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Worauf laß ich mich ein? 4 page

Zemtzki stand hinter Vetter und stichelte leise: „Das darfst du nicht auf dir sitzenlassen!“ Vetter stammelte mit hochrotem Kopf. „Das ... das... solche Beleidigung, also ... heute um sechs am Rabenfelsen!“

Wolzow war überrascht. „Du willst dich mit mirschlagen?“ – „Du hast meine Sippe beleidigt“, behauptete Vetter. „Ich bestimm die Bedingungen. Ich schick dir den Fritz, der ist mein Sekundant.“ Zemtzki nickte eifrig. Gomulka drängte sich nach vorn. „Ich bin Unparteiischer.“ Nun redeten alle auf Vetter ein. „Laß das, er haut dich zusammen!“ Vetter war den Tränen nahe. „Aber meine Sippe... die Ehre meiner Sippe...“ Vor der Tür pfiff der Posten.

Maaß trug die Zeugnishefte unter dem Arm. Er schielte über den Rand der Brille hinweg. Auch Wolzow wurde ver­setzt; seine sehr guten Noten in Turnen und Geschichte hat­ten ihn gerettet, aber sonst war sein Zeugnis jammervoll.

Draußen blinzelte er in die Sonne. „Heut sind ein paar Kisten gekommen, von meinem Vater, der Nachlaß. Wir packen das gleich aus.“

Es war ein drückend heißer Nachmittag. Wolzow und Holt hatten sich bis auf die Badehose ausgezogen und kauten mit vollem Munde. In der Küche war seit Wochen kein Geschirr abgewaschen worden, verdreckte Teller und Töpfe füllten das Spülbecken. Auf dem Tisch häuften sich Tüten und Speise­reste, Rotweinflaschen dazwischen, volle und leere. Wolzow holte Werkzeug, klemmte sich eine Rotweinflasche unter den Arm und schob Holt in die Halle. Dort standen drei große Kisten und ein paar Koffer auf dem Teppich. Wolzow riß die Vorhänge auf, durch die Fenster flutete Licht, die Staubteil­chen tanzten. „Nimm erst mal 'n Schluck Rotspon.“

Der Rotwein schmeckte, Holt trank aus der Flasche, meh­rere große Schlucke. Wolzow warf Kistenbretter in den Ka­min, dann packte er Röcke und Hosen aus. Das schlechte Zeugnis geht ihm wirklich nicht unter die Haut, dachte Holt. Sein eignes war gerade noch erträglich ausgefallen, aber Maaß hatte ihm „moralische Unreife und übersteigertes Geltungs­bedürfnis“ bescheinigt. Bei der Flak interessiert das nieman­den, dachte er.

„Hier!“ sagte Wolzow. „Na bitte!“ Er zog einen Offiziersdolch mit einem Griff von Elfenbein aus der Scheide. „Pracht­voll, was? Aber der Kamin stinkt.“ Holt riß ein Fenster auf. Die zweite Kiste war mit Schachteln, Etuis und Pack­taschen gefüllt. Eine Aktentasche enthielt Papiere, dicke Stapel Landkarten, in Wachstuch gebundene Hefte, deren Seiten mit einer flüchtigen Handschrift bedeckt waren, ein Kästchen mit Orden und Ehrenzeichen und anderem Kram. „Ich bin der Erbe. Wenn meine Alte so weitermacht, laß ich sie entmündi­gen.“ Wolzow rief: „Sieh her!“ Da waren zwei, nein, drei Pistolentaschen. Wolzow öffnete die erste und entnahm ihr eine schwere Schußwaffe. „Mensch ...“, flüsterte Holt begei­stert, „eine Null-acht!“ – „Si vis pacem, para bellum...“, sagte Wolzow, „daher der Name Parabellum.“ Er riß das Ma­gazin heraus und öffnete den Verschluß, eine Patrone kullerte über den Teppich. „Und hier ... eine siebenfünfundsechziger Walther. Die kenn ich noch nicht.“ Er schob Holt die dritte Tasche hin. Holt zog eine kleine Selbstladepistole aus dem Futteral. Er schloß die Hand um den Griff und zog den Schlit­ten zurück; eine glänzende Patrone sprang heraus. Mit lei­sem metallischem Geräusch glitt das Schloß wieder nach vorn. Jetzt den Finger krumm gemacht... Herr bin ich über Le­ben und Tod!



„Belgischer Browning“, sagte er, „Kaliber sechsfünfunddreißig. Neben den beiden Kanonen fast 'n Spielzeug, aber herr­lich!“ – „Wenn sie dir gefällt“, sagte Wolzow, der die Wal­ther wieder zusammensetzte, „kannst du sie behalten.“ Er lief auf sein Zimmer, holte das ausgestopfte Rebhuhn und stellte es auf den Kaminsims vor die glänzenden Klinker.

Es klingelte. Draußen standen Gomulka und Zemtzki. Holt führte sie in die Halle. Wolzow stieß das Magazin in den Handgriff der Walther. „Kommt rein!“ Er hob die Pistole, zielte auf das Rebhuhn und drückte ab. In der Halle krachte der Schuß wie eine Handgranate. Das Geschoß prallte vom Kaminsims ab und zerschmetterte eine große Vase, die kei­nen Meter neben Gomulka auf einem Tischchen stand. Pulver­geruch breitete sich aus. Gomulka, dem die Scherben der Vase um den Kopf flogen, verzog keine Miene. „Mein Tirolerstut­zen hätte den Klinker zerschlagen“, sagte er. Wolzow sicherte die Pistole und legte sie vor sich auf den Rauchtisch. „Da hast Nerven, alle Achtung! Du hast überhaupt allerhand krie­gerische Tugenden!“ – „Verrückt“, piepste Zemtzki, „knallt mit Kanonen rum, bis es mal ins Auge geht!“

Wolzow holte eine Rotweinflasche. „Setzt euch!“ Die Fla­sche ging reihum. Dann begann Zemtzki: „Vetter ist vor ver­sammelter Klasse beleidigt worden. Für seine Eltern kann er nichts, sagt er. Sie prügeln ihn jeden Tag, aber die Ehre sei­ner Sippe steht über allem. Gut, was? Ich hab gesagt, wenn er sich nicht mit dir schlägt, gilt er überall als Feigling.“ – „Der soll Ruhe geben“, sagte Holt. – „Er hat sich was Neues aus­gedacht, wo er bessere Chancen hat als im Boxen. Er will sich mit Fahrtenmessern stechen.“ Wolzow lachte. „Das hat er bei Karl May geklaut!“ – „Dreschen will er sich nicht“, meinte Zemtzki, „weil ihn sein Vater gestern erst mit 'm Ochsenziemer verhauen hat. Aber er will die Ehre seiner Sippe mit deinem Blut abwaschen.“

Gomiilka lächelte.

„Gilbert nimmt die Forderung an“, meinte Holt. „Meinet­wegen sechs Uhr am Rabenfelsen. Sag dem Vetter folgendes: Gilbert ist das in der Erregung rausgerutscht. Das muß genü­gen. Messerstecherei ist ein bißchen übertrieben.“Aber Wol­zow rief: „Nachher denkt er, ich hab Angst!“

„Vetter wird von allen gehänselt“, sagte Gomulka nachdenk­lich. „Zu Hause ist er der Prügelknabe, ihr habt keine Ah­nung, was dort manchmal los ist! Er ist richtig verbittert, und die Erklärung lehnt er ab, das weiß ich jetzt schon.“

„Mir macht es nichts aus“, sagte Wolzow gleichmütig. „Jetzt raus mit euch, ich hab keine Zeit.“

Sie packten die letzte Kiste aus, und die Halle füllte sich mit Ausrüstungsgegenständen. Ein Koffer enthielt Pistolen­munition aller Kaliber, und schließlich packte Wolzow Zigar­ren aus, fünfundzwanzig Kisten vielleicht, duftende Zigarren. Er entdeckte die Brieftasche seines Vaters. Sie enthielt etwas mehr als dreihundert Mark.

Er spielte wieder mit der Walther, nachdenklich, den Kopf auf die Seite gelegt. „Ich hab mir die Sache mit dem Meißner durch den Kopf gehen lassen. Daß ich heute im Dienst vor jedem Scharführer strammstehen muß, das verdanke ich ihm. Eigentlich war da längst eine Abreibung fällig. Ich mach also mit. Aber es muß bald sein, denn in acht Tagen rückt er ein. Ich hab Stammführer Wurm getroffen, der führt mit dem Barth unser Erntekommando. Kann ja heiter werden! Also, der Meißner rückt ein.“ – „Wenn wir zurückkommen“, sagte Holt nachdenklich, „ist er über alle Berge.“ – „Hast du etwa die Absicht, drei Wochen im Ernteeinsatz zu bleiben?“ – „Wie meinst du das?“ – „Durchbrennen!“ – „Wohin?“ fragte Holt. – „Das ist es eben... Aber auf jeden Fall hau ich hier ab ... bis zur Einberufung.“

Holt überlegte. „Du kommst nicht weit. Früher war das an­ders.“ Aber nun stieg vor seinen Augen die wilde Landschaft der Berge empor, uferlose Wälder... die Höhle! „Ich wüßte was“, sagte er, heiser vor Erregung. „Ein Versteck...“ Und er erzählte.

„Komm mit hoch“, sagte Wolzow. In seinem Zimmer kramte er Landkarten hervor, Meßtischblätter der Umgebung. „Der Vostrauer Berg kann's nicht gewesen sein, den kenn ich ge­nau ... Zeig mal, wo du langgegangen bist.“ Holt studierte die Karte. „Hier... durch die beiden Dörfer.. . Dann bin ich nach Norden, dann ging's um einen sehr langen Berg herum westnordwestlich, dann wieder nach Norden..“ – „Da bist du viel weiter weg gewesen, als du glaubst! Der Vostrauer Berg liegt ganz woanders. Du bist wahrscheinlich um den Breiten Berg und weiter... Steinbrüche gibt's da hinten viele... Hier muß das gewesen sein ... Neben dem Kahlenberg... noch hinter der Bruchspitze... Das sind von hier drei­ßig Kilometer...“ – „Ich bin auf dem Rückweg hart mar­schiert und doch etwa sieben Stunden unterwegs gewesen ...“

Wolzow saß auf dem Bett und paffte eine Zigarre. „Vor paar Jahren war ich mal dort ... Eine verdammt einsame Ge­gend! Keine Dörfer, nur Wald... In den Bergen hat's ganz früher Bergwerke gegeben. Wenn jemand von der Höhle wüßte, hätte ich's bestimmt gehört!“ Er ging nachdenklich im Zim­mer auf und ab. „Jetzt haben wir Juli. August, September... Da müssen wir 'n Haufen Kram mitschleppen!“

Holt lehnte am Fenster. Nun verschlug es ihm doch die Sprache. Aber dann sah er Wälder, Wolken, Berge ... nächt­liche Lagerfeuer, Sternenhimmel... Freiheit, Ungebunden­heit . .. großes, berauschendes Abenteuer!

Wolzow studierte wieder die Karte. „Man kann den Weg mächtig abkürzen, wenn man flußaufwärts fährt, mit einem Boot durch den Schwarzbrunn ... Das war auch fürs Gepäck günstig, man könnte einen Kahn den Fluß hochtreideln...Wir sehn uns die Höhle gleich mal an, ja?“

„Bis Dienstag“, sagte Holt nun, und für ihn war das Aben­teuer beschlossene Sache, „können wir alles vorbereiten. Dann fahren wir zum Ernteeinsatz. Das ist tatsächlich die beste Art, hier zu verschwinden. Nach drei Tagen kommen wir heimlich zurück, verprügeln den Meißner, und anschlie­ßend geht's los.“ Es war alles ganz einfach.

Aber Wolzow meinte: „Die Sache mit Meißner will gut überlegt sein; du weißt ja, Überfall auf einen HJ-Führer, das kann uns übel bekommen.“ – „Er muß aber wissen, warum wir ihn verdreschen“, sagte Holt. „Vorsicht“, entgegnete Wol­zow, „das macht's noch gefährlicher!“ – „Und dein Onkel?“ fragte Holt. „Kann der uns notfalls nicht beistehn?“ – „Wo denkst du hin!“ rief Wolzow. „Onkel Hans ist seit dreißig in der Partei, als deutscher Offizier würde er so was nicht dul­den. Nein, wir müssen uns schon selber helfen.“ – „Wenn wir was in die Hände bekämen“, meinte Holt, „was Schrift­liches, ein Geständnis, das ihn unmöglich macht, falls er nicht den Mund hält!“ Wolzow überlegte wieder. „Gute Idee“, sagte er dann, „ich laß mir's durch den Kopf gehen.“

Sie bereiteten sich auf die Verabredung am Rabenfelsen und zugleich auf den anschließenden Nachtmarsch zur Höhle vor.

Sie packten die Pistolen ein, Munition, Taschenlampen, die Karte, einen Laib Brot und zwei Büchsen Fleisch. Jeder hängte eine zusammengerollte Zeltbahn um.

Der Rabenfelsen lag nahe der Stadt, hinter der Bismarckhöhe. Sie liefen zwischen Lauben und Gärten entlang. „Wir brauchen Gewehre“, sagte Wolzow. „Mit der Pistole kann man keinen Hasen schießen, schon gar kein Wildschwein ... Eine Kleinkaliberbüchse muß her, mindestens ... Meine ist kaputt. Der Sepp hat eine! Außerdem hat er einen Tirolerstut­zen, Kaliber elf Millimeter. . . oder noch größer. Die Kugeln muß er aus Blei gießen, mit einer Kugelform, die Patronen lädt er mit Schwarzpulver. Es macht einen fürchterlichen Gestank und knallt wie eine mittelalterliche Feldschlange. Aber auf hundert Meter legst du damit jedes Wild um.“ – „Den Sepp sollten wir mitnehmen“, sagte Holt. „Er hat die Schule genau­so satt wie wir.“

Der Rabenfelsen bestand aus bizarr aufeinandergetürmten Basaltbrocken. Die Sonne warf seinen Schatten bis an den nahen Waldrand.

Gomulka begrüßte sie. Vetter hielt sich mit Zemtzki ab­seits. „Halt dich zu uns, Sepp, wenn der Zauber vorbei ist“, sagte Wolzow.

Zemtzki teilte feierlich mit, daß Vetter jede Versöhnung ablehne. „Er will kämpfen.“

Gomulka hatte auf der Wiese einen Kreis abgesteckt. Wol­zow zog das Hemd über den Kopf, zog auch die Breeches und die Stiefel aus und stand schließlich barfuß, in der Badehose, im Gras. „Wollt ihr wirklich?“ fragte Gomulka, plötzlich ganz ernst. Wolzow trat schon in den Kreis. Auch Vetter trug nur die Turnhose. Holt fuhr ihn an: „Du bist ein Rindvieh, Mensch, du bist selbst schuld, wenn dir...“ – „Wenn du mich beschimpfst, mußt auch du mit mir kämpfen“, unterbrach ihn Vetter. Er klapperte mit den Zähnen. Als er gleichfalls in den Kreis trat, schielte er argwöhnisch auf Wolzow, der ge­lassen wartete, einen halben Kopf größer als Vetter, Arme, Brust und Schultern mit Muskeln bepackt. Vetters Körper war schwammig, rosig, ein wenig gedunsen.

Gomulka hielt Vetter ein HJ-Fahrtenmesser hin. Auch Wol­zow erhielt einen Dolch. „Stellt euch in den Kreis, Gesichter abgewandt!“ – „Und wer trägt Vetters Leiche nach Hause?“ fragte Zemtzki. „Ich bin doch als Sekundant nicht etwa ver­pflichtet, ihn auch noch...“ – „Still!“ rief Gomulka. „Wenn ich sage ,Los', dreht ihr euch um und kämpft, ohne weiteres Kommando. Wer den Kreis verläßt, hat verloren. Sonst bis zur Kampfunfähigkeit. Das Kommando lautet ,Achtung ... fertig ... los!' Das Kommando gilt: Achtung ... fertig ...“ – „Ich kämpfe nämlich für meine Sippe!“ rief Vetter verzweifelt. Er war blaß, und seine Knie zitterten. „Halt den Mund“, sagte Wolzow, „Sepp, gib endlich das Zeichen!“ Holt sah, daß Wolzow wütend war. „Los!“ rief Gomulka.

Beide drehten sich um und gingen langsam aufeinander zu, Wolzow ruhig und entspannt, aber Vetter watschelte unbe­holfen daher, fuchtelte mit dem Dolch in der Luft herum und sagte vor Aufregung immerfort: „Los ... los ... los...“ Auf einmal warf Wolzow das Messer weg, Vetter erschrak und stieß mit dem Dolch nach ihm, Wolzow wich mit einem schnel­len Schritt zur Seite und gab Vetter eine so gewaltige Ohr­feige, daß der dicke Junge rücklings zu Boden fiel, über Wolzows Arm rann Blut. Das alles dauerte nur eine Sekunde.

„Vetter liegt außerhalb des Kreises, der Kampf ist beendet, Wolzow ist Sieger“, erklärte Gomulka. Holt besah sich die Schnittwunde. „Ein Kratzer, nicht der Rede wert.“

Vetter saß im Gras und heulte. „Alle verspotten mich“, sagte er schluchzend. „Ich kann doch nicht dafür, daß ich so dick bin ... Ich bin kein Feigling!“ rief er. „Meine eigene Sippe verhaut mich immer, und keiner will mein Freund sein! Aber ich mach das nicht mehr mit! Ich geh in die weite Welt...“ Holt klopfte ihm auf die Schulter. „Hör auf zu heu­len! Wenn du durchbrennen willst...“ Er sah auf Wolzow. Wolzow grinste und nickte. „Komm mit uns. Wir machen den Laden hier dicht.“ – „Wenn du ein einziges Wort verrätst“, drohte Wolzow, „knall ich dich einfach ab!“ Er stieß Zemtzki in den Rücken. „Das gilt auch für dich!“

Vetter trocknete sich die Tränen ab. Er stammelte: „Wirk­lich? ... Wirklich?“ Wolzow verteilte Zigarren. Die Sonne stand tief über den Bergen, der riesige Schatten des Felsens hüllte die Jungen ein.

Holt erzählte von Wolzows Plan und von der Höhle. Wol­zow setzte hinzu: „Wir brauchen deine Gewehre, Sepp... Wir schießen Wild. Dort gibt es genug Hasen und Rehe. Die Hunnen haben auch bloß Fleisch gegessen.“

Zemtzki und Vetter saßen mit offenem Mund dabei; aber Gomulka dachte lange nach. „Wir fliegen alle von der Penne, das ist euch klar?“ – „Niemand fliegt!“ rief Wolzow. „Wir sind verschwunden! Wenn wir einrücken, sind wir eben wie­der da. Ich wette, daß dann keiner mehr an Rausschmeißen denkt! Wir werden doch alle bei der Flak gebraucht!“ – „Das ist richtig“, sagte Gomulka. „Und dort hinten finden sie uns nicht, da müßte die Polizei mit ein paar hundert Mann die Wälder durchkämmen ...“

„Also... Also... Gilbert!“ rief Vetter plötzlich außer sich. „Wenn ihr mich mitspielen laßt... ich schwör dir ewige Gefolgschaft!“ Sein Gesicht, das von der Ohrfeige geschwol­len war, strahlte. Holt sagte: „Wir müssen alle schwören!“ Dann standen sie im Kreis, mit erhobenen Schwurfingern. „Wir wollen treue Kameraden und Freunde sein und zusam­menhalten, was auch kommt, jetzt und im Krieg. Der Wolzow soll unser Führer sein, und wir wollen ihn nie im Stich las­sen.“ – „Wer so einen Eid bricht, ist ein Lump!“sagte Vet­ter. Holt sah stumm auf Wolzow, auf das harte Profil mit der Adlernase.

„Wißt ihr, warum das hier Rabenfelsen heißt?“ fragte Go­mulka, als sie aufbrachen. „Hier soll mal einer einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, und der Teufel ist ihm in Gestalt eines schwarzen Raben erschienen.“

Niemand schloß sich vom Nachtmarsch zur Höhle aus.

 

6.

Tags darauf ging Holt über die Liegewiese zu seiner Kabine, zwischen den vielen Menschen hindurch, die den heißen Nach­mittag am Wasser verbrachten. Er wusch sich im Fluß den Staub der langen Wanderung vom Körper, dann schlenderte er über das Floß.

Beim Sprungturm saß Peter Wiese mit einem großen, blon­den Burschen. Holt blieb überrascht stehen: Wiese und Hartmuth Meißner? Wiese winkte, Holt dachte: So ein Zufall! Er grüßte katzenfreundlich und sah sich Meißner an, interessiert und abschätzend. Er hatte ihn bisher nur flüchtig gesehen. Ein großer, kräftiger Bursche mit muskulösem, trainiertem Körper, sehr braun gebrannt. Ein eckiges Gesicht und kalte, farblose Augen. Das Haar war fast weiß. Wiese stellte sie ein­ander vor.

„Schon gut!“ sagte Holt. „Wer kennt den Hartmuth Meiß­ner nicht?“

Meißner wandte ihm langsam das Gesicht zu. „Was soll das heißen?“ fragte er. Holt lächelte. Es war ein Nervenkitzel. „Na, eben dies und das.“ – „Du bist rotzfrech“, meinte Meißner, aber Holt unterbrach ihn rasch: „Sollst dauernd Wei­bergeschichten haben. So was spricht sich rum.“ – „Hast du da was Bestimmtes gehört?“ – „Kann man's wissen?“ fragte Holt zurück. Er hielt Meißners Blick stand, er tat ganz harm­los, aber er fühlte dabei Haß in sich aufsteigen. Warte nur, bald stehen wir uns anders gegenüber!

Er legte sich lang auf die sonnenheißen Bretter. „Hast ja recht“, sagte er. „Wenn man bald einrückt, da nimmt man eben noch mit, was sich bietet.“ – „Für so einen Standpunkt bist du noch ein wenig grün“, erwiderte Meißner. – „Was sind schon die paar Jahre, die du älter bist als ich! Wir haben alle die gleiche Philosophie.“ – „Und die wäre?“ – „Leben und leben lassen“, sagte Holt.

Meißner, der schläfrig in der Sonne saß, wachte auf. „Das klingt mir 'n bißchen liberal.“ – „Gar nicht“, widersprach Holt. „Keiner weiß, ob er wiederkommt, und da will sich halt jeder vom Speck noch ein ordentliches Stück abschneiden.“ Meißner schwieg. Dann sagte er mit geschlossenen Augen, den Kopf rücklings an die Balken des Sprungturmes gelegt: „Daß ihr alle den Geist unserer Zeit nicht begreifen könnt! Ein Stück vom Speck abschneiden... Was ist das für ein jüdischer Standpunkt! Es geht um das Reich, und ob der ein­zelne auf seine Kosten kommt, ist völlig bedeutungslos. Wer heute darauf ausgeht, sein Leben zu genießen, der verrät Deutschland! Und das Reich als Ganzes, mein Lieber, das kommt schon auf seine Kosten! Es wächst und erstarkt...“ – „Vielleicht hast du recht, aber ich brauch keinen Unterricht, ich hatte zwei Jahre lang das beste Fähnlein im Stamm! Aber daß man sein Leben nicht genießen darf, das sag mal nicht so laut!“ – „Ich habe nicht von der Masse, sondern von uns Führernaturen gesprochen“, erläuterte Meißner. – „Mit den Führernaturen allein kannst du aber keinen Krieg führen.“ Meißner verzichtete auf eine Erwiderung. Er saß noch eine Weile in der Sonne, dann ließ er Holt und Wiese allein.

„Was sitzt du mit... dem zusammen?“ fragte Holt, und Wiese entgegnete, beinahe entschuldigend: „Er hat sich zu mir gesetzt...“ — „Was meinst du...?“ fragte Holt. „Ob ich mit ihm fertig würde?“ – „Er ist älter... aber ich glaub schon“, antwortete Wiese, etwas erstaunt, und da Holt nichts weiter sagte, begann er schließlich: „Du hast ihn richtig ver­albert! Ich denke manchmal, du könntest der beste Schüler in der Klasse sein, wenn du nur wolltest! Warum lernst du nicht?“

„Lernen ist nichts für Männer. Ich will endlich in den Krieg.“ Er dachte nicht daran, daß seine Worte Peter Wiese kränken mußten.

„Da erfährt ein reicher Mann eines Tages“, sagte Wiese nachdenklich, „daß er Schwindsucht hat. Die Ärzte sagen: Keine Rettung, noch ein Jahr! Alle Ärzte sagen ihm dasselbe. Da denkt er: Gut. Und nun bringt er sein Vermögen durch, bis auf den letzten Pfennig. Als das Jahr herum ist, da ist ein Wunder geschehn. Er ist gesund. Und steht vor dem Nichts.“

Ein dummes Beispiel, dachte Holt ärgerlich, ein echtes Miesepeter-Beispiel! Was interessiert mich das Nachher? Jetzt ist Krieg! Er zwang sich zu einer freundlichen Antwort. „Ich versteh dich“, brummte er.

„Und das komische ist“, sagte Wiese leise, „daß ich dich beneide! Ich gab was drum“, fuhr er dann fort, und es klang unglücklich, „wenn ich dein Freund sein könnte. Aber da muß man wohl sein wie der Wolzow. Ich war immer der Schwächste, ich hab immer gedacht: Meine Waffe ist der Geist.. . Aber eigentlich bist du auch klüger als ich.“

Komisch, dachte auch Holt. Er sagte: „Ich hab bei Nietz­sche gelesen: ,Unser Glaube an andere verrät, worin wir gerne an uns selber glauben möchten... Unsere Sehnsucht nach einem Freunde ist unser Verräter ...'“

„Ja... so ist das... Ich möcht auch raufen und prügeln können, frech sein, aber... ich bin vom Ernteeinsatz zurück­gestellt, und mit der Flak wird es auch nichts...“ – „Wir können ja trotzdem Freunde sein“, antwortete Holt, ein wenig gerührt. Er überlegte ... Nein, kommt nicht in Frage. Aber... „Kannst du schweigen, Peter?“ – „Ja, für dich hab ich so­gar schon gelogen!“ Holt hielt Wiese die Hand hin. „Ich hab Vertrauen zu dir. Wolzow, ich und noch wer, wir haun ab... Bis zur Einberufung verschwinden wir. Aber du und ich, wir werden uns ab und zu treffen. Auch Gilbert darf es nicht wis­sen. Du sagst mir, was los ist in der Stadt und wie man über unser Verschwinden denkt.“

„Komm mit zu mir“, sagte Wiese später, mit einem Blick auf die Armbanduhr. Holt wunderte sich, daß Wiese bei die­ser Hitze einen schwarzen Anzug, Schlips und Kragen trug. Als er den Grund erfuhr, bei Wieses in der Diele, war es zu spät, sich zurückzuziehen. Wieses Schwester hatte Geburtstag. „Bleib!“ bat Peter. „Ich werde nachher vorspielen!“

Holt kam sich lächerlich vor, in kurzer Lederhose und bun­tem Sporthemd; sein Haar, noch immer feucht vom Baden, stand zu Berge. In dem großen Raum waren die Glastüren zum Wintergarten und zur Veranda geöffnet, man blickte in den Garten hinaus. Um den Teetisch saßen Gäste. Holt war sehr befangen und sah nur das Bunt der Kleider und dazwi­schen eine schwarze Panzeruniform. Duft von Parfüm drang auf ihn ein, der Geruch von Zigaretten und Blumen. Wieses Schwester Helga sah ihrem Bruder ähnlich; denn auch sie war klein und zierlich, und das dunkelblonde Haar fiel in ein kränkliches blasses Gesicht. Sie wurde neunzehn Jahre alt.

Wiese stellte Holt vor. Holt murmelte ein paar Gratula­tionsworte und stand trotzig auf dem bunten Teppich. Die Unsicherheit schärfte seine Sinne, nichts entging ihm: Frau Wiese, in ihrem Sessel, tauschte einen Blick mit dem blonden Mädchen, das neben dem Panzerleutnant saß, und der Mund des blonden Mädchens zuckte belustigt.

Namen wurden genannt. Uta Barnim, Leutnant Kiefer, ihr Verlobter, und so fort. Man bot Holt Platz an, links neben ihm saß Frau Wiese, der Teetisch trennte ihn von Uta Barnim. Helga Wiese schenkte Tee ein. Holt verlor alle Befangenheit. „Wenn ich geahnt hätte, daß hier Geburtstag ist“, sagte er, „ich hätte noch schnell ein paar Blumen geklaut... besorgt, mein ich.“ Das Lachen störte ihn nicht. Er sagte: „Blumen kaufen kann schließlich jeder! Geklaute sind viel wertvoller.“ Frau Wiese sagte: „Wir nehmen den guten Willen für die Tat.“

Mittelpunkt war Uta Barnim, die älteste Tochter des Ober­sten Barnim, an dessen Haus Holt allmorgendlich vorbeiging. Wie sie groß und aufrecht an der Verandatür saß, im Licht der Nachmittagssonne, so hatte er in seiner Phantasie Kriemhild gesehen, in Agnes Miegels „Nibelungen“, oder auch Hilde­gard, die Grafentochter, im „Nest der Zaunkönige“ ... Er blickte rasch auf den Panzerleutnant, der ihn sonst vielleicht vor allen anderen interessiert hätte. Die anderen Mädchen sah er nicht, neben ihr, neben Uta.

Peter Wiese saß am Flügel und blätterte in den Noten. Er spielte eine Haydn-Sonate und dann seine Lieblingsstücke, verträumte und schwermütige Kompositionen von Schumann. Immer wieder sah Holt verstohlen auf Uta. Der dritte Satz, Allegro moderato? Alle räusperten sich, wie komisch! Ob sie vielleicht an mich denkt, jetzt, wie ich an sie? Ob man es fühlt, wenn die Gedanken einander begegnen? Ob es bei ihr anders wäre als an jenem Vormittag in der Kabine?

Man applaudierte. Der Leutnant flüsterte Uta Barnim ein paar Worte zu. Fatzke! dachte Holt. „Ja, danke.“ Er nahm noch Tee. Eigentlich sollte ich gehn, dachte er, aber er blieb. Peter Wiese klappte den Flügel zu.

„Du hast dich in letzter Zeit vervollkommnet“, sagte Frau Wiese sanft. „Aber es wäre uns lieber, wenn du weniger üben und fleißiger trainieren würdest.“ Die Freude in Peter Wieses Gesicht erlosch. „Es ist uns sehr unangenehm, daß du auch dieses Jahr für den Ernteeinsatz untauglich bist“, fuhr Frau Wiese noch sanfter fort. „Herr Holt, vielleicht können Sie Peter ein bißchen mitreißen, Sie sind sehr sportlich, ich habe von Ihren Streichen gehört, aber Sie verbringen doch wenigstens Ihre Freizeit durchweg an der Luft.“ – „Na, wis­sen Sie, gnädige Frau“, sagte Holt, „das hat sich auf mein Zeugnis nicht günstig ausgewirkt.“ Man lächelte. „In den Zei­ten, in denen nicht der Geist, sondern die Faust entscheidet“, sagte Leutnant Kiefer mit heller Stimme und erhobenem Kinn, „da ist das Einpumpen sogenannter Weisheit völlig über­flüssig. Der Führer verlangt, den jungen Leib zu stählen und hart zu machen, auf daß ihn das Leben nicht zu weich finden möge.“ Uta, neben ihm, sah durch die offene Verandatür ins Freie, als höre sie nicht zu.

Frau Wiese ließ die „jungen Leute“ allein. Sie gab Holt die Hand. „Ein Junge wie Sie wäre ein Freund für Peter. Mein Mann wünscht, daß Peter unter allen Umständen wehrdienst­tauglich wird. Sie müssen ihn nur richtig im Wasser unter­tauchen und umherhetzen mit Ihren Freunden, das tut ihm gut!“ Sie verließ bald den Raum. „Man soll den Bock nicht zum Gärtner machen“, sagte Holt vergnügt. „Ich bin moralisch unreif, das hab ich schriftlich im Zeugnis.“ Uta, vielleicht zum erstenmal, sah ihn an.

Der Leutnant ging mit Wieses Schwester in den Garten hinaus, zwischen den Rosenstöcken entlang, und fragte über die Schulter nach dem Namen des Klassenlehrers. „Na ja, Maaß kennt man doch!“ Holt lief auf einmal allein an der Seite Utas. Sie war nur wenig kleiner als er. Sie fragte: „Wie kommen Sie zu einer so verheerenden Beurteilung?“ Die Frage war der blanke Spott. „Alles halb so wild“, antwortete Holt. Ihr Spott ärgerte ihn und machte ihn unsicher. „Die Lehrer wissen nichts von uns. Die wahren Gedanken errät ja keiner.“ – „Sind die wahren Gedanken so fürchterlich?“ fragte sie, noch deutlicher spottend. Er fühlte sich herausge­fordert. „Ach wo, gar nicht! Meistens sogar recht... harm­los. Bloß vorhin, als Peter spielte, da war ich froh, daß nier mand Gedanken lesen kann.“

Sie setzte die Worte blitzblank nebeneinander, wie gebastelt, und es war nun kein Spott mehr, sondern nur noch Belusti­gung. „Jetzt bin ich buchstäblich verpflichtet zu fragen: Woran dachten Sie?“

„An Sie“, sagte er heftig und schaute auf den kieselbestreu­ten Boden. Ihr Schweigen ermutigte ihn. „Sie sind das schönste Mädchen in der Stadt.“ Erst ein paar Schritte weiter antwor­tete sie: „Das Zeugnis, das Ihnen Ihr Lehrer ausstellte, ist lückenhaft. Sie können auch liebenswürdig sein.“

Die Gäste standen bei einem Aprikosenbaum. „Wer klet­tert hinauf und pflückt für die Damen Aprikosen?“ schnarrte der Leutnant und warf einen aufmunternden Blick auf Holt und Wiese. Holt trat auf den Rasen, packte den Stamm und rüttelte. Er hob die größten und schönsten Aprikosen auf und brachte sie Uta. Sie dankte mit keinem Wort, aber sie sah ihn eine Sekunde lang nachdenklich an. Sie brach eine der überreifen Früchte auf, warf den Kern zu Boden und reichte ihm eine der Hälften. Dann ließ sie ihn stehen, nahm den Leutnant am Arm und verschwand mit ihm im Haus.


Date: 2016-03-03; view: 1066


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