ist aber eine syntagmatische Bedeutungsschattierang des Perfekts, sie kommt zum Vor­schein, wenn der Kontext auf das Resultat oder die Folgen des im Perfekt dargestellten Geschehens direkt hinweist:

,Äåãã Doktor", sagte sie, „Eines steht in Ihrer Macht und darum bitte ich Sie! Schenken Sie mir reinen Wein ein, tun Sie es! Ich bin eine vom Leben gestählte Frau... Ich habe gelernt, die Wahrheit zu ertragen. (Th.Mann)

Zwischen den Tatsachen: 1) Ich bin eine vom Leben gestählte Frau und 2) Ich habe gelernt, die Wahrheit zu ertragen besteht eine unmittelbare re-sultative Beziehung. Ähnlich:

„Dw bist sehr verwegen, Philine!", rief sie aus, „Ich habe dich verzo­gen." (Goethe)

Meistens fehlt ein solcher Hinweis auf das Resultat des vergangenen Geschehens, aber das im Perfekt Ausgesagte ist dadurch mit der Gegenwart verknüpft, dass der Sprechende vor allem die Bedeutung des vergangenen Geschehens für die Gegenwart, den Redemoment oder die zeitlich uneinge­schränkte Bedeutung dieses Geschehens sieht:

Dem Vater, der immer nur methodisch, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten Unteroffiziersgesicht, den Stock geführt hatte, zuckte dies­mal die Hand, und in die eine Bürste seines silbrigen Kaiserbartes lief, über die Runzeln hüpfend, eine Träne, „Mein Sohn hat gestohlen", sagte er au­ßer Atem, mit dumpfer Stimme und sah sich das Kind an wie einen verdäch­tigen Eindringling. „Du betrugst und stiehlst Du brauchst nur noch, einen Menschen totzuschlagen." (H.Mann)

Brinkmann betont mit Recht, dass das Perfekt das vergangene Gesche­hen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart schildert, sondern es auch als isoliertes Faktumvon selbstständiger Bedeutung hinstellt [38]. Von dieser Eigenheit des Perfekts spricht auch Wilmanns; er führt darauf den Perfektgebrauch im berühmten und in der Grammatik so viel umstritte­nen Schlusssatz der „Leiden des jungen Werthers" zurück: „Handwerker


trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet" (vgl. über diesen Satz: [281, 229,138, 81, 272, 238].

Doch wäre es durchaus verfehlt, jede Perfektform auf besondere Aktua­lität des Ausgesagten für die Gegenwart oder gar auf die Resultativität hin zu untersuchen. Diese Momente mögen nur den Ausgangspunkt für die Fi­xierung des Anwendungsbereiches des Perfekts abgegeben haben. Es ist ja wohl kein Zufall, dass das Perfekt sich gerade auf diejenigen Redeformen spezialisiert hat, die vom Standpunkt der Sprechintention auf die Gegen­wart, auf den Redemoment abgestimmt sind, und zwar auf das Gespräch (den Dialog), eine kurze Mitteilung oder Meldung, eine wertende oder urtei­lende Feststellung.

Vor allem anderen aber ist das Perfekt das Vergangenheitstempus des Dialogs:

Helene: Bitte, Sie haben mich gar nicht gestört, durchaus nicht. Es ist... es ist schön von Ihnen, dass Sie meinen Schwager aufgesucht haben. Er beklagt sich immer, von... er bedauert immer, von seinen Jugendfreunden so ganz vergessen zu sein.

Loth; Ja, es hat sich zufällig so getroffen. Ich war immer in Berlin und daher-ttm wttsste eigentlich nicht, wo Hoffinann steckte. Seit meiner Bmslauer Studienzeit war ich nicht mehr in Schlesien.

Helene: Also nur zufällig smd Sie auf Ihn gestoßen!

L î t h: Nur ganz zufällig, und zwar gerade an dem Ort, wo ich ineine Studien ã« machen habe. (Hauptmann)

Ähnlich:

Auf einer Bank saß eine Dame; Diederich ging ungern vorüber. Noch dazu starrte sie ihm entgegen. „Gans", dachte er zornig. Da erkannte er Agnes Goppel.

„Eben bin ich dem Kaiser begegnet", sagte er sofort. „Dem Kaiser?" fragte sie, wie aus einer anderen Welt. (H.Mann)

Auf dieselbe Weise wird das Perfekt gebraucht, wenn es sich um ein Selbstgespräch oder um die Gedanken und Überlegungen eines Romanhel­den in Form von direkter Rede handelt

Wie rasch er über alles nachgedacht hat, dachte hieven belustigt. (Seg­hers)

2. Die zweite nicht weniger wichtige Bedeutung des Perfekts ist ihm als einem relativen (indirekten) Tempus eigen; das Perfekt dient zum Ausdruck der Vorzeitigkeit.

a) Das relative Perfekt dient zum Ausdruck der Vorzeitigkeit eines Ge­schehens in Bezug auf ein anderes im Redemoment gültiges Geschehen, es wird also in Verbindung mit dem Präsens gebraucht, z. Â.:

Luise: Ferdinand! dich zu verlieren! — Doch, man verliert ja nur, was man besessen hat, und dein Herz gehört deinem Stande. (Schiller)

Der Bedeutungsgehalt des relativen Perfekts ist also: 98


Grammem Bedeutungskomponenten (Seme)
Perfekt „Ausbleiben des Geschehens im Redemoment" „Ablauf vor einem im Redemoment gültigen Geschehen"

Ú) Das relative Perfekt erscheint auch in Verbindung mit dem 1. Futur oder mit dem futurischen Präsens als Synonym des 2. Futurs und verdrängt das 1. Futur fast völlig (vgl. S. 87).

Im Nebenzimmer warfiir kinderreiche Familien gedeckt, und dort saß auch, allein an einem Tisch, ein Neger, ein älterer, anscheinend studierter Mann mit Brille und ver­zehrte seine Mahlzeiten. Darüber wunderten sich einige Europäer und erfuhren, kein Amerikaner würde mit einem colored man, einem Farbigen, an einem Tische sitzen. Wunderten sich einige Europäer weiterhin, so erhielten sie die überlegene Antwort: „ Sie werden anders über die Niggers denken, wenn sie erst ein paar Wochen in Amerika gewesen sind!" (Kisch)

Diese Verwendung des Perfekts hat syntagmatischen Charakter. Sie be­ruht auf der Transposition des relativen Perfekts auf die Zukunftsebene. Da aber diese Verwendung immer größere Ausdehnung im modernen Deutsch gewinnt, kann man von der Tendenz zur Universalisierungdes Perfekts als allgemeines Tempus der Vorzeitigkeitreden.

§ 30. Das Plusquamperfekt

1. Das Plusquamperfekt ist ein fast ausnahmsweise relativ gebrauchtes Tempus. Im Gegensatz zum Perfekt ist seine relative Bedeutung streng um­grenzt. Es dient zum Ausdruck der sog. Vorvergangenheit, d. h. der Vorzei­tigkeit in der Vergangenheitund wird nur in Verbindung mit den Vergan­genheitstempora (Präteritum, seltener Perfekt) gebraucht:

Marcel erwachte mit entsetzlichen Schmerzen in der Schulter, Bürger Buzot hatte ihn auf die falsche Seite gelegt.. (Bredel)

Die Gesellscfmft rückte aus, nachdem Mahlmann sie abgezählt hatte. (H,Mann)

Oft werden in die Erzählung größere Episoden im Plusquamperfekt ein­geschaltet, wenn es sich um Erinnerungen an frühere Zeiten handelt (Rück­erinnerung):

Marie kam zum ersten Mal der Gedanke, ihr Freund könnte sich verspäten... Sie dachte an ihren Geliebten, nicht wie er aussehen könnte, wenn er doch noch hereinkäme, Sie dachte an ihn, wie er früher immer ausgesehen hatte.

Sie hatte einmal mit Luise im „Anker" Bier und Wellfleisch ausgegeben. Der Weih­nachtsbaum hatte schon glitzernd und ruppig in der Ecke gestanden. Zwei Männer wa­ren hereingekommen. Der eine war jung und fest und hell; der andere war auch jung gewesen, doch seine Jugend war ihr nicht aufgefallen, sondern seine beinahe zusam­mengewachsenen Brauen. Er war auch nicht hoch und fest gewesen, sondern gedrungen und klein. Er tmtte die Mütze abgenommen von einem kahl geschorenen kegelförmigen Kopfi Dem Jungen war das helle Haar in einzelnen Strähnen vom Wirbel gehangen. Sie


hatte die Nadeln von dem Tisch unter dem Weihnachtsbaum weggekehrt, an den die zwei sich setzten. (Seghers)

Eine Novelle, ein neues Kapitel im Roman können auch durch einen längeren Abschnitt im Plusquamperfekt eingeleitet werden, der den Leser darüber aufklärt, wie die Situation vor und zu Beginn der erzählten Ereig­nisse war:

Seit manchem Jahr hatten Buddenbrooks sich der weiteren sommerlichen Reisen entwöhnt, die ehemals üblich gewesen waren, und selbst, als im vorigen Frühling die Senatorin dem Wunsche gefolgt war, ihren alten Vater in Amsterdam zu besuchen und nach so langer Zeit einmal wieder ein paar Duos mit ihm zu geigen, hatte ihr Gatte nur in ziemlich wortkarger Weise seine Einwilligung gegeben. Daß aber Gerda, der kleine Johann und Fräulein Jungmann alljährlich flr die Dauer der Sommerferien ins Kur­haus von Travemünde übersiedelten, war hauptsächlich Hannos Gesundheit wegen die Regel geblieben... (Th.Mann).

Der Bedeutungsgehalt des Plusquamperfekts ist also:

 

Grammem Bedeutungskomponenten (Seme)
Plusquamperfekt „Ausbleiben des Geschehens im Redemoment" „Ablauf vor einem anderen vergangenen Geschehen"

2. Außer dem relativen Gebrauch kann das Plusquamperfekt zuweilen in Verbindung mit dem Präteritum dieselben absoluten Bedeutungen haben, die sonst dem Perfekt eigen sind, nur dass sie aus dem Bereich des Dialogs auf die Ebene der epischen Erzählung transponiert sind.

a) Gleich dem Perfekt kann das Plusquamperfekt beim Ausdruck einer
resultativen Beziehung zwischen zwei Geschehnissen verwendet werden
(vgl. über das Perfekt S. 97). Doch verbindet es sich mit dem Präteritum, so
dass beide Geschehnisse in diesem Fall der Vergangenheit angehören:

Das Bier! Der Alkohol! Da saß man und konnte immer noch mehr davon haben, das Bier war nicht wie kokette Weiber, sondern treu und gemütlich. Beim Bier brauchte man nicht zu handeln, nicht zu wollen und zu erreichen, wie beiden Weibern, Alles kam von selbst. Man schluckte: und da hatte man es schon zu etwas gebracht, fühlte sich auf die Höhen des Lebens befördert und war ein freier Mann, innerlich frei. Das Lokal hätte von Polizisten umstellt sein dürfen; das Bier, das man schluckte, verwandelte sich in innere Freiheit. Und man hatte sein Examen so gut wie bestanden. Man war „fertig", war Doktor\ (H.Mann)

b) Ebenfalls wie das Perfekt kann das Plusquamperfekt in einer kurzen
Mitteilung, einer Feststellung verwendet werden, kann den Inhalt eines Dia­
logs wiedergeben. Kennzeichnend ist auch in diesem Fall die Verbindung
mit dem Präteritum, die Transposition auf die Ebene der epischen Erzäh­
lung;

„Senator Buddenbrook war an einem Zahne gestorben," hieß es in der Stadt. (Th.Mann)


§ 31. Die Oppositionsverhältnisse im Tempussystem

Anschließend an die Darstellung der Verwendung und Bedeutung der Tem­pora Iässt sich eine Matrix zusammenstellen, die die Grundbedeutung der ein­zelnen Tempora aus der Sicht ihrer distinktiven Merkmale veranschaulicht:

 

  Präsens 1. Fut. 2. Fut. Prät. Perf. PJqupf.
1. „Gültigkeit im Redemoment" + - - - - -
2. „Ausbleiben im Redemoment" - + + + + +
3. „Ablauf vor dem Redemoment" - - - + + +
4. „Eintritt nach dem Redemoment" - + + - - -
5. „Aktualität des vergangenen Geschehens im Redemoment" - + _
6. „Distanzierung des vergangenen Geschehens vom Redemoment" + - +

Eine erste Scheidungslinie trennt das Präsens von allen anderen Tempora auf Grand der Gegenüberstellung der distinktiven Merkmale „Göltig im Re­demoment" / „Ausbleiben des Geschehens im Redemoment":


Date: 2016-03-03; view: 938


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