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Worauf laß ich mich ein? 14 page

Es blieb bei dem einen Annäherungsversuch. Eine Beobach­tung, die Holt durch einen Zufall machte, führte bald zum Bruch, ja zur Feindschaft zwischen Ziesche und ihm. Ziesche hatte einen Freund in der Batterie, einen kleinen blonden Jungen mit weichem Haar und verträumten Augen, er hieß Fink. Holt überraschte die beiden eines Abends im Bunker des Geschützstandes, ohne daß sie es merkten. Er erzählte nieman­dem davon.

Als er ein paar Tage später morgens gegen sechs übermüdet in die Baracke schlich, sah Ziesche ihn kopfschüttelnd an und brachte am Nachmittag die Sprache darauf. Wolzow, Vetter und Gomulka saßen dabei. „Du bist erst siebzehn“, sagte Zie­sche, „und treibst es schon derartig mit Weibern!“

Holt schwieg betroffen. Wolzow grinste. „Das geht keinen was an“, sagte Holt. Ziesche entgegnete: „Ich wundere mich nur, daß ein Mensch sich im Sumpf so wohl fühlt.“ Er lehnte mit dem Rücken gegen einen Spind und blickte auf Holt her­ab. „Ich jedenfalls halte es mit den Worten, die Flex seinem ’Wanderer’ vorangestellt hat: ,Rein bleiben und reif werden, das ist höchste und schönste Lebenskunst’!“

Holts Betroffenheit schlug in Wut um. „Du verlogenes Aas! Nennst du das rein bleiben, wenn du mit Fink ...“ Ziesche, während Vetter vor Lachen losbrüllte, stürzte sich auf Holt, aber er war zu schwerfällig, um mit ihm fertig zu werden. Von nun an waren sie Todfeinde.

Holt erzählte die Szene Frau Ziesche. Sie hörte aufmerksam zu. „Das war unklug“, meinte sie dann, „jetzt hast du ihn dir zum Feind gemacht.“ – „Was heißt klug oder unklug?... Du bist so... berechnend! Er hat mich angepöbelt, ich hab’s ihm zurückgegeben, fertig!“

Sie saßen im Wohnzimmer. Sie legte ihre kindlich kleine Hand auf seine, seufzte und sagte: „Du bist im Sturm-und-Drang-Alter ... Und berechnend, das wirst du auch noch werden, wenn du das Leben erst besser kennst, oder...“ – „Oder?“ – „Oder du bringst es zu nichts.“

Während des üblichen Alarms am Abend blieben sie in der Wohnung, am Radio. Mochte die Flak schießen, was tat das schon? „Wenn sie keine Zielmarkierungen werfen“, hatte er ihr erklärt, „fallen höchstens zufällig mal’n paar Bomben.“ Der Luftschutzwart klingelte Sturm. Sie verhielten sich ruhig, die Wohnung war gut verdunkelt. Das Pflichtjahrmädchen arbeitete nur viermal wöchentlich.

Holt liebte die Alarmstunden. Dann war es still im Haus, der ferne Donner der Flakbatterien deckte alle Geräusche zu. Er kniete neben Frau Ziesche auf dem Boden vor dem Radio. Der Drahtfunk tickte geheimnisvoll, der schwache Lichtschein der Skala beleuchtete ihr Gesicht. Er legte den Arm um ihre Schulter und sah sie unablässig an, und je länger er sie anblickte, desto mehr verfiel er ihr. Sie lehnte sich gegen ihn, jede Berührung ließ ihren Atem schneller gehen. Nach dem Alarm lagen sie im Schlafzimmer auf dem breiten Bett.



„Man kann ruhig darüber sprechen“, pflegte sie zu sagen; das war der Titel eines gängigen Buches. Anfangs empörte er sich gegen ihre Sachlichkeit; aber als er sie einmal schamlos nannte, lachte sie ihn rundweg aus. „Ich nehm dir die Illusio­nen“, sagte sie. „Wozu sind Illusionen gut? Zu nichts! Du wirst mir eines Tages dankbar sein.“ Dankbar? Das verstand er nicht. „Die meisten Menschen“, erklärte sie, „sind in Liebesdingen primitiv wie die Tiere.“ – „Tierisch“, meinte er, „ist es, wenn das Herz nicht dabei ist, das Gefühl.. .“ Das nannte sie „Schmus“. „Was soll das leere Gerede! Das Tier kann nicht genießen, das ist der einzige Unterschied. Auch der Mensch muß es erst lernen, die meisten lernen es nie, und besonders ihr Männer seid unbeschreiblich egoistisch, ihr...“ – „Und Liebe?“ fragte er hartnäckig. „Alles Gerede“, sagte sie. „Es gibt keine Liebe, es gibt nur einen Lustgewinnungstrieb.“

Manchmal erschrak er vor ihr. „Liebe, Anbetung, Vereh­rung“, sagte sie, „das ist alles ganz schön, aber es wird lang­weilig. Eine Frau will nicht angebetet und geliebt, sie will un­terworfen sein und Lust gewinnen. Vielleicht weiß sie das anfangs nicht, aber wenn der Mann etwas taugt, dann lernt sie’s sehr bald. Merk dir das! Ein Mann darf die Frauen nicht umschmeicheln und viel bitten, er muß sie unterwerfen, eher mit Gewalt als mit vielem Gerede. Liebe? Jede Frau wird ihren Mann betrügen, wenn sie bloß geliebt und nicht auch befrie­digt wird.“

„Wie soll man Achtung haben vor euch?“ fragte Holt.

„Achtung. . .“, sagte sie gedehnt, „wozu? Lies mal Weininger, das Buch ist zwar verboten, aber lies es mal. Der hat die Frauen gekannt. Lies, was er schreibt. Dann vergeht dir die Achtung von selbst.“

Holt fühlte sich gleichermaßen abgestoßen und angezogen von ihren Worten, von ihrer zügellosen Sinnlichkeit. Manchmal überwog die Abneigung, wie auch in diesem Augenblick. Aber sie löschte die Entfremdung nach Belieben mit ihren Zärtlichkeiten aus. Wenn er ihr wieder verfallen war, dann brannte die Eifersucht in ihm.

Es war die frühe Morgenstunde, und er fragte böse: „War­um hast du deinen Mann geheiratet?“

Sie schaute ihm, den Kopf in die Hand gestützt, überrascht ins Gesicht. „Du haßt ihn, nicht wahr? Das ist seltsam. Du kennst ihn doch gar nicht.“Sie langte Zigaretten und Streich­hölzer vom Nachtschränkchen. Er folgte der Bewegung ihres nackten Armes. Sie steckte ihm eine angerauchte Zigarette zwischen die Lippen.

„Er ist tatsächlich der hassenswürdigste Mensch, den ich mir vorstellen kann“, sagte sie.

Er mußte sie falsch verstanden haben. „Du meinst, er ist eine so starke Persönlichkeit, daß man ihn entweder ver­ehren oder hassen...“ – „Unsinn! Er ist ganz einfach ein Schwein! Ein übler, brutaler Kerl, der das Zeug zu einem Gewaltverbrecher hat. Wenn ihn die Nazis nicht zu einem hohen Tier gemacht hätten, wer weiß, was dann aus ihm ge­worden wäre.“

Ein Schwein, ein brutaler Kerl, die Nazis. Dieses Wort hatte er überhaupt erst ein- oder zweimal gehört, es sollte vor dreiunddreißig ein Schimpfwort gewesen sein. Wo bin ich hier hineingeraten? dachte er. Aber er tat ganz ungerührt, sog an der Zigarette und meinte dann: „Da versteh ich nur nicht, daß du ihn geheiratet hast!“

„Jeder setzt einmal im Leben alles auf eine Karte“, entgeg­nete sie. „Und man kann nur hoffen, daß es die richtige Karte war.“ – „Und du hast alles auf einen Mann gesetzt, den du verabscheust?“

„Ich hab natürlich nicht wissen können, daß er mal eine so unbeschreiblich dreckige Arbeit macht“, sagte sie. „Außerdem sah damals überhaupt noch manches ganz anders aus. Ich sagte mir: er hat allerhand zu bieten, und da griff ich eben zu.“

„Wo du so ... schön bist, da hattest du das doch gar nicht nötig“, meinte er.

Sie lächelte. „Als Tänzerin war ich immer nur besserer Provinzdurchschnitt. Da denkt man an später.“

Sie hat sich verkauft, dachte er, an diesen Mann! „Was ist das für eine Arbeit?“

„Er sucht Kinder aus den KZs“, antwortete sie, „die will man dann später mit Ariern kreuzen, wie die Tiere! Er hat überall die Pfoten drin, wo die haarsträubendsten Dinge ge­schehen. Er entscheidet, ob ein Kind ins Reich kommt oder ins Gas.“

Eine grauenhafte Beklemmung überkam Holt. Fernes, ganz fernes Gemunkel verdichtete sich... „Rede nicht darüber“, hörte er sie sagen. „Im Generalgouvernement bringen sie die Polen und die Juden zu Hunderttausenden um, die SS macht das. Ziesche nennt es ,Schwächung einer minderwertigen Rasse’. Die Juden sind schon so gut wie ausgerottet.“

Minderwertige Rasse. Nordischer Herrenmensch. Jude und Arier. So sieht das also aus, dachte er wie gelähmt. „Aber... das ist alles ganz anders . . . mit den Rassen!“ sagte er. „Mein Vater ist Professor. Einmal hab ich gehört, wie er jemandem erklärt hat, die Rassentheorie ist Religion ...“ – „Der Ver­gleich ist gut“, meinte sie. „Die Römer haben die Christen umgebracht, die Inquisition hat die Ketzer verbrannt, und jetzt vergasen wir die Juden und die Polen. Davon hab ich natürlich nichts gewußt, als ich Ziesche heiratete. Er war hier in der Nähe Kreisleiter und hat dann Karriere gemacht. Das lockte mich. Ich will schließlich auch zu denen gehören, die obenan sind.“ Sie sprach nur noch leise. „Jetzt geht’s allerdings im­mer mehr bergab. Wer weiß, ob der Zauber nicht eines Tages zusammenkracht.“

Kurz vor dem Morgenappell näherte er sich der Baracke auf Schleichpfaden, wie es vereinbart war. Er hatte Gottes­knecht um Nachturlaub anstatt des Kurzurlaubs gebeten, und Gottesknecht hatte erwidert: „So dumm werden Sie doch nicht sein, daß Sie freiwillig auf den schönen Weih­nachtsurlaub verzichten!“ Und gedämpft: „Nehmen Sie Aus­gang wie bisher. Wenn Sie erst früh kommen wollen, dann geben Sie mir einen Wink.“ So geschah es. Heute lief Holt dem Wachtmeister in die Arme. „Ich muß Ihnen das nun doch verbieten“, meinte er. – „Herr Wachtmeister, ich bin frisch und munter!“ – „So? Bis zum Kugelbaum sind fünf­undachtzig Meter, alles genau vermessen. Da machen wir acht­zigmal Häschen-hüpf. Und wenn Sie sich nicht verzählen, dürfen Sie den Rückweg zur Belohnung auf dem Bauch krie­chen.“

Von Gottesknecht erfuhr Holt auch, daß sein Weihnachts­urlaub bewilligt war. Er hatte die Absicht, mit zu Wolzow zu fahren. Aber nun folgte er einer plötzlichen Eingebung und ließ sich Papiere für eine Reise zu seinem Vater ausstellen. Er hatte ihn etwa vier Jahre lang nicht gesehen. Seiner Mutter schrieb er nichts davon. Auch meldete er seinen Besuch nicht an.

Am 22. Dezember sollte er reisen. Wenige Tage vorher nahm Schmiedling Wolzow und Holt nachts am Geschütz bei­seite. „I will Ihnen was sag i Ihnen, net wahr! Die was aus Hamburg sein, die und die andern aus Berta, verstehen S’, da wolln die Ihnen allezsamm nachts überfalln, in der Stuben!“

Am anderen Morgen, als Ziesche zum Schulunterricht in einer anderen Baracke weilte, hielten sie Kriegsrat. „Der Günsche hat wohl immer noch nicht genug!“ schimpfte Wol­zow. „Ich hab das Theater endgültig satt! Ich zieh eine schlag­artige Aktion auf. Ich hau ihnen die Bude kurz und klein.“ – „Wenn wir angreifen“, meinte Gomulka, „setzen wir uns ins Unrecht.“ – „Quatsch!“ sagte Wolzow und langte nach der Gesäßtasche. Er blätterte in seinem Taschenbuch. „Als die Schweden unter Gustav Adolf 1629 nach Deutschland zogen, da sprach Gustav Adolf vor dem schwedischen Reichstag die historischen Worte: ,Meine Meinung aber ist, daß ich zu un­serer Sicherheit, Ehre und endlichem Frieden nichts dienlicher befinde als einen kühnen Angriff auf den Feind.’“

Sie trafen Vorbereitungen. Wolzow und Holt schwänzten den Rest des Deutschunterrichts und schnitten Wolzows Ak­tentasche zu Lederriemen, die sie an stabile Knüttel nagel­ten. Wolzow rieb die Klopfpeitschen mit Lederfett ein, ehe er sie in seinem Spind versteckte.

Es schneite seit mehreren Tagen. Die schnellen Kampfver­bände, die nun jede Nacht nach Berlin flogen, waren in den letzten Nächten schon über Holland abgedreht. Auch diesen Abend sah es nicht nach Alarm aus, denn am Nachmittag erhob sich ein Schneesturm.

Vetter und Rutscher machten mit. Rutscher waren im Re­vier die Mandeln herausgenommen worden, worauf er kaum noch stotterte. „Warum nicht gleich!“ hatte Wolzow gesagt. Nach dem Stubendurchgang sprangen sie aus den Betten und zogen sich wieder an. Der kleine Kirsch, der in Berta wohnte und für Wolzow spionierte, meldete: „Sie sind schlafen gegan­gen!“ – „Stahlhelme auf!“ befahl Wolzow. Ziesche sah ent­geistert zu. Wolzow erklärte: „Jetzt müssen deine Oberhelfer einen heiligen Eid schwören, daß sie uns in Ruhe lassen, sonst demolier ich ihnen die ganze Bude! Du bleibst im Bett!“ be­fahl er schroff. „Kirsch, du bürgst mir dafür, daß der Ziesche nicht aus der Stube geht!“

Sie schlichen im Bogen um Baracke Cäsar herum und nä­herten sich dann Berta von Norden. Sie drangen durch den Korridor in die große Stube. Wolzow schaltete Licht ein. Rut­scher und Vetter schoben sofort den Tisch vor die Tür, die sich nach außen öffnen ließ.

Die Hamburger saßen erschrocken in den Betten, ,,’'n Abend“, sagte Wolzow. „Hab gehört, die Herren wollen uns überfallen, mit Übermacht?“

„Mach, daß du rauskommst!“ rief jemand verschlafen.

„Maul halten!“ brüllte Wolzow. „Ehrenwort, daß wir vor einem nächtlichen Überfall sicher sind? Wird’s bald?“

Günsche glotzte von unten verdattert auf Wolzow, der be­drohlich nahe stand, und sagte schwach: „Wir lassen uns nicht erpressen!“

„Also schön, dann nicht!“ rief Wolzow mit wüster Stimme. „Die beste Verteidigung ist der Angriff, sagt Schließen! Los, Männer!“ Und während Holt und die anderen mit den Peit­schen auf die überraschten Hamburger einhieben, nahm Wol­zow das zentnerschwere Aquarium – ein Schrei des Entset­zens wurde laut –, hob es hoch und schmiß es nach Günsches Bett. Günsche konnte gerade noch die Beine zur Seite reißen, dann knallte der große Glaskasten überschwappend gegen den Pfosten und zerschellte, daß das Bett wankte. Fünfzig Liter Wasser ergossen sich über Bettzeug und Boden, überall klirr­ten Glasscherben, und dazwischen sprangen und zappelten die Fische umher ... Die Hamburger waren wie gelähmt. Holt hieb Wilde die Peitsche dreimal über den Rücken, ehe der auch nur eine abwehrende Handbewegung machte. Wolzow warf rück­sichtslos die Spinde um, dann knallte er die Blumentöpfe an die Wand, die Tischlampe, Vasen und Aschenbecher folgten, ein Bild segelte wie ein Diskus durch die Luft und zersplitterte. Die anderen droschen erbittert mit den Klopfpeitschen um sich.

Endlich hatten sich ein paar der Hamburger von ihrem Schreck erholt und sprangen aus den Betten. Aber sie trugen Nachthemden, die Peitschenhiebe fielen hageldicht, und sie waren barfuß, und überall lagen Glasscherben umher.

Die Tür wurde aufgestoßen. Die Oberhelfer aus den ande­ren Stuben, gleichfalls im Nachthemd, wollten herein, der Tisch hinderte sie daran, und Vetter verteidigte mit Gomulka wie verabredet den Eingang. Unterdessen vollendete Wol­zow sein Vernichtungswerk. Er zertrat den Holztisch, auf dem das Aquarium gestanden hatte. – „Da habt ihr was zum Hei­zen!“ –, zerfetzte den Adventskalender und warf das Radio nach seinem Feind Günsche, der verstört und von den ermattenden Fischen umzappelt in seinem Bett saß und gerade noch die Bettdecke zwischen sich und das Geschoß bringen konnte.

„Fertig!“ rief Wolzow. „Wünsche angenehme Nachtruhe!“ Die Stube sah aus wie nach einem Bombenvolltreffer. Sie bra­chen durch den Korridor, wo sich die Oberhelfer drängten, dann liefen sie nach Dora zurück.

Am anderen Morgen herrschte eine nervöse, gereizte Atmo­sphäre. Holt sah die Hamburger mit den anderen Oberhel­fern uneins. Vielleicht lassen sie uns nun endlich in Ruhe, dachte er. Der Überfall war bestimmt nicht gemeldet worden, denn es galt als ungeschriebenes Gesetz, die Methoden der sogenannten Selbsterziehung nicht an Vorgesetzte weiterzutra­gen.

Aber der Hauptmann wußte doch davon. „Mal herhörn“, schrie er. „Fünf solche Banditen vom Geschütz Anton haben heut nacht in Berta gehaust wie die Vandalen... Mit ’m Aquarium schmeißen, wo gibt’s denn so was!“ Und schon wieder unlustig, im Begriff, sich abzuwenden: „Von den fünf wollen drei auf Urlaub gehn... Ich wer denen was hu­sten!“ Zwei Tage später durften sie sich doch in der Schreib­stube ihre Papiere holen. „Zu Ihrem Vater fahren Sie?“ sagte Gottesknecht. „Dort bin ich auch zu Hause.“

Holt, Wolzow und Gomulka stoppten in Essen einen LKW, der sie nach Kassel mitnahm. Der Büssing kam im Schneesturm auf verschneiten Straßen nur langsam voran. Von Kassel brachte sie ein Zug nach Erfurt, wo sie abermals einen LKW fanden. Die Autobahn war eisfrei. Der Wagen schlich mit seinem Holzgasgenerator ermüdend langsam durch die Winterlandschaft. Der Fahrtwind pfiff durch das Verdeck. Wolzow saß vorn im Führerhaus. Gomulka, mit Holt unter der zugigen Plane, sagte: „Das Leben ist auch ohne Kanone mal ganz angenehm!“

Holt nickte, tief in Gedanken. Er fuhr zu einem Manne, den er kaum noch kannte. Vier Jahre sind eine lange Zeit! Fern über der Kindheit stand das Bild seines Vaters, seiner Mutter, und heute noch fror ihn, wenn er ans Elternhaus zu­rückdachte. Mutter: Du vergräbst dich in deinem Labor. Da­zu brauchst du keine Frau wie mich ... so oder ähnlich, immer­fort Streit. . . Warum arbeitest du so viel, Vater? – Der Mensch hat eine Aufgabe! Ein Mensch ohne Aufgabe vege­tiert wie ein Tier.

Vegetiert wie ein Tier, schießt Hirsche, schießt mit der Ka­none, rauft sich mit Oberhelfern ... Was ist meine Aufgabe? dachte Holt. Es ist Krieg. Wir kämpfen für Deutschland. Von Kindheit an stand es in allen Lesebüchern: Fürs Vater­land sterben, Langemarck, Schlageter und so weiter.

Der Lastwagen hielt. „Hier wollte doch einer absteigen!“ Holt verabschiedete sich. Er wanderte lange über eine Chaus­see. Ringsum lag Schnee, der Himmel hing grau und diesig herab.

Die Stadt war fremd, eine unzerstörte Großstadt, unge­wohnt, beengend, verwirrend. Die Adresse führte Holt in ein Gäßchen. Zu beiden Seiten ragten hohe Häuserzeilen auf. Wird wunderbar brennen! dachte Holt. Ein schmutziges Haus, drei Treppen, eine Wohnungstür... Holt dachte an die Villa in Leverkusen, an Mutters Haus in Bamberg, modern, hell, von Bäumen umstanden, die Südfront ganz aus Glas. Hier, in diesem schmutzigen Loch, stand „Holt“ auf einem Pappschild, kein Doktorgrad, kein Professorentitel. Er klingelte. Die unfreund­liche Wirtin gab ihm die Adresse eines städtischen Amtes.

Dort sagte der Pförtner: „Holt? Ist noch oben. Der murkst immer so lange rum. Gehn Sie mal hoch.“ Korridore, Laboratorien, ein kleiner Raum, nur schwach erleuchtet. Ein Mann am Mikroskop.

Das also war Vater! Das Haar auf dem mächtigen Schädel war schlohweiß geworden. Der alte Holt richtete sich auf und rieb sich lange die Augen. Dann erkannte er seinen Sohn. „Werner! Tatsächlich Werner!“ rief er überrascht.

Holt stand steif in der Tür. Er war enttäuscht, er wußte nicht, warum. Die Enge des bescheidenen Arbeitsraumes be­drückte ihn, das trübe Licht der Lampe auf dem Tisch, der ab­getragene Anzug seines Vaters... Wieder fielen ihm die Redensarten seiner Mutter ein: Ein Sonderling... er hat nichts als seine Arbeit im Sinn ... „Ich dachte, du freust dich“, sagte Holt, „wenn ich nach so langer Zeit... Aber laß dich nicht stören.“ Professor Holt räumte seine Sachen zusammen. „Ich freue mich sehr. Du störst nicht, nein. Ich probiere hier nur nach der Arbeit ein paar Färbetechniken aus, früher war ja nie Zeit dazu.“ Es stimmt, dachte Holt, noch tiefer ent­täuscht, er hat nichts als seine Arbeit im Sinn ... Bewegungs­los, an die Tür gelehnt, sah er seinen Vater Flaschen, Reagenz­gläser und Kolben im Schrank verschließen und das Mikro­skop sorgfältig in den polierten Holzkasten schieben. „So, mein Junge, wir können gehen!“

Die Straßen waren finster. Ein paar Autos huschten mit verdunkelten Lichtern über den schneenassen Asphalt. Holt ging stumm neben dem Professor her, der ihn an Größe über­ragte. Ich soll erzählen? Ihn interessiert ja nichts. Er ist ein Menschenfeind, ganz weltfremd... Er erzählte widerwillig und flüchtig.

In dem kleinen, ärmlich möblierten Zimmer war der Tisch vors Fenster gerückt und mit Papieren bedeckt, mit Büchern und Tabellen. Auf dem Korridor schalt die Wirtin laut über unnützen Aufwand, unverhoffte Besuche und zusätzliche Ar­beit vor den Weihnachtsfeiertagen. Und wieder war es die düstere Atmosphäre des Zimmers, dieser fremden und armse­ligen Welt, die Holt bedrückte und ihn mit einem fast feind­seligen Interesse auf seinen Vater sehen ließ, der bedächtig eine kurze Pfeife stopfte: ein fremder und alter Mann, ein Mann von Charakter, der solches auf sich nimmt, in diesem Loch zu hausen, abgerissen, gescholten von einer schlampigen Wirtin, während Mutter in der Bamberger Villa residiert... ein Mann von Charakter oder ein starrsinniger Sonderling, weltfremd, menschenfeindlich? Was redet er da?... Nach vier Jahren den Weg gefunden, zu ihm, und wie es so gehe .. .?

„Von mir“, sagte er, „hab ich dir das Wichtigste schon er­zählt. Und du, Vater, wie ist es dir in den letzten Jahren er­gangen?“ Interessiert es mich wirklich? fragte er sich. Oder rede ich das nur so hin? Ist er nicht von allen Fremden der Fremdeste? Aber dann wurde doch etwas wie Neugier wach, nun endlich die Hintergründe dieses Schicksals zu erfahren.

„Du siehst“, sagte der Professor, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen, „ich lebe, ich arbeite. Wozu früher keine Zeit war, das wird jetzt gründlich, in Ruhe getan.“ – „Gut, gut“, sagte Holt schnell, „deine Arbeit... Ich versteh nichts da­von. Aber sonst, ich meine...“ Er sagte nun geradeheraus: „Du lebst hier ziemlich ärmlich. Wenn ich an früher denke ... Ich hab eine Menge Fragen. Man ist schließlich älter gewor­den. Warum ist eigentlich ...“

Er schwieg. Rühr nicht dran, sprach es in ihm.

„Warum“, fragte er, „ist eigentlich deine Ehe auseinander­gegangen?“

Der Professor sah ein wenig überrascht auf. Er sog an der Pfeife. Die Tischlampe beleuchtete sein Gesicht und füllte die starken Falten, die von den Nasenflügeln über die Mund­winkel liefen, mit Schatten. „Deine Mutter“, begann er be­dächtig, „erscheint mir bis heute, in ihrer Art, als eine liebens­werte Frau, zweifellos ... Aber gerade deshalb paßte sie nicht zu mir.“ – „Gut, gut“, sagte Holt wieder. „Aber der Anlaß! Als du weggingst, war doch ein Anlaß! Warum hast du damals deine Stellung in Leverkusen aufgegeben?“ Und wieder dachte er: Frag nicht, rühr nicht dran!

„Die Arbeit paßte mir nicht“, entgegnete der Professor. Es klang, als weiche er einer genaueren Antwort aus.

„Ich bitte dich“, sagte Holt, „du bist aus Hamburg wegge­gangen, um in der Industrie großzügiger arbeiten zu können, war es nicht so? Und auf einmal paßte dir die Arbeit nicht mehr?“

„Nein. Auf einmal paßte sie mir nicht mehr“, erwiderte der Professor, den Blick nun nachdenklich und abwägend auf seinen Sohn gerichtet. „Aber hier“, rief Holt herausfor­dernd, „in so einem Loch, als kleiner Chemiker, da paßt sie dir?“ – „Ja. Da paßt sie mir“, sagte der Professor.

Sein Gesicht tauchte in die Dämmerung des Zimmers. Der zur Seite gedrehte Kopf verdeckte die Lampe. Das weiße Haar, vom Licht durchschienen, leuchtete silbern auf. Wie gebannt sah Holt auf seinen Vater, der unbeweglich ins Dun­kel blickte, den Kopf geneigt, in Nachdenken versunken.

„Ich habe“, sagte der Professor langsam, „in der zweiten Hälfte meines Lebens eine Menge Illusionen zu Grabe ge­tragen. Du bist älter geworden... gut. Zu diesen Illusionen gehörte der Glaube, jenseits des Zeitgetriebes in Ruhe und zum Nutzen meiner Mitmenschen arbeiten zu können, dazu gehörte unter anderem meine Ehe, dazu gehörte ferner der Wunsch, einen... Sohn zu haben und ihn einmal nach mei­nem Bilde zu formen... Ein Mensch ohne Illusionen aber kann warten. Und zum Warten ist dieses Zimmer hier... ist meine derzeitige Arbeit gerade recht.“

Holt versuchte vergebens, den Blick von seinem Vater zu lösen; er versuchte, den Eindruck fortzuwischen, aber der Ernst dieser unverständlichen Rede spann ihn unvermittelt in Erinnerung ein, und eine sehr weit zurückliegende Zeit wurde lebendig, die früheste Kindheit. Damals, ehe die Entfremdung begann, ehe die aushöhlenden Redensarten der Mutter ein­setzten, war der Vater Inbegriff aller Tugend gewesen, all­wissend, allmächtig, gütig und weise, Freund und Lehrer. Damals. Langsam schmolz das Eis. „Vater“, sagte Holt, und nun war doch eine Spur unbewußter Wärme in seinen Worten, „du sagtest einmal zu mir ... es ist sehr lange her: Der Mensch muß eine Aufgabe haben, sonst lebt er wie ein Tier... Du hattest doch deine Aufgabe in Leverkusen. Sag mir die Wahr­heit: Warum hast du sie hingeworfen?“

Der alte Holt rückte zur Seite und drehte den Stuhl ins Zimmer; das war wie eine Geste, und nun saßen Vater und Sohn dicht beisammen, im Licht der Lampe. „Eine Aufgabe“, wiederholte er. „Ja. So habe ich gesagt. Aber es gibt etwas, das darüber steht. Gewissen, Verantwortung, Treue zu sich selbst... Das mögen manchem ... das mögen vor allem heute nur leere Begriffe sein. Aber es sind keine leeren Begriffe. Ich habe den Eid des Arztes nicht brechen können, und es wurde von mir verlangt. Ich habe nach den Auffassungen meiner Kol­legen und Mitarbeiter... und auch deiner Mutter!... nicht nur leichtfertig meine Existenz zerstört, sondern angeblich auch ehrlos und verräterisch gehandelt. Aber ich werde dafür ein reines Gewissen haben, wenn das erst alles vorbei ist.“

„Wenn... was alles vorbei ist?“ fragte Holt. Der Profes­sor sah auf, mit einem Blick, der Holt gefrieren ließ.

„Das sogenannte ,Dritte Reich’“, erwiderte er.

Ein tausendmal eingehämmerter Gedanke spülte über Holt hinweg: Verrat... Zersetzung ... Aber dieser Gedanke blieb nicht haften und verrann, und an seine Stelle trat wieder Angst. „Du meinst...“ Er verstummte und hörte seinen Va­ter reden, nüchtern und sachlich, aber wie aus großer Entfer­nung: „Du trägst eine Uniform, du trägst an der Armbinde dieses .. . Hakenkreuz, du bist zu mir gekommen, du hast mich aufgefordert, die Wahrheit zu sagen. Unter diesem Zeichen, das du am Arm trägst, haben die Nationalsozialisten den größten Raub- und Eroberungskrieg der Weltgeschichte vor­bereitet und entfesselt, und nun verlieren sie ihn, eindeutig und gründlich. Ich habe bei der I.G.Farben damals an bestimm­ten Entwicklungen mitarbeiten sollen, die im Endeffekt der Menschenvernichtung dienen, ich habe das abgelehnt. Ich habe es darüber hinaus als verbrecherisch bezeichnet, die Giftwir­kung verschiedener chemischer Verbindungen, die zur Insek­tenbekämpfung geeignet waren, im Tierversuch an Großsäugern zu erproben, weil ich sah, wohin diese großangelegten Versuche führen sollten, und ich habe recht behalten: heute tötet die SS in den Konzentrationslagern mit einer von der I.G. hergestellten Kombination von Blausäure und Chlorkohlen­säuremethylester Hunderttausende von Menschen ...“

Holt machte eine Handbewegung, die nichts als Hilflosig­keit ausdrückte, Hilflosigkeit und Angst. Der Professor mochte verstanden haben. Er schwieg. Die Tischlampe brannte trüb und warf riesige Schatten an die getünchten Wände. Holt kämpfte sekundenlang mit der Angst, und er zwang sie hin­ab, aber damit erlosch auch der Funken Wärme in seiner Seele. Die Fremdheit kehrte zurück, die Entfremdung brei­tete sich wieder zwischen ihnen aus wie ein Hauch von Kälte. Er fror. Er sah seinen Vater im trüben Lampenschein, und es war nun auf einmal wieder ein fremder alter Mann, ein Menschenfeind.. . Wirft mir seine Wahrheit hin wie einem Hund den Knochen, dachte er, stößt mich hin und läßt mich liegen...

Eins wurde ihm nun klar: er mußte schnell fort von hier... Der alte Mann, dachte er... Saugt an seiner Pfeife, sieht vor sich hin... Hier fror das Herz zu einem Klumpen Eis! Was will ich hier? dachte er, was trieb mich hierher, und war­um mußte ich fragen?

Fort! Wohin? Zu Gertie, dachte er. Er atmete auf. Bei ihr ... ist Wärme, Geborgenheit, Trost...

„Wenigstens haben wir uns mal wiedergesehen“, sagte er. Diese Worte brachte er unbefangen heraus. „Leider...“, es klang bedauernd, „muß ich morgen früh schon wieder fort. Bei der gespannten Luftlage ...“ Der Professor verstand. Nun war es an ihm, hilflos die Hand zu bewegen, und diese Hand fiel kraftlos auf die Tischplatte zurück. „Dann wollen wir schlafen gehen. Hoffentlich kommt kein Alarm.“

Der Morgen erwachte mit klirrendem Frost. Der Professor ging groß und aufrecht in sein Laboratorium. Holt sah ihm nach. Fremdheit, Enttäuschung und Angst... Das schlug nun um in Erbitterung. Geh nur, dachte er böse. Geh! Ich brauch dich nicht, ich will dich nicht, dich und deine ... Wahrheit!

Dann lief er zum Bahnhof.


Date: 2016-03-03; view: 1113


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