Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






Worauf laß ich mich ein? 15 page

Ein Schnellzug für Fronturlauber trug ihn nach Westen. Die Abteile waren mit Soldaten aller Waffengattungen vollge­stopft. Bartstoppelige Gesichter, vom Schlaf entspannt, vom Wachsein entstellt. Heute war Heiliger Abend.

Magdeburg. Halt! Nicht weiter nach Norden! Er erreichte Hannover, dann saß er fest, es war auch kein Wagen zu fin­den, der weiterfuhr. Planlos lief er durch die Straßen. Es dämmerte. Er setzte sich in den Bahnhofswartesaal. Es wurde Abend. Radiolärm, eine Ansprache, nicht hinhören. Und dann: Stille Nacht, heilige Nacht... Weihnachtsabend. Deutsche Dome läuten die Weihnacht ein. Holt vergrub den Kopf in den Armen.

Am anderen Morgen langte er in Gelsenkirchen an, fuhr mit der Straßenbahn nach Essen und telefonierte. Frau Ziesche war überrascht. Er fragte: „Darf ich kommen?“ – „Nein“, sagte sie. „Günter Ziesche kommt nachher auf Tagurlaub.“ Er flehte: „Ich hab ... alle Brücken hinter mir abgebrochen, du darfst mich jetzt nicht allein lassen.“ Er hörte sie sagen: „Warte!“ Es dauerte lange. „Also fahr nach Borken, das liegt hinter Wesel, irgendwie wirst du schon hinkommen. Dann läufst du bis zur Chausseegabelung und nach rechts ins nächste Dorf, es sind nur ein paar Kilometer, das Gasthaus heißt ,Zur Quelle’. Dort treffen wir uns. Soll Ziesche sich kümmern. Ich laß mich von einem Bekannten mit dem Wagen hinfahren.“ Er war glücklich. „Bis nachher“, sagte sie. „Ich freu mich auch.“

Er gelangte erst nachmittags ans Ziel. Er fand einen freund­lichen Dorfgasthof. Sie saß in einer Ecke, unauffällig und mädchenhaft. Er faßte ihre Hände. Langsam wendete sie die Hand, über die er den Kopf beugte, und verschloß mit der warmen Innenfläche seinen Mund.

Sie liefen durch das flache, tiefverschneite Land. Die Ebene dehnte sich weit in der Dämmerung, eine eigenartige Nie­derungslandschaft. Auf Wiesen, Erlen und Weidengehölz, Moor und Bruch fielen langsam die Schneeflocken. Die Grenze nach Holland konnte nicht fern sein. Es fror. Gegen Abend endete das Schneetreiben. In der Dämmerung summte es über ihren Köpfen. Sehr fern schoß Flak. Das war außerhalb ihres Lebens. Hier gab es keinen Alarm. Zwei volle, lange Tage lagen vor ihnen. Sie stapften durch knirschenden Schnee.

„Sieh dir die Winterlandschaft an“, sagte sie. „Ist es nicht schön hier?“ Auch das war neu an ihr. Später erzählte er von seinem Vater. „Ein bißchen sehr pessimistisch“, sagte sie. „Aber im Prinzip hat er schon recht.“ Sie redete von Ohn­macht und Schicksal, man sei nur eine Figur im großen Spiel. Das paßte zu seiner gedrückten Stimmung. „Vergiß das al­les“, forderte sie. Auch Uta hatte gesagt: Vergiß das alles. „Ich kann das nicht vergessen!“ – „Doch. Warte nur! Wenn du zur Batterie zurückgehst, hast du alles vergessen.“

In der leeren Gaststube brannten ein paar Kerzen am Weih­nachtsbaum. Der Ofen spuckte wohlige Wärme. Der Gast­hof war mit Bombengeschädigten belegt, aber für Frau Ziesche gab es jederzeit ein Zimmer. Vor Jahren habe man hier auf Betriebsausflügen gerastet, erzählte sie.



Sie saßen nach dem Essen am warmen Kachelofen, dicht beieinander. Im Radio ertönte wieder: „Stille Nacht, heilige Nacht...“, aber mit einem veränderten Text: „... Balder, das Urlicht, ist da . ..“ Holt hörte nichts, er war nun, da draußen dunkel und drohend die Nacht stand, wieder hilflos der Er­innerung ausgeliefert, der Erinnerung an den weißhaarigen Mann und seine Worte... Sie gingen bald auf ihr Zimmer. Holt floh zu ihr, sie mochte ahnen, was in ihm vorging, und überließ sich ihm still und willenlos. Aber er lag noch lange wach und kämpfte gegen die Angst an, die nur langsam schwä­cher wurde. Es darf mich nicht umwerfen, sagte er sich. Ich hab es damals verwunden, bei Uta, ich hab auch Gerties... Gerede unterbekommen, es darf mich nicht umwerfen! Es häuft sich an, dachte er, es ist... wie eine Belastungsprobe, als wolle das Schicksal mich prüfen. Schicksal, dachte er.

Der Morgen war von weißem, eiskaltem Nebel verhüllt, aber der Nordost trieb die Schwaden auseinander. Am frost­klaren Himmel strahlte die Wintersonne und warf hinter je­den Weidenbusch blaue Schatten. Stundenlang wanderten sie durch die verschneite Ebene. Er ging neben ihr her, aber er war ihr fern und hing seinen Gedanken nach. Schicksal, dachte er wieder, das ist jenes Große, Dunkle, Unbekannte, dem wir Menschen ausgeliefert sind... Sie erzählte aus ihrem Leben. Als Kind habe sie tanzen gelernt, als Sechzehnjährige sei sie mit einem Ballett durch Europa gereist, durch Frankreich, Eng­land, Rußland... Er horchte auf. „In Rußland warst du?“ Das Land sei uferlos wie der Himmel, der sich darüber wölbe, hörte er sie sagen, man ertrinke in Weite, in Grenzenlosig­keit... „Lies Dostojewskij“, sagte sie. Sein Blick suchte den Horizont, wo sich das Schneegeflimmer übergangslos mit, dem Blau des Himmels vermischte. Weite, Grenzenlosigkeit,,

dachte er, ist denn nicht auch unser Leben wie ein endloser, zielloser Weg, über dem die Vorsehung unser Schicksal wie ein Gewitter zusammenbraut? „Lies, was Rilke über die rus­sische Seele schreibt“, hörte er. Jetzt erst riß das Gespinst sei­ner Gedanken auseinander.

Er blieb stehen. „Ich denke, es sind alles Untermenschen?“ fragte er, und er wunderte sich nicht einmal über den neuen Widerspruch. Sie sagte: „Irgendeinen Vorwand muß man ja haben, um sie umzubringen.“

Seltsam: es traf ihn nun nicht mehr... Das Leben geht weiter, dachte er, als er in die Batterie zurückkehrte, es küm­mert sich nicht um uns, um unsere Enttäuschungen, unsere Ängste, es steht hoch und unbeeinflußbar über uns und zwingt uns auf den vorgezeichneten Weg, und wir müssen ihn gehen.

 

8.

Wolzow und Holt warteten vor der Barackentür. Sie stan­den in der kühlen Nacht. Holt sagte: „Wie Hagen und Volker im Nibelungenlied.“ – „Wirst mal sehen, wie ich die Brüder dresche!“ sagte Wolzow. – DerWinter brachte abwechselnd Schnee und Kälte und immer wieder wärmere Tage. Im Januar aber begann eine Periode grimmigen Frostes. Das Quecksilber zeigte des Nachts zweiundzwanzig, auch sechsundzwanzig Grad unter Null. Un­geachtet des harten Winters flogen die britischen Bomberver­bände Nacht für Nacht über die Grenzen.

Die Jungen hockten steif vor Frost am Geschütz. „Der fünfte Kriegswinter!“ Gomulka erzählte: „Daheim gibt’s nichts zu heizen, und das Essen wird immer erbärmlicher.“ Vetter sagte: „Die da oben, die müssen sich doch den Arsch abfrieren!“ – „Keine Spur!“ erklärte Wolzow. „Die haben’s schön warm. Die Viermotorigen sind hermetisch geschlossen, die Piloten in den elektrisch beheizten Kombinationen wer­den ordentlich schwitzen!“

„Hör auf!“ rief Holt. „Schwitzen... So ein Quatsch!“ Er zog die Wolldecke fester um seine Beine, aber die Kälte stieg im Körper hoch und ließ die Glieder wie im Schüttelfrost zit­tern. Vetter schwätzte: „In einer abgeschossenen Stirling haben sie Schokolade gefunden und prima Zigaretten! Und Boh­nenkaffee kochen sie sich auch!“ Ziesche schnitt ihm das Wort ab: „Hör auf! Das grenzt an Zersetzung!“ Vetter rief entrüstet: „Ich und Zersetzung! Du bist ein Rindvieh!“ – „Still! Luftlage!“ Sie verstummten und bereiteten sich aufs Schießen vor.

In diesen Frostnächten kam Kutschera immer erst unmittel­bar vor dem Gefecht auf die B 2 und verschwand wieder, so schnell er konnte. „Wenn was Besonderes los ist, rufen Sie mich“, sagte er zu Gottesknecht. Dann schnüffelte er noch eine Weile zwischen den Geräten herum, jagte ein paar Luftwaffenhelfer grundlos über den gefrorenen Acker, meinte endlich: „Ach, leckt mich alle...“ und zog ab. In seine Baracke hatte er sich von der Befehlsstelle eine Feldtelefonleitung legen las­sen.

Solange es ruhig blieb, ging Gottesknecht, eine ganz und gar unmilitärische Pelzmütze auf dem Kopf, von Geschütz zu Geschütz und verteilte Wybert-Pastillen. „Nehmen Sie, Holt, das ist gut gegen Husten und Heiserkeit, jedenfalls steht’s so auf der Schachtel!“ Eines Nachts, während die Jungen lang­sam zu Eis gefroren, braute Wolzow im Mannschaftsbunker Grog. Schmiedling rief: „Dös gibt’s fei net! Ohne meine da müssen S’ mich erst amol um Bewülligung gibt’s dös fei net!“ Den Brennspiritus hatte Wolzow vom Waffenmeister; wer ihm den Arrak besorgt hatte, verriet er nicht. Sie schlürften das starke Getränk aus Kochgeschirrdeckeln und luden auch Gottesknecht dazu ein. Er gab Wolzow Sehr gut. Dann stieg der Alkohol den Jungen derartig zu Kopf, daß die Richt­kanoniere beim Schießen falsche Richtwerte einstellten; wäh­rend die Bomber im Norden vorbeizogen, feuerte Anton nach Süden. Am Morgen zeigte es sich, daß man überdies sämt­liche Nahfeuerpatronen verschossen hatte. Das ließ sich nicht verheimlichen. Gottesknecht änderte Wolzows Sehr gut in Nicht genügend.

Am 11. Januar beging Holt seinen siebzehnten Geburts­tag. Die Hamburger Verwandten schickten ein Zigarettenpäckchen, die Mutter eine Karte mit flüchtig hingeworfenen Zeilen: „Herzlichen Glückwunsch zum neuen Lebensjahr“. Holt schnob verächtlich durch die Nase. „Das ist typisch“, sagte er zu Gomulka. „Anderthalb Zeilen!“ Er brannte sich eine Zigarette an, „Delhi“ hieß die Sorte, und betrachtete nachdenklich die grüne Schachtel. „Tja, Sepp... Die sogenannten Blutsbande sind eigentlich recht dünn. Da gibt’s fremde Menschen, die einem viel näherstehen!“

Das Zigarettenpäckchen war schon am Zehnten in Holts Hände gelangt. Pünktlich am Elften brachte die Post ein win­ziges Päckchen von Uta. Das überraschte Holt. Er konnte sich nicht erinnern, ihr jemals sein Geburtsdatum genannt zu ha­ben. Aus der Verpackung löste sich ein kleines, in Seide ge­bundenes Büchlein, Gedichte von Friedrich Hölderlin. Er überflog den beiliegenden Brief. Ihre Freundin Helga Wiese, so schrieb sie, habe diese Gabe „dürftig“ genannt, denn ein Roll­schinken, gut geräuchert, finde bei den Kriegern weit mehr Sympathie als ein Bändchen Gedichte. Aber sie kenne ihn als eine poetische Natur, die geistige Genüsse vorziehe. Holt lachte. Aber er verstummte beschämt, als er weiterlas. Einiges aus diesem Buche gehöre zu ihren Lieblingsgedichten. Auch sei das Bändchen nicht ganz ohne Egoismus ausgewählt. „Vielleicht denkst Du bei manchem Vers an mich.“ Er blätterte wahllos in den Seiten. „Ist nicht heilig mein Herz, schöneren Lebens voll, seit ich liebe?“

Gomulka saß dabei und beobachtete Holt unverwandt. Dann stand er auf und ging aus der Stube. Eine Welle eisiger Kälte fuhr hinter ihm zur Tür herein. Holt fröstelte.

Aber am späten Nachmittag, als Frau Ziesche anrief, gratu­lierte und fragte, ob es dabei bliebe, sie gedenke es ihm riesig gemütlich zu machen, da lief er doch zur Schreib­stube. Gottesknecht gab ihm die Erlaubnis, am Abend in die Stadt zu gehen. Doch kaum war die Dunkelheit hereingebro­chen, klingelte die Alarmglocke, und Holt saß bis zum Mor­gen am Geschütz.

Wieder einmal suchten die Bomber Ausweichziele. Etwa hundert Viermotorige schütteten ihre Last über Bottrop aus, und dann fielen auch auf das nördliche Essen Bomben, vorwiegend Luftminen und Brandbomben, und das Rot des Feuers schlug zum frostblauen Nachthimmel empor. Wolzow kletterte auf die Erdumwallung des Geschützstandes und starrte in das brennende Häusermeer. „Verdammt, dort beklagt sich jetzt keiner mehr, daß ihm zu kalt ist!“ Man lachte, ein grimmiges, kurzes Lachen. Einer der Flakwehrmänner hielt in der Arbeit inne. „Rotzjunge! Deine Leute sind ja nicht drin in den Flam­men!“ Wolzow sprang in den Geschützstand, aber Holt faßte ihn am Arm. „Gilbert, gib Ruhe!“

Drei Tage später hatte Frau Ziesche Geburtstag. Zu seinem Kummer fand Holt die Wohnung voller Schauspieler und Bal­lettmädchen. Er war verärgert. Frau Ziesche setzte sich für zehn Minuten zu ihm und redete beruhigend auf ihn ein. „Ich kann’s nicht ändern. Rausschmeißen geht nicht. Laß nur, ich finde schon eine Möglichkeit, daß wir wieder ein paar Tage für uns haben.“ Er trank vor Ärger viel französischen Rot­wein, von dem Frau Ziesche einen unerschöpflichen Vorrat zu besitzen schien, auch holte er sie absichtlich nicht zum Tanz und tobte mit den beschwipsten Choristinnen herum, lustlos und immer mehr mit sich uneins. Er fühlte sich fremd zwi­schen diesen Menschen, und auch Frau Ziesche war fern und fremd. Unvermittelt brach er auf. Er verabschiedete sich flüch­tig. Sie flüsterte ihm ungehalten zu: „Warte doch! Bei Vor­alarm werf ich alle raus!“ – „Ich muß in die Stellung“, sagte er trotzig. Sie sah ihm mit hochgezogenen Brauen nach. Voller Genugtuung glaubte er, sie gekränkt zu haben.

Auf dem dunklen Korridor überraschte er einen schnurr­bärtigen Mann, der sich mit einem Chormädchen herum­drückte. Holt zog sich den Mantel an. Der Schnurrbärtige sagte weinselig: „Schon gehen, Kamerad?“ – „Ich bin nicht Ihr Kamerad“, sagte Holt verächtlich. Der andere, in Zivil, sang: „Heute rot... morgen tot... Unser ‘Großdeutschland’ ... Sie haben ihn doch auch gekannt, den Panzergrenadier... gefallen!“Holt warf die Vorsaaltür hinter sich ins Schloß. Fast zwei Wochen lang hörte er nichts von Frau Ziesche, dann rief er doch wieder bei ihr an.

Die Frostperiode dauerte bis Ende Februar. Die Feuerung wurde knapp, und sie froren auch in den Baracken. Wolzow riß in der Laubenkolonie heimlich ein Dach ab und stopfte Bretter und Teerpappe in den Ofen. „Diese Banditen!“ schrie der Hauptmann, bei dem man sich beschwerte. „Verheizen die Lauben, wo Ausgebombte drin wohnen! Natürlich der Wol­zow! Ich sperr Sie beim nächsten Dachschaden ein!“ Aber diese Drohung nahm keiner mehr ernst, denn zwischen Kutschera und Wolzow herrschte seit langem das beste Einver­nehmen.

Ende Februar verwandelte beginnendes Tauwetter die Bat­teriestellung in einen grundlosen Morast. Dann folgten son­nige, frühlingshafte Tage. Nun saßen die Jungen Tag und Nacht am Geschütz. Die Briten flogen des Nachts ihre Flä­chenangriffe gegen die Großstädte, und am Tage zogen die amerikanischen Bomber zu Hunderten über den blauen Him­mel. Von Jagdgeschwadern begleitet, flogen sie ihre Angriffe auf Städte, Industriewerke und Verkehrsknotenpunkte. Im Jahre dreiundvierzig hatten die Nachtangriffe überwogen. Das änderte sich nun.

Die Batterie hatte viermal am Tag Gefechtsschaltung, und immer wieder war das Ruhrgebiet selbst Angriffsziel. Der Munitionsverbrauch stieg, das Patronenschleppen verdrängte mehr und mehr den Schulunterricht. Am Tag zogen sich die Luftkämpfe von der holländischen Grenze bis weit nach Osten hin. Täglich stürzten Maschinen ab, Viermotorige, Mustangs, Focke-Wulf-, Messerschmittjäger. Aber die Bomber zogen un­beirrt ihre Bahn.

Holt lag auf seinem Bett, die Brust schmerzte, sie waren am Vormittag wieder geimpft worden, gegen Typhus oder Diphtherie, niemand wußte es genau. Wolzow las. Vetter spielte Skat, mit Kirsch und Zemtzki.

„Da sind wieder sieben Maschinen runtergekommen“, piepste Zemtzki, „mit der Zeit müssen die das doch merken!“ Er hörte die Meldungen der Untergruppe. Manchmal stürzten im Abschnitt zehn, auch zwölf Maschinen an einem Tage ab. Gomulka sagte sachlich: „Unsere Abwehr vernichtet etwa fünf vom Hundert der eingeflogenen Feindmaschinen, das ist praktisch bedeutungslos.“ Ziesche rief von seinem Bett her: „Der Gomulka mit seiner jüdischen Zahlenakrobatik will wie­der mal Wehrkraftzersetzung treiben!“ Vetter drohte: „Paß auf, wenn wir mal deine Wehrkraft zersetzen, mit ’m Knüp­pel!“ Die Alarmglocke trieb sie aus der Stube. Am Geschütz, als er sich den Stahlhelm auf den Kopf stülpte, überlegte Holt: Wo hat Sepp diese Zahl her? Wolzow erzählte von den Fron­ten. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, was im Osten los ist! Ich hab ein paar Kommentare gelesen, im Wehrmachtsbericht steht ja nichts drin. Zwischen Süd- und Mittelabschnitt haben die Russen einen dreihundert Kilometer breiten Keil getrieben! Schitomir ist hin, Kirowgrad ist hin, Kriwoi Rog ist hin.“ – „Aber der Führer“, rief Ziesche, wie immer über Wolzows Sachlichkeit erbittert, „hat am 9. November ausdrücklich ge­sagt: ,Was ist das schon, wenn wir, durch die Kriegsnotwen­digkeit gezwungen, einmal einige hundert Kilometer aufge­ben müssen...’“ – „Durch Kriegsnotwendigkeiten? Durch die Russen gezwungen“, sagte Wolzow, „immer noch durch die Russen!... Ach, halt s Maul“, fuhr er Ziesche an, „einem Eierkopf wie dir muß das der Führer ’'n bißchen sanfter bei­bringen. Die militärische Wahrheit ist nur für Männer wie mich.“

Er hatte sich Landkarten aller Kriegsschauplätze besorgt, stand nun fast täglich, über die Karte gebeugt, am Tisch und verfolgte den Frontverlauf. Ziesche beobachtete es mit dem ewig gleichen mißtrauischen Gesicht.

 

Die Oberhelfer vom Jahrgang sechsundzwanzig aus Ham­burg und den umliegenden Ruhrstädten standen vor der Ein­berufung zum Arbeitsdienst. Schon Mitte Februar hatte sich Unteroffizier Engel mit drei Obergefreiten auf den Weg gemacht, um irgendwo im Osten Ersatz auszubilden, Schüler vom Jahrgang 1928.

Seit Wolzows „schlagartiger Aktion“ war die Fehde zwi­schen Wolzow und den Hamburgern erloschen. Aber nun warnte der treue Schmiedling: „Eh die aus Hamburg, net wahr, dös is sicher, weil die bevor sie zum RAD gehn, da wolln s’ Ihnen noch a Abreibung verpassen!“ Wolzow spot­tete nur.

Am 15. März sollten die Oberhelfer entlassen werden. Am 20. wurde der Ersatz erwartet. Am 12. März zog die Unter­gruppe die 107. Batterie für eine Woche aus dem Einsatz. Vier Geschütze mußten überholt werden, darunter auch An­ton. Sie rissen den Geschützstand auf, und eine schwere Zug­maschine zog die Kanone über den Acker. Wolzow, Holt und Vetter fuhren mit in die Werkstatt. Vetter war in dem halben Jahr wesentlich schlanker geworden. An den Jungen zehrte die Schlaflosigkeit.

In der Waffenwerkstatt entdeckte Wolzow sogleich eine Ka­none. „Kommt her! Die 8,8/41 ... Mit Erdzieleinrichtung!“ Er erklärte Holt und Vetter die Richtoptik. Ein Flaksoldat, zu dessen Batterie die Kanone gehörte, unterstützte ihn. Wer weiß, wozu’s gut ist, dachte Holt...

Während der folgenden Tage, da die Batterie nicht feuer­bereit war, wollten die Luftwaffenhelfer einmal ausgiebig schlafen. Aber Kutschera erinnerte sich plötzlich daran, daß die Disziplin nachgelassen habe, und verfügte Fußdienst. Am Abend heizten sie den Ofen, daß er glühte, und fielen nach dem Stubendurchgang todmüde in die Betten.

Da stürzte Zemtzki ins Zimmer: „Die Hamburger kom­men! Noch andere! Dreißig Mann!“ – „Dreck, verdammter“, rief Wolzow, „los, Männer, raus!“ Er übernahm das Kom­mando und packte erst einmal Ziesche. „Wenn du nicht Neu­tralität schwörst, sperr ich dich in meinen Spind!“ Wider­strebend gab Ziesche sein Ehrenwort, zog sich aber auch an.

Wolzow organisierte die Verteidigung. Sein Plan, die an­rückenden Oberhelfer auf freiem Felde anzufallen, fand keine Unterstützung, obwohl er ihn, in seinem Taschenbuch blät­ternd, mit klassischen Beispielen untermauerte. Das Malheur mit dem Ofen war nicht mehr rückgängig zu machen. Holt hatte einen Eimer Kohle hineingestopft. Das Feuer raste. Das Rohr glühte bis unter die Decke. Zemtzki berichtete: „Sie ha­ben beim Waffenmeister Tränengaspatronen geklaut!“ – „Gasmasken“, befahl Wolzow, „Stahlhelme!“ Gomulka hatte sich aus dem Weihnachtsurlaub sein Luftgewehr mitge­bracht, knetete Kügelchen aus Kommißbrot und schoß eines probeweise gegen Wolzows Hand. „Ganz schön“, meinte Wolzow, „immer schön in die Fresse, Sepp, dann ist es richtig!“ Er verwarf die Klopfpeitschen. „Heute müssen stabilere Sa­chen her!“ Eilig demolierten sie den Lattenrost vor der Ba­racke. Ein Kasten „Fanta“ wurde bereitgestellt; „Fanta“ war eine Art Limonade, mit Coffein versetzt. Gomulka kippte den Tisch auf die hohe Kante und verschanzte sich dahinter mit dem Luftgewehr.

Wolzow und Holt warteten vor der Barackentür. Sie stan­den in der kühlen Nacht. Holt sagte: „Wie Hagen und Volker im Nibelungenlied.“ – „Wirst mal sehen, wie ich die Brüder dresche!“ sagte Wolzow.

Gegen elf zogen sie im Gänsemarsch den Lattenrost ent­lang. Holt gab Alarm, Wolzow wartete im dunklen Korridor. Als die Hamburger die Tür aufzogen, trat er dem ersten in den Leib, daß er im Fallen zwei andere mitriß. Da die Überraschung mißlungen war, wagte sich keiner als erster an Wolzow heran. Aber ein Bombardement mit Steinen und Lehmklumpen zwang ihn zum Rückzug in die Stube. Er rammte von innen ein Brett unter die Klinke. Der Korridor füllte sich mit Menschen. Vor den Fenstern hörte man Ge-tuschel. Ziesche saß nervös auf seinem Bett.

Eine Weile blieb alles ruhig. Dann keilten die Hamburger mit einer Spitzhacke die obere Türecke auf, einen Spalt nur, aber doch weit genug, daß Gomulka rasch den Gewehrlauf hindurchstecken und abdrücken konnte. „Aaa!“ machte es, und der Spalt klappte wieder zu. „Herrlich, Sepp!“ Günsche brüllte draußen wütend: „Noch ein Schuß mit dem Luft­gewehr, und wir dreschen euch reif fürs Revier!“ – „Ab­warten!“ rief Wolzow. Holt dachte: Es sind zu viele, es muß schief gehen!

Zemtzki drückte sich an Wolzow heran. „Gilbert... Sie haben dich feige genannt!“ hetzte er. „Einen Feigling!“ Er grinste listig.

Abermals keilten die Oberhelfer die Tür auf. Gomulkas Schuß ging diesmal fehl, und eine Tränengaspatrone zer­klirrte im Zimmer, eine zweite... Sie zogen schon die Gas­masken über die Gesichter. Die Hamburger waren enttäuscht und berieten lange. Wolzow war nun endlich in Wut ge­raten, zertrat einen Schemel und nahm in jede Hand ein Stuhl­bein.

Schritte polterten auf dem Barackendach. „Verflucht, der Ofen!“ rief Gomulka. Die Hamburger kippten Wasser aus dem Löschfaß in den Kamin und legten ein Brett auf den Schornstein. Sogleich begann der überheizte Ofen zu qual­men. Die Stube füllte sich mit Rauch. Sie hielten es unter den Masken eine Weile aus, dann wurde der Sauerstoff knapp. Holt hörte es in den Ohren rauschen, irgendwer, im Rauch nur undeutlich zu erkennen, taumelte schon, Holt und Wol­zow rissen die Fenster auf, rissen die Helme, die Gasmasken herunter und atmeten.

Nun wurden die Fenster gestürmt, aber sie waren gut zu­verteidigen. Wolzow und Vetter schlugen mit den Latten drauf­los, dazwischen patschte Gomulkas Luftgewehr. Zu spät er­kannten sie, daß der Angriff auf die Fenster nur fingiert war. In ihrem Rücken barst das Türschloß, und die Oberhelfer drangen in die Stube.

Ein paar wurden sofort niedergeschlagen und krochen stöh­nend wieder auf den Korridor hinaus. Wolzow hieb, in jeder Hand ein Stuhlbein, wie ein Verrückter um sich. Dann fiel er, ein Klumpen Oberhelfer warf sich auf ihn. Holt erhielt meh­rere Schläge ins Gesicht und auf den Kopf und war nur noch halb bei Bewußtsein. Er sah Gomulka mit dem Gewehrkolben um sich stoßen, sah, wie ihn ein Knüppelhieb ins Gesicht traf und zu Boden warf. Vor seinem Auge schwamm das breite Gesicht Ziesches. Hassenswürdig... ein Schwein, bru­taler Kerl... Gewaltverbrecher! Holt schlug sich durch das Gewühl zu Ziesche durch. Er sah Wolzow auf dem Boden mit vier oder fünf Gegnern ringen, die auf ihn losdroschen und sich dabei gegenseitig behinderten, sah Vetter mit blut­verschmiertem Gesicht „Fanta“-Flaschen durch den Raum wer­fen und taumelte weiter, auf Ziesche zu, stolperte über Wolzows Bein und riß den Tisch um, der noch immer auf der Kante stand, und die schwere Platte schlug auf das ringende Menschenbündel. Wolzow, der zuunterst gelegen hatte, kam frei und kroch unter der Tischplatte hervor. Holt sah das nur noch wie im Nebel. Er warf sich auf den überraschten Zie­sche, der in der Ecke bei den Betten kauerte, und packte ihn mit beiden Händen am Hals. Endlich! Sie fielen zu Boden. Ziesche röchelte. Du Aas, Gewaltverbrecher! Da traf Holt ein Schlag auf den Kopf. Er ließ los. Die Stimme des Hauptmanns dröhnte: „Diese Banditen rotten sich gegenseitig aus, wo gibt’s denn so was!“

Holt betastete seinen geschwollenen, schmerzenden Kopf. In der Tür stand Kutschera, barhäuptig, und draußen, vor dem Fenster, Gottesknecht, überall saßen und kauerten Ge­stalten am Boden und hielten sich die Köpfe. Der Sanitäter verband ein blutiges Auge. Wolzow, so gut wie unversehrt, stand vor dem Hauptmann, noch immer ein Stuhlbein in der Hand, und er maulte: „Wir sind mit Übermacht angegriffen worden!“ Kutschera brüllte: „Und der Kerl, der das einge­brockt hat, der hat am wenigsten abgekriegt! Sie meinen wohl, Sie können sich bei mir alles erlauben!“

Die Bilanz: Sieben Luftwaffenhelfer waren so sehr verletzt, daß sie ins Revier mußten, Vetter, Gomulka und fünf Ober­helfer und dazu ein Flakwehrmann aus der großen Stube, der nichtsahnend ins Getümmel geraten war. Vetter hatte ein gebrochenes Nasenbein, und Gomulka stand hilflos grinsend mit dick verschwollenem Mund, ein Schneidezahn fehlte, das machte sein Gesicht fremd und sein Grinsen zur Grimasse. Sein Kopf war blutverklebt. Hinter dem Ohr klaffte eine große Platzwunde.

Kutschera verschwand fluchend. Gottesknecht sagte leise: „Genauso hab ich das kommen sehen!“ Holt, mit einem unbeherrschbaren Schluchzen, stammelte: „So ein Wahnsinn! So ein himmelschreiender Wahnsinn!“ – „Eine verschwo­rene Gemeinschaft sollten wir sein!“ sagte Ziesche von sei­nem Bett her. Holt sprang schon wieder zu ihm hin. „Noch einen Ton, du verlogener Hund...“ – „Schluß“, sagte Wolzow. „Laß den Ziesche in Ruh! Wenn er nicht das Maul hält, bekommt er von mir einen Klaps!“ Holt kam ein nervö­ses Lachen an. Einen Klaps, dachte er, einen Klaps ...

Mit vier Stunden Fußdienst war die Sache für Kutschera abgetan. Die Oberhelfer wurden zwei Tage vor der Zeit entlassen; das hatte Gottesknecht durchgesetzt, weil er einen Rachefeldzug Wolzows befürchtete.

Holt besuchte Gomulka im Revier. Gomulka lag mit dick verbundenem Kopf in den Kissen. Die Wunde war ohne Be­täubung genäht worden. „Eine Schinderei“, meinte er. „Was gibt’s in der Batterie? Ich hab hin und her überlegt, warum wir uns eigentlich so blödsinnig gedroschen haben. Es ist Krampf.“

„Aus Prinzip“, sagte Holt. „Nur aus Prinzip. Bei Fontane hat einer überhaupt keine Lust zum Duell und weiß ganz genau, daß es Unfug ist, aber er schießt sich mit dem Freund seiner Frau, aus Prinzip, und schießt ihn tot, aus Prinzip.“

Gomulka drehte den Kopf ein wenig zur Seite. „Wenn aus Prinzip etwas Sinnloses geschieht, dann ist das Prinzip falsch!“ – „Es hat keinen Zweck, viel darüber nachzudenken“, sagte Holt. „Das Gesetz des Handelns ist uns klar vorgeschrieben!“ Gomulka mochte wohl müde sein, denn er sagte nichts mehr.

Holt fuhr zu Frau Ziesche.

Sie sagte: „Lieber Himmel, wie siehst du aus!“ Er erzählte von der Schlägerei. „Ich hätte den Ziesche beinah erwürgt!“ Sie strich ihm mit der Hand übers Haar und meinte: „Be­ruhige dich. Willst du Tee?“ Die Berührung ihrer Hand machte ihn matt und willenlos. Bei ihr wird alles Schwere leicht, dachte er. Sie schenkte Tee ein und erzählte Nichtig­keiten. Es war gemütlich und warm, ihm graute vor der Rückkehr in die Batterie. Er entschloß sich, über Nacht hier­zubleiben, obwohl Gottesknecht das nicht decken würde. Aber auch das war gleichgültig. „Ich hab frei bis morgen früh“, log er.

Sie sagte entschlossen: „Werner, du kannst heute nicht bleiben.“ Er sah sie zunächst nur verwundert an. „Du mußt das einsehen“, bat sie. „Ziesche kommt auf Urlaub, ich er­warte ihn jeden Tag.“

Er begriff nur langsam, daß nicht der junge Ziesche, son­dern sein Vater gemeint war, dieser dicke, brutale Mann. „Was denn ...“, sagte er schwerfällig, „und ich?“

„Sei friedlich. Er bleibt ja nur ein paar Tage.“

Nur ein paar Tage... So ist das also, wenn der Ehemann kommt, wird der Liebhaber abserviert... Nun fiel ihm ein, daß der alte Ziesche mit seiner Frau... Sein Verstand trübte sich vor Eifersucht und Ekel. Er packte Frau Ziesche am Handgelenk, derb, außer sich vor Wut. „Wenn du dich von ihm anrühren läßt...“


Date: 2016-03-03; view: 1061


<== previous page | next page ==>
Worauf laß ich mich ein? 14 page | Worauf laß ich mich ein? 16 page
doclecture.net - lectures - 2014-2024 year. Copyright infringement or personal data (0.01 sec.)